The Project Gutenberg EBook of Zuchthausgeschichten von einem ehemaligen
Züchtling, by Joseph M. Hägele

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Title: Zuchthausgeschichten von einem ehemaligen Züchtling
       Zweiter Theil

Author: Joseph M. Hägele

Commentator: Alban Stolz

Release Date: July 13, 2005 [EBook #16279]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

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Zuchthausgeschichten
von
einem ehemaligen Züchtling

von Joseph M. Hägele

 

Mit einem Vorwort
von
Dr. Alban Stolz
Professor an der Universität zu Freiburg.

 

Zweiter Theil

 

Inhalt:

I. Der Duckmäuser
   1. Der Duckmäuser als Schulbube
   2. Dorfgeschichten
   3. Duckmäusers Glücksstern erbleicht
   4. Junges Glück und alter Hochmuth
   5. Der Duckmäuser wird Soldat, sucht und findet in der Kaserne Vorbilder
   6. Die Kirchweihe
   7. Wie Einer fast ohne Schuld des Teufels werden kann
   8. Itania, das Kasernenhäschen, der Deserteur
   9. Der Duckmäuser läßt sich Etwas erzählen
   10. Bruchsal
II. Aus den Briefen des Spaniolen
   1. Vorbericht
   2. I.
   3. II.
   4. III.
   5. IV.
   6. V.

Münster, 1853.

[ ] Korrektur von Satzfehlern / correction of typos

Der Duckmäuser

Wir befinden uns im Krankensaale des Zuchthauses zu Freiburg. Es ist ein helles, freundliches, trauliches Gemach; die reinlichen Betten mit ihren Täfelchen oben an der Wand, die einfachen, doch stets blank gescheuerten Nachttische, der lange Tisch mitten in der Stube, dort an der Säule die Schwarzwälderuhr mit ihrem bunten Zifferblatte und schwerfälligem, regelmäßigen Picken, der große Kachelofen dort neben der Thüre, dessen gelb glasirte Kacheln mit dem mattgrünen Wandanstriche harmoniren, der Ordinationskasten mit seinen Flaschen, Gläsern, Schüsseln und Düten obendrauf, all dieses zusammen macht einen gemüthlichen, wohlthuenden Eindruck und das geschäftige Hin- und Hereilen des Krankenwärters, das freundlich stille Benehmen des Aufsehers, das menschenfreundliche des Arztes und der Beamten bei ihren Besuchen lassen Einen schier vergessen, daß man ein Zuchthäusler, ein Gefangener sei und dies um so mehr, weil die Tracht der Sträflinge durch die langen weißen Röcke der Genesenden in Vergessenheit gebracht und der Lärm der Arbeitssäle nur von weitem zu hören ist.

Dort an einem Fenster sitzt ein bleicher, hohläugiger Bursche, hüstelt zuweilen und schaut mit seinen großen Augen, aus welchen bereits der Lichtschimmer einer andern Welt leuchtet, schwermüthig und sehnsüchtig in die herrliche Landschaft hinaus. Das nahe Gebirge mit seinen bunten Wäldern, langen Kämmen und Felsenwänden, die Hügel mit ihren Kapellen, Schlössern, Höfen, Obstgärten, Weinbergen und wogenden Saatfeldern, das weite sonnige Rheinthal mit seinen blitzenden Quellen und Bächen, unübersehbaren Matten und Feldern, Alleen und kleinen Wäldchen, aus denen die Kirchthürme vieler Dörfer herüberwinken, im Hintergrunde eine lange im Duft verschwindende Waldlinie, weiter hinten eine Hügelkette voll Dörfern, gleichsam mitten in einem ungeheuern Garten stehend, vom dunkeln, den Gebirgszug abschließenden Walde umzäumt; zuletzt hinter diesem mächtigen Zaune das mächtige, wie eine dunkle Wolkenmasse in das gartenähnliche Rheinthal herüberstarrende Vogesen-Gebirge, auf welches sich das tiefe Blau des Himmelsdomes zu stützen scheint—all dieses gewährt einen Anblick, dessen entzückende Schönheit der roheste Sträfling tief empfindet, wenn er auch seine Empfindung niemals auszusprechen und noch weniger mit dem Messer des Verstandes anatomisch zu zergliedern versteht.

Und wenn erst die leuchtende Königin des Tages hinabtaucht in einem Gluthmeere voll unaussprechlicher Farbe, ihre halbe Scheibe hinter den dunkeln Vogesen vollends versinkt, ihre letzten Strahlen aus hundert Fenstern und Quellen blitzen und zucken, das weite Rheinthal, die Höhen des Schwarzwaldes mit einem rosigen Verklärungsschimmer übergießen, der mehr und mehr, die Ebene dem Sohne der Nacht, dem Schatten überlassend die Höhen emporfließt, von den höchsten Gipfeln noch einen Scheideblick in das dämmernde Thal hinabwirft und dann zum Himmel zurückkehrt—ach, man glaubt Gott über das Land schreiten zu sehen, in ein versinkendes Paradies hineinzuschauen! ...

Im kranken Gefangenen wird der Verbrecher vergessen, wenn er nicht selbst daran erinnert, das Damoklesschwert der Hausordnung hängt minder drohend über seinem Haupte, an die Stelle unerbittlicher Beamten tritt der heilende Arzt.

Der Gefangene nähert sich einigermaßen dem Zustande der Freiheit, die Krankenstube verbindet ihn durch die Aussicht in den Marktlärm des Stadtlebens mit der Gesellschaft, durch die Aussicht in die wunderliebliche Landschaft mit der Natur, durch beides mit Gott etwa? Selten! ...

Alle Vortheile, aber auch alle Nachtheile der Krankenstuben ordentlicher Spitäler finden sich in diesem Saale des Zuchthauses vereiniget.

Gegenwärtig liegen nur wenige Kranke in den Betten, mehrere sitzen auf dem Rande derselben oder auf einfachen Stühlen, andere am langen Tische, um Kaffeebohnen auszulesen oder Düten zu fabriziren.

Mild und freundlich schaut die Sonne herein, der ergraute Aufseher macht ein Schläfchen, wer wollte es ihm verübeln? Tausende von Nächten hat er in einer langen Reihe von Jahren treulich durchwacht, schon seit zwölf Uhr Nachts ist er wieder auf den alten Beinen, die Natur überwältiget ihn, er mag immerhin duseln und träumen von einer bessern Besoldung! ...

Mehrere Gestalten sind uns bekannt.

Auf jenem Bette liegt halbaufgerichtet der Mordbrenner aus der Baar, stützt das Bulldoggengesicht in die schwielenharte Faust und starrt finster und trotzig durch die hellen Scheiben in das freundliche Himmelsblau.

In jenem Winkel lehnt der Exfourier, blättert in einem alten, halbzerrissenen Gebetbuche und das höhnische Zucken der Mundwinkel zeigt schon, daß er nicht betet, sondern critisirt, wenn er auch nicht von Zeit zu Zeit über "den Thurm Davids, das elfenbeinerne Gefäß und goldene Haus" seine Kasernenwitze losließe.

Neben ihm liegt Martin der Wirthssohn, das Gespenst des früheren Schlosserlehrlings mit verzweiflungvoller Resignation lächelnd, wenn er zu fühlen vermeint, wie der Tod langsam zu seinem Herzen steige.

Das Murmelthier fehlt auch nicht, sondern schnarcht den Faden des Lebens weiter, während im weißen Nachtrocke und Pantoffeln leise eine Gestalt mit gebräunter, von tiefen Leidenschaften durchwühltem Gesichte auf und ab wandelt—der Spaniol, der vor kurzer Zeit mit dem betrogenen und als Räuber zum zweitenmal verurtheilten Zuckerhannes hier zusammentraf. Von Zeit zu Zeit steht der Spaniol düster sinnend an einem Fenster, welches in das Straßenleben der Stadt hinabsehen läßt und ein wilder Schmerz arbeitet in seinen Zügen. Draußen Revolution, der erste Kanonendonner der "großen Zukunft" und er—mit seinen himmelstürmenden Ansichten, seiner verzehrenden Thatkraft und seinem brennenden Ehrgeize ein Sträfling, ein ohnmächtiger Gefangener, ein gemeiner Verbrecher! ...

Kein Wunder, daß er heute nicht predigt; sein Stolz läßt ihm keine laute Klage zu, aber er herrscht auch hier und würde nicht nur der Liebling der meisten Beamten und Aufseher, sondern wohl auch der meisten Mitgefangenen sein, wenn nur der kropfige Zuckerhannes nicht da wäre und geplaudert hätte.

Doch diesen blutarmen Menschen um die sauerersparten Pfenninge betrügen, das ist eine That, welche auch im Zuchthause nicht immer Vergebung findet und weil der Betrogene den Spaniolen als Vater seines ganzen Unglücks betrachtet, nichts von der Rechtfertigung desselben hören mochte und bei der Mehrzahl der Sträflinge in der ersten Zeit vollen Glauben fand, deßhalb neigte sich der Spaniol bisher mehr den Hütern als den Gehüteten zu und soll neulich den ärgsten Aufseher im Eifer für die Hausordnung überboten haben.

Wenn er naht, verstummen die Meisten, aus ihren Blicken kann er Vieles lesen, heute mag er nicht predigen! ...

Der Zuckerhannes selbst liegt im Bette, athmet zuweilen schwer auf und hustet krampfhaft, horcht auf die Reden einer kleinen Gruppe seiner nähern Freunde, welche ganz in seiner Nähe sich niedergelassen hat.

Da finden wir den einst so fröhlichen und lebendigen, jetzt immer düstern und schwermüthigen Bläsi, aus der Pfalz, diesen unglücklichen Dragoner, den das Schicksal so hart vom Gaule geworfen.

Neben ihm sitzt der Patrik von Hotzenwald, dieser rohe, ungehobelte, doch gutmüthige und witzige Spitzbube, der immerhin noch mehr werth ist, denn sein Nachbar, der Donat, dessen Geschichte deutlich zeigt, was aus einem Menschen ohne Erziehung, Geld und Religion werden kann, wenn der Stachel der Genußsucht tief im Fleische mit seinen lüsternen Schwingungen steckt.

Diese Leute hören dem Duckmäuser zu, welcher keine Gelegenheit fand, dem Zuckerhannes Gutmachgeld zu senden und sich jetzt nach Bruchsal gemeldet hat, weil er voraussieht, sein einziger Freund werde nicht mehr mit dem Leben davonkommen. Den langwierigen Todeskampf des Unglücklichen darf und mag er nicht ansehen, mag nicht erleben, daß eines Tages ihm das Glöcklein verkündiget, der Hegäuer habe ausgelitten und die letzte Freude des lebenslänglich Verurteilten habe ein Ende. Lieber will er allein, ganz allein in einer Zelle leben, denn er hat zwar als Bube betrogen und gestohlen, bei den Soldaten böse Streiche gemacht und zuletzt seinen Vater ermordet, doch ein grundverdorbener Mensch ist er bei alledem nicht und wer seine tragische Geschichte kennt, wie der Zuckerhannes dieselbe aus seinem eigenen Munde hörte oder dazu noch schwarz auf weiß von seiner eigenen Hand besaß, der kann diesen Unglücklichen nicht mehr verachten, er muß ihn bemitleiden und begreift, daß ein solcher Mensch mitten unter Sträflingen jahrelang vereinsamt lebte und Sehnsucht nach der Zelle empfindet.

Was er jetzt dem verunglückten Dragoner, dem ungeschlachten Patrik und dem leichtsinnigen Donatle erzählt, sind nur Bruchstücke und der Zuckerhannes könnte Manches dagegen einwenden, weil er den am Hochmuth laborirenden Duckmäuser auswendig und inwendig sammt der ganzen Geschichte desselben zu kennen vermeint und findet, derselbe wasche sich viel weißer als er sei ... Man mag sagen, was man will, der Mensch ist ein geborner Aristokrat, denn Jeder will schöner, reicher, gescheider [gescheidter], vornehmer und besser sein, wie der Andere, jeder sucht bei Andern soviel als möglich zu gelten und vertuscht, heuchelt, lügt, mag er Bettler oder Graf oder noch mehr sein; die Sträflinge bleiben auch hierin Menschen und die Wenigen, die es dahin gebracht haben, mit Sünden, Lastern und Verbrechen groß zu thun, sind eigentlich verkehrte Menschen, Unmenschen! ... Der Vatermörder ist kein Unmensch; schon die Erzählung, welche er seinen Kameraden zum Besten gibt, verräth dem Eingeweihten die Sucht, nicht schlecht sondern so gut als möglich zu erscheinen, und wir glauben, die wahre Geschichte desselben beweise, der arme Tropf sei wirklich unserer Achtung und noch mehr unserer Theilnahme würdig, seine Geschichte eine sehr lehrreiche Alltagsgeschichte aus den niederen Volksklassen.

Der Duckmäuser als Schulbube.

Wer sich einen Bauersmann vorstellt, der unter seinem Nebelspalter etwas finster hervorschaut und dessen eckiges Gesicht die Sorgen des Lebens tüchtig durchfurcht haben, obwohl sie nicht im Stande waren, einen Zug ernsten Trotzes in unterthänigst kriechende Demuth vor jedem bessern Rocke zu verwandeln, der hat das Gesicht des Vaters unseres Helden gesehen und wird den abgetragenen Kittel, die Lederhosen, deren ursprünglich gelbe, die Weste, deren ehemals rothe in eine von den Malern bisher unentdeckte Farbe übergegangen ist, nicht vergessen und noch weniger die knorrigen Eichenfäuste und die breitgetretenen Füße des Mannes. Wer sich näher nach ihm erkundigte, würde überall erfahren haben, der Jakob sei ein nicht ganz armer Mann mit sechs lebendigen Kindern, habe niemals recht lesen lernen, folglich auch den "höflichen Schüler" niemals studirt und sei eine grundehrliche Haut, welche Gott und den Amtmann fürchte, mit seinem Weibe glücklich lebe und von jedem Nachbarn geliebt werde, obwohl er ein bischen hart, unbeugsam und auffahrend dazu sein könne.

Sein Weib, die Theres, mag in ihrer Jugend nicht häßlich gewesen sein, aber auf dem Lande wird die Schönheit gar rasch verschwitzt und wenn eine Frau ihre zwölf Kindbetten durchgemacht hat, wirds schlimm aussehen, wenn hinter der Leibesruine nicht ein treues, frommes Herz schlägt. Doch unter dem Mieder der Theres sah es gut aus und deßhalb lebte sie auch mit ihrem Alten recht glücklich, insofern festes Vertrauen auf Gott alle Sorgen und Drangsale des Tages ohne viel nutzloses Klagen und Weinen überstehen läßt.

Jakob hatte auf dem Felde, in Wald, Stall und Scheune, die Theres an all diesen Orten, in der Küche, am Waschzuber, in allen Winkeln des Hauses und im Garten dazu vom Anbruch des Tages bis zur sinkenden Nacht alle Hände voll zu thun, so daß die Beiden außer an Sonn- und Feiertagen wenig mit einander plaudern, geschweige zanken konnten. Wenn es so kalt wurde, daß der Jakob seine 5- bis 8pfündigen Schuhe anziehen mußte, dann wurde er etwas brummig, denn das war Zeitverlust und wenn der Mond schien, war er im Stande, noch in der Sommer-Nacht zartes Laub und dergleichen für seine Kühe, Geisen und Schweine zu holen und es war gut, daß seine Hände nichts davon wußten, die Brombeeren und Schlehen hätten auch Dornen, und daß er mit bloßen Füßen im Verhau herumstolperte, ohne von spitzen Dornen, Steinen und dergleichen mehr als eine Ahnung zu besitzen. In der Nacht bekam er seine Ruhe, wenn nicht gerade eine Kuh kalbern wollte, das Geschrei der Kinder beirrte ihn wenig; wenn er die ganze Woche tüchtig gearbeitet hatte und am Sonntagmorgen vor der Kirche so glatt und freundlich wie ein Schuljunge hinter dem Ofen hervortrat, wo er sich ohne Spiegel und Seife musterhaft rasirte, dann pflegte er zu sagen: "Theres, die Arbeit ist gethan, heute wird zum Herrgott gebetet und Mittags im Hirzen drüben ein Hälbsle getrunken, wenn auch der Bettelvogt noch zehnmal schellt von wegen der Herrensteuer!" ...

Die Theres freute sich auch auf den Sonntag, denn wenn es für sie auch keinen Hirzen gab, so gab es doch eine Kirche und eine rechte Predigt und ordentlicher Gottesdienst erquickt ein frommes Weibergemüth mehr, denn ein Fäßlein Burgunder oder gar Capwein. Die Woche über kam die Theres kaum zum Athemholen und in der Nacht, wenn der Jakob schnarchte trotz der größten Baßgeige, fing die Plage erst recht an, denn die eisgraue Großmutter konnte die Kinder in der Nacht nicht alle pflegen und schweigen und trocken legen, und wenn eines zahnte oder sonst krankte, schlossen die beiden armen Weiber oft kein Auge.

Am Sonntag aber wars so traulich in dem aufgeputzten Häuslein, als ob die Leute die Kirche aus dem Gottesdienste mit sich genommen hätten und Mittags stand auch Fleisch auf dem Tische, an hohen Festtagen Wein aus dem hintern Fäßlein, wo der Alte und Gute älter und besser wurde, während der Gewöhnliche vom Essig wenig sich unterschied.

Nachmittags nach der Vesper zog dann Jakob seinen blauen Rock ohne Kragen mit tellergroßen Metallknöpfen an, stopfte sein Pfeiflein, drückte den Nebelspalter ein bischen aufs linke Ohr und machte mit dem Liebhardt, Fidele, Michel oder Bassi einen Gang durch die Fluren und dann in den Hirzen, um bis zum Abend an seinem Hälbsle zu trinken, während das junge Volk kegelte, auf der Straße spielte, in Rädlein beisammen stand oder Arm in Arm kettenweise singend durch das Dörflein auf und ab zog. Es mochte zweifelhaft sein, ob der Jakob an seinen Aeckern und Kühen größere Freude hatte, denn an seinen Kindern, mindestens pflegte er jene zärtlich, während er diese nach Herzenslust herumkrabbeln, fallen und heulen ließ, ohne sich groß umzusehen, dagegen bleibt es sicher, daß die alte Hanne ganz vernarrt in ihre Enkel und die Theres in den Benedikt am vernarrtesten war.

Der Benedikt, ihr erstes Kind hieß ihr "Augäpfelchen" und man darf ihr solche Vorliebe verzeihen, obwohl sich dieselbe nicht nur in Blicken und Reden kund gab. Der Benedikt mit seinen schwarzen Haaren, den runden Apfelbäcklein, kohlschwarzen Augen und dem freundlichen Munde war wirklich ein herzallerliebstes Büblein und dabei so munter und gescheid, wie keins im Dorfe gefunden wurde.

Die Leute hatten keine eigene Kirche, nicht einmal eine Kapelle, mußten im Leben und Tod ihrem Herrgott die Besuche im nächsten Orte abstatten und als der Benedikt die ersten Höslein an hatte und vom Vater am rechten von der Mutter am linken Händlein zum ersten Mal in die Kirche geführt wurde, blieben alle Leute stehen und gab es eine ganze Prozession von schweigenden und redenden Bewunderern, das Herz der Eltern bebte vor Freude und daheim konnte Theres der alten Hanne nicht genug erzählen, welche Ehre sie mit dem "Augäpfelchen" eingeerndtet, wie brav er in der Kirche gewesen, die Händlein gefaltet und bei der Wandlung mit Kreuzmachen und Brustklopfen gar nicht mehr aufgehört habe. Das Büblein holte bereits Alles beim Krämer, besorgte alle Aufträge pünktlich, griff alles geschickt an, es mochte sein, was es wollte und lachte vor Vergnügen laut auf, wenn man es nur lobte. Mit Lob ließ sich der Benedikt durchs Feuer treiben.

Besaß das Dörflein keine eigene Kirche und keinen Pfarrer, so besaß es doch eine eigene Schule und einen Schulmeister. Zwar hatte dieser nirgends besonders studirt, war eine gefallene Größe, nämlich ein großer Maurer, der von einem Dachsparren herabgefallen und ein Bein gebrochen hatte, dabei ein guter, braver Mann und wußte Alles den Kindern beizubringen, was diese in der Welt brauchen, vor allem den Katechismus.

Der Benedikt saß keine sechs Wochen in der Schulstube, so wurde auch der alte Lehrer gänzlich in ihn vernarrt und es dauerte keine zwei Jahre, so kannten die Kinder Einen Ihresgleichen als Unterlehrer, nämlich des Jakoben Benedikt.

Was Andere in einem Jahre lernen, lernte unser Held ohne große Mühe in vier Wochen und was der Mathes, der acht volle Jahre stets im Eselsbänklein saß und später dennoch ein tüchtiger Bauer und braver Mann geworden ist, in seinem Leben niemals begreifen wird, begriff der Benedikt rascher und leichter als die gescheideste [gescheidteste] Schulkamerädin, nämlich die Susanna.

Eine andere Uhr denn eine Sonnenuhr besaß weder die Schule noch der Schulmeister und vom achten Jahre an war der kleine Schulmeister auch "Zeitverwalter" mit einer kleinen Unterbrechung gegen das Ende der Schuljahre, wo der Muthwille, der in ihm steckte, den alten Lehrer einige Wochen in Verzweiflung setzte.

Das Augäpfelchen der Theres wurde das Augäpfelchen des Lehrers, aller Buben und Mägdlein und vieler Erwachsenen und vielleicht haben die Weihrauchwolken dazu beigetragen, auch seine Gestalt in die Länge und Breite zu treiben.

Mit den Buben stand er gut, weil er der Stärkste, bei allen Spielen und lustigen Streichen, die sich mit seiner Unterlehrersehre vertrugen, voran, dabei unpartheisch und freundlich gegen alle war und bei den Mädlen stand er besser als jeder Andere angeschrieben, weil er eine merkwürdige Vorliebe für sie hegte, sie zart und schonend behandelte, gegen Schimpf und Schläge schützte, ihnen in der Schule einsagte, beim Singen eines Liedes den rechten Ton anstimmte und die leidigen Schulaufgaben gegen ein bischen Lob oder auch gegen ein Schmätzlein machen half.

Um nicht weitläufig zu werden und dennoch einen rechten Begriff von dem kleinen Benedikt zu bekommen, der ein ganz anderer Kerl war, denn der verachtete, blutarme und arg vernachläßigte Zuckerhannes, wollen wir nur drei Thatsachen aufmerken.

An einem Frühlingstage wird in der Schule biblische Geschichte gelesen und die Kinder schauen sehnsüchtig durch die Scheiben in die grünende und blühende Welt und rücken unruhig hin und her, denn das stundenlange Sitzen und Schwitzen ohne Unterbrechung ist die Folter der Kinderjahre. Auf einmal zupft ein Mädle das Andere und ein Bube den Andern und wer den Grund entdeckt, hält die Hand vor den Mund oder kichert laut. Weßhalb? Der "Unterlehrer" hat aus einem Stücklein Holz und vier beinernen Knöpfen ein Wägelein gezimmert, einen kleinen Kiesel als Fracht darauf gelegt und vier stattliche Maienkäfer, an eine Deichsel gebunden, ziehen das Ganze über die Sitzbänke. Der Lehrer merkt's, zieht die Stirne kraus und ruft den Benedikt auf, im Lesen fortzufahren. Wer beim letzten Wort weiter fährt, ohne eine Miene zu verziehen, ist der Benedict. Der Lehrer weiß, welchen Kopf und welche Kenntnisse der muthwillige Unterlehrer besitze, meint, derselbe sage einige Satze auswendig her und werde bald stecken bleiben, doch der Benedict liest und liest, ohne nur einmal zu stottern, ohne eine Silbe zu verfehlen.

Dessen verwundert sich der Lehrer, steht auf, greift nach Benedicts Buch und siehe—dieser hat Alles auswendig hergesagt, denn lesen konnte er schon deßhalb nichts, weil er das Buch, wie der Lehrer auch seither geglaubt, verkehrt in der Hand hielt.

Dieser Streich und hundert ähnliche dazu verschafften dem Benedict den Beinamen "Leichtsinn" und mit den Jahren wuchs sein Leichtsinn wirklich, wie er denn einmal, als ein Schuldschein geschrieben werden sollte, dem Lehrer keinen andern machte als folgenden:

"Ich heiße Leichtsinn, bin der Leichtsinnigste und habe in diesem Zustande geschrieben!"

Wenn er wollte, brachte er stets die besten Aufsätze, doch schien er immer weniger zu wollen, der Lehrer sagte wenig dazu, verschonte ihn fernerhin auch mit Schlägen und wußte warum.

War eine Schulaufgabe zu machen oder gar die Sonntagspredigt nachzuschreiben, so gings wie eine Prozession zu Jacobens Haus, denn hier saß der Benedict, trug die Predigt Wort für Wort im Kopfe und dictirte Jedem der zu ihm kam und Jedem verschieden, je nachdem er den Hansjörg mit seinem harten Hirnkasten, den Mathes, diesen privilegirten und getreuen Eselsbankdrücker oder einen Gescheidtern vor sich bekam. Die besten Aufsätze jedoch dictirte er den Mädlen, lief stundenlang von Haus zu Haus und bevor die Sabin insbesondere das Fließblatt ins Heft gelegt hatte, dachte er nicht ans Ballspielen oder an etwas Anderes.

An einem Winterabend zogen alle Buben ihre Schlitten lange vor der Betzeit heim und mit vielen Erwachsenen dem Rindhofe zu und Niemand fragte, was es gebe, weil Jeder wußte, es werde alldort Comödie gespielt. Die Mädchen saßen schon in der Scheune, Sabinens Gesicht glänzte vor Freude; sie saß mit der Mutter Theres und Hanne auf der vordersten Bank, der Jacob fehlte auch nicht und sah heute nicht sorgenschwer und finster drein, sondern koste mit zweien seiner jüngern Kinder; die Bänke füllten sich rasch und Alles schaute gespannt und ungeduldig nach einem Vorhange, der aus vier zusammengenähten Leintüchern gebildet war. Endlich kommt auch der alte Lehrer, eine Schelle lärmt, der Vorhang geht auf und mit einem Ah! der Bewunderung betrachten Alle—das Marionettentheater und wissen, daß heute der Benedict den "verlornen Sohn" spielen wird.

Hat der Benedict dem Landstreicher Kranich nicht längst alle Possen abgespickt? Macht er ihm nicht alle Zauberstücke nach und hat er nicht die Herzen der Dorfbewohner schon durch den "Todessprung des Ritters, den Doktor Faust, die Genofeva von Brabant, die drei Müllerstöchter, die Hirlanda, schöne Magelona" und Anderes erfreut? Sind nicht Einzelne aus den nahen Dörfern und einmal sogar der Herr Pfarrer gekommen? Hat der Benedict nicht seine Herzkäfer, die Sabin, Euphrosin, Susann, Margreth, Thekla, Line, Affer, Lisbeth und Andere geplagt, bis alle Puppen da waren? Hat er nicht den Hanswurst selbst gemacht und dazu ein Stück Hosenleder verschnitten, welches dem Mütterchen auf Ostern Schuhe hätte geben sollen?

Heute bat er sichs sauer werden lassen, um den "verlornen Sohn" prächtig auszustatten. Jetzt sieht man den Alten in seinem Ruhesessel, der älteste Sohn steht trotzig vor ihm und fordert sein Erbtheil. Dann geht er fort ins fremde Land, ein Reisender kommt zu der Mutter und sagt derselben, aus ihrem Sohne sei etwas Großes geworden, er kommandire eine ganze Armee. Richtig kommt der Sohn mit seiner großen Armee, diese jauchzt, johlt und jodelt wie nach dem größten Siege selten eine und so geht das Ding fort bis ans Ende, wo der Benedict ein bischen heiser wird.

Wer aber beschreibt das Entzücken des Publikums? Wann hat der vielgeübte Kranich jemals den weichherzigsten Mädlen Thränen entlockt? Der Benedict tritt hervor, ist umringt von nassen Augen, der Lehrer wird zum Wortführer des Lobes der Zuschauer, der Benedict verlebt eine der seligsten Stunden seines Daseins, die Mutter desselben schwimmt mit der Sabin' und andern Mädchen in Freudenthränen, von ihrem Augapfel, ihrem Liebling entlockt.

Jetzt drängt sich das mehr als 80jährige Bäbele mit seinen schneeweißen Haaren aus dem Hintergrunde hervor; war doch der Benedict auch ihr Liebling und sie muß ihm auch ihre Huldigung darbringen. Sie thut es, doch thut sie noch mehr, denn das Morgenroth einer höhern Welt leuchtet durch ihre Wangen, die Augen schauen prophetisch in die Zukunft und zu dem Volke sich wendend, spricht sie das inhaltsschwere Wort. "Glaubt nur, ihr Leut', aus dem Benedict wird entweder ein großer Herr oder ein großer Spitzbube, in unserm Geleise bleibt er nicht!" Wie oft hat der "Duckmäuser" in bangen Kerkernächten, in der erschütternden Einsamkeit der Zelle an diese Worte gedacht! Bäbeles Gebeine sind längst vermodert, ihr Name ist verschollen, doch ihr prophetisches Wort hat sich erfüllt und zittert durch das Herz eines Lebendigbegrabenen!

Längst haben sich die einzelnen Kameradschaften der Buben und Mädchen alle bemüht, den Benedict an sich zu fesseln, längst war er der Mittelpunkt, um den sich die Dorfjugend sammelte; in die "Kunkelstube", wo er gerade zu finden war, dahin kamen auch Männer und Frauen, denn er erzählte Legenden der Heiligen, Rittergeschichten und Anderes so schön und lebendig, daß man Alles zu sehen und zu hören glaubte und in seinem Dörflein war noch alte Sitte und Zucht vorherrschend und man hätte einen Menschen, der über die Heiligen spottete oder die Unschuld erröthen machte, aus den meisten Kunkelstuben einfach hinausgeworfen.

Seit dem Abend, an welchem der verlorne Sohn gespielt worden, schaute der Jacob seinen Benedict respectvoller an, derselbe war ihm und Andern längst über den Kopf hinausgewachsen, der Held der Dorfjugend und sein Name in allen umliegenden Dörfern mit Ehren genannt.

Wurde ihm noch nicht die Welt zu enge, so war dies allmählig doch mit der Schulstube der Fall. Lernen konnte er hier nichts mehr und wußte er sich die Langeweile auch zu vertreiben, so wünschte er doch sehnlichst, Mutter Theres möchte die Zügel ein bischen länger machen und dies war nicht der Fall, so lange der Benedict zur Schule ging.

Die ganze Weisheit des Vaters bestand in dem Sätzlein: Bete und arbeite! Er ging mit Beispiel voran, hielt mit eiserner Strenge darauf, daß die Seinigen es auch thaten und wenn die Mutter nicht Alles über ihn vermocht', wie der Benedict Alles über die Mutter, so würde es wohl mit dem Heldenthum kläglich ausgesehen haben! ... Auf dem Lande ist das Geld von je als die theuerste Sache betrachtet worden, wo wenig Geld und 6 unerzogene Kinder zu finden sind, gibts zu arbeiten; gar oft mußte der gute Benedict die Kunkelstube meiden und bis um Mitternacht selbst spinnen; freilich spann das Mütterchen auch mit, denn der Winter vergeht rasch und die Leinwand muß zeitig auf die Bleiche, doch Mütterchen fing an, dem geistvollen und gelehrten Benedict mit ihren endlosen Rosenkränzen allgemach langweilig zu werden. Er wünschte oft, die Großmutter möge vom Kirchhofe kommen und sich wieder statt seiner mindestens an die Kunkel setzen; die Hanne kam jedoch nie wieder, sie hatte auf Erden genug gesponnen und der Faden ihrer Pilgerfahrt war im letzten Spätjahr leise und sanft abgerissen worden.

Der Communionunterricht beginnt, Benedict faßt freudige Hoffnungen, wiewohl er erst im Sommer 14 Jahre alt wird, der Mittwoch vor dem Palmensonntag macht dieselben zu Schanden, denn an diesem Tage werden die Namen derer verlesen, welche zum erstenmale zum Tische des Herrn gehen und aus der Schule entlassen werden. Zitternd vor Erwartung sitzt er da, jeder Name zuckt wie ein Schwert durch seine Seele, zuletzt wird noch dem Mathes die Erlösung vom Eselsbänklein angekündiget, dann kommen die Namen der Mädchen, er kanns kaum glauben, dennoch ist's richtig—sein eigener Name fehlt, der Lehrer mag den Unterlehrer nicht vor der Zeit verlieren. Noch mehr, die Seraphin, einer seiner Herzkäfer, der auch erst im Heumonat 14 Jahre alt wird, darf als "die feinste, fleißigste und sittsamste" communiciren und die ganze Schule hört an, wie der Lehrer erklärt, der Benedict müsse als der "Leichtsinnigste von Allen" noch ein Jahr da bleiben.

Jetzt war Feuer unter dem Dache und brannte ein volles Jahr! ... Besaß die Seraphin das gehörige Alter? Nein; wem hatte sie ihren Ehrenplatz zu verdanken? Zum guten Theil dem Benedict, der ihr einsagte und alle Schulaufgaben machte. Saß derselbe nicht an einem verdienten Ehrenplatz? Und jetzt sollte jene "die Feinste, Fleißigste und Sittsamste" und er dagegen "der Leichtsinnigste von Allen" sein?

Zunächst ward der Seraphin der Krieg erklärt und bald hieß das arme Mädchen allenthalben nur "die Feinste, Fleißigste und Sittsamste" und getraute sich nicht mehr, irgendwo hinzugehen aus Furcht vor Spott und Hohn. Hat das Mädchen dem Lehrer nur Milch und nichts Anderes schmeichelnd ins Haus getragen? Waren die Susanna und Margreth nicht zweimal in der Nähe, als Seraphins Mutter den weißen Korb mit einem noch weißern Tüchlein deckte und der Tochter empfahl, den Herrn Pfarrer drüben doch recht inständig zu bitten, daß sie aus der Schule komme und vorzustellen, was die alternde Mutter alles zu thun habe? Würde der Benedict, wenn er Solches vorher gewußt hätte, nicht dem Vater eine Kuh aus dem Stalle gezogen und dem Schulmeister gebracht haben statt vergänglicher Milch und dies nur, um aus der Schule zu kommen? ... Dem Pfarrer legte Benedict nichts in den Weg, er besaß den Muth nicht dazu; desto schlimmer kochte er es dem Schulmeister;— statt des gehofften Unterlehrers besaß dieser jetzt einen unbeugsam trotzigen, saumseligen und muthwilligen Schüler mehr, bei welchem Milde und Güte, Bitten und Betteln so wenig fruchtete als Drohungen und Schläge.

Schulaufgaben machte er für seine Herzkäfer, für sich selbst niemals oder in der Art, wie jenen früher erwähnten Schuldschein. Fragte ihn der Lehrer Etwas, so antwortete er trocken, er wisse es nicht oder machte die Mitschüler zu lachen, bat ihn der Lehrer, ihn ein bischen abzulösen, so ermahnte er denselben, sich an die "Feinste, Fleißigste und Sittsamste" und nicht an den "Leichtsinnigsten von Allen" zu wenden. Einmal mußte er hinaus, um die Sonnenuhr zu richten, was Keiner besser verstand; er that's, verschwieg jedoch eine ganze Stunde und der Lehrer machte fort, bis Weiber und Bursche kamen, um die Kinder zum Mittagsessen aus der Schule fortzuholen; ein andermal richtete er die Sonnenuhr so, daß der Lehrer die Schule fast um eine Stunde zu früh schloß. Von jetzt ab mußte jedoch der Max aus dem Rindhof die Sonnenuhr richten lernen, und weil der Lehrer sah, Hopfen und Malz seien am Benedict verloren, kümmerte er sich auch allmälig wenig darum, ob derselbe schwänze oder nicht und wenn er erschien, mußte er neben Mathesens Ersatzmann, dem dummen Hansjörg sitzen, der genug schmunzelte, auf seinem Katzenbänklein einen so trefflichen Einbläser neben sich zu haben! ... Endlich naht die letzte Schulprüfung, diesmal wird der Benedict kein Lob und keinen Preis davontragen!

Einige Buben müssen die "verhexte Kuh und rothe Milch", einige Mädchen den "feurigen Drachen" zusammen declamiren lernen und wenn der Philipp, der jetzt neben dem Rindhofmax auf dem Ehrenplatze sitzt, Einen hätte, der die Rolle des belehrenden Herrn Pfarrers in den "Feuermännern" ausfüllte, würde der Lehrer hoffen, auch dieses Jahr beim Dekan Ehre zu erndten. Demüthig bittet der arme Mann den Benedict, ihm den einzigen und letzten Gefallen zu erweisen und bei der Prüfung die Rolle des Belehrers in den "Feuermännern" zu übernehmen, doch der Benedict lacht ihm schadenfroh ins Gesicht und meint: "Ich und der Hansjörg führen auf dem Katzenbänklein die Declamation der Stummen mit einander auf, gelt Hansjörg?"—Der Hansjörg grinzt und nickt bejahend, die Schüler lachen, der tief gekränkte Lehrer sagt dem Benedict, er möge ganz von der Prüfung wegbleiben und schließt die Schule sogleich vor Wehmuth.

Am vorletzten Tag vor der Prüfung geht der Lehrer in die Schulstube und wer exerzirt die Prüfungshelden nach Mienen, Stellungen und Reden in die "verhexte Kuh und rothe Milch" ein? Wer denn anders als der Benedict!

Der Erstaunte bleibt an der Thüre stehen, bis das Ding fertig ist, dann eilt der arme Mann, der statt Geister stets vor der Prüfung lauter Schwarzröcke sieht, begeistert auf den Benedict zu, drückt krampfhaft dessen Hand vor lauter Freude und bittet denselben öffentlich vor allen Schülern um Verzeihung ob der bisherigen Zurücksetzung. Unser Held weint auch beinahe vor Freude über solche Befriedigung des Ehrgeizes, doch trotz den Ermahnungen des Lehrers und der Schüler setzt er sich keineswegs auf den Ehrenplatz, sondern auf das Eselsbänklein neben dem einfältigen Hansjörg.

Die Prüfung naht, kommt, ist bei den kleinen Schülern vorüber, sie drängen hinaus, die andern hinein, doch—der Benedict fehlt, mit Todesangst schielt der arme Lehrer nach der Thüre und sucht ein Taschentuch, um einige aufsteigende Angsttropfen abzuwischen.

Endlich geht die Thüre auf, der Ersehnte tritt herein, schreitet stolz am Eselsbänklein vorüber und setzt sich auf den Ehrenplatz; der verlassene Hansjörg hat ein gar wehmüthiges Gesicht dazu gemacht! Noch niemals zeichnete sich der Benedict bei einer Prüfung so aus, wie diesmal; auch die Rolle des belehrenden Pfarrers in den "Feuermännern" spielt er meisterhaft und wie Alles vorüber ist, tritt er vor die 15 oder 18 gegenwärtigen Herren, verbeugt sich ehrerbietigst und beginnt das schöne, lehrreiche Gedicht: "Der Holzhacker"—auf eigene Faust zu declamiren und biß bei den Worten:

   "Und biß, o Graus, am goldnen Bröcklein die Zähne sich aus!"

so ernsthaft und natürlich zu, daß sämmtliche Herren nachbeißen zu wollen schienen.

Der Declamation folgte ein langes Beifallsgeklatsche und öffentliche Belobung des über den Benedict ganz entzückten Dekans als Abschied aus den Kinderjahren.

Ob unser Held den Leib Jesu Christi beim erstenmal auch würdig empfangen und gewußt habe, was er eigentlich thue, ist ihm heute zweifelhaft, doch meint er, der Unterricht sei ein bischen arg mangelhaft und schlecht gewesen und ein Bube könne nicht Alles aus dem kleinen Finger saugen, wenn er auch ein Benedict sei.

Dorfgeschichten.

Wenn mans genau und eine Landkarte dazu in die Hand nimmt, lassen sich die Einwohner des Badnerlandes in lauter Schwarzwälder und Odenwälder eintheilen. Die schwäbische Hochebene und rauhe Alp sind wohl geognostische Kinder des Schwarzwaldes und das Rheinthal von Basel bis Mannheim eigentlich nur ein Bergkessel zwischen dem Schwarzwalde und den Vogesen.

Freilich gedeihen auf den Höhen des Schwarzwaldes nur Nadelhölzer; selbst diese verkrüppeln und verschwinden am Feldberge und wenn auf den Vorhügeln des Rheinthales drunten Mandeln verblüht sind, Kastanien blühen und die Rebe ihre Schößlinge treibt, sind die rechten Schwarzwälder froh, wenn ihr Hafer angesäet und ihre Kartoffeln gestupft werden können und thun, als ob sie heuer gerathen wollten. Doch die rechten Schwarzwälder bewohnen nur ein kleines Gebiet; jedes Thal hat wieder sein Besonderes in Sprache, Tracht und Sitte und wer das Murgthal bis Freudenstadt und Rothweil, das Kinzigthal von Offenburg bis Schenkenzell und Alpirsbach, das Simonswälderthal, Höllenthal und viele andere Thäler von der würtembergischen Grenze bis zum Rheine besucht hat, weiß am Ende nicht mehr recht, wo er den Schwarzwald eigentlich suchen soll, nicht weil Land und Leute einen cosmopolitischen Brei bilden, sondern weil man kaum recht Athem holen kann, um Verschiedenheiten in der Natur und unter den Menschen zu finden.

Steigt er vom Schluchsen [Schluchsee] oder Titisen [Titisee], wo Schlehen, Preiselbeeren und andere Kinder des Nordens allein noch zu finden sind, in die Seitenthäler herab, wo Obstbäume die Strohhütten beschatten und wogende Saatfelder die saftiggrünen Wiesen mit ihren sprudelnden Quellen allgemach ersetzen, die gelben Strohhüte und kurzen, faltenreichen Röcke allmälig verschwinden und tritt er aus den Vorhügeln mit ihren Weinbergen in das Rheinthal hinaus und wandert vom Wiesenthale abwärts bis zur Murg und zum Neckar, so befindet er sich allerdings nicht mehr in der Gebirgswelt, sondern in einer gartenähnlichen Ebene, doch das Gebirge kommt ihm weder aus den Augen noch aus dem Sinn, die Ebene liefert ihm auch alle Augenblicke etwas Anderes und wenn er aus den zahllosen Mannigfaltigkeiten die Einheiten heraussucht, theilt er die Menschen am Ende in zwei große Partheien, nämlich in Dorfmenschen und Stadtmenschen; im Gebirge herrschen die Dorfmenschen, in der Ebene die Stadtmenschen vor und der Unterschied der Dorfmenschen unter sich ist bei weitem nicht so groß, wie ihr Unterschied von den Stadtmenschen.

Wer das Leben und Treiben der Schwarzwälder im engern Sinne genau kennen lernen will, muß den "Kalender für Zeit und Ewigkeit" oder "Spindlers herzige Erzählungen aus neuerer Zeit" zur Hand nehmen, denn Berthold Auerbachs Dorfgeschichten, so anmuthig, hinreißend und herrlich sie auch uns und vielen tausend Andern vorkommen, sind eben doch keine eigentlichen "Schwarzwälder" Dorfgeschichten, sondern laufen fast ohne Schwarzwälder Lokalfarben auf die Gegensätze zwischen Stadt und Land hinaus.

Im Gebirge verschlingt das Dorfleben das Stadtleben, in der Ebene geht´s umgekehrt zu und wie das Stadtleben allmälig auch in den Seitenthälern und auf den Höhen des Gebirgs zur Herrschaft kommen will, zeigt unter Andern die Geschichte des Duckmäusers.

Das Heimathdörflein desselben liegt an der Mündung eines Thales, das einen allmäligen Uebergang vom Schwarzwalde zur Rheinebene bildet und zwar nicht blos der Natur, sondern auch des Charakters der Bewohner. Land und Leute wachsen immer und überall wundersam zusammen und für ein geübtes Auge ist jede Gegend ein Buch, aus dem es die Geschichte, das Leben und Treiben ihrer Bewohner so im Allgemeinen herausliest!

Kehren wir nach diesem kurzen Ausfluge zu unserm Benedict zurück, der aus der Schule entlassen, bereis ein bischen größer und vom Mütterlein ein bischen weniger gezügelt wurde.

Sein Vater, der finstere, doch grundehrliche Jacob arbeitet noch immer den ganzen Tag, rasirt sich am Sonntag hinter dem Ofen und trägt Nachmittags nach der Vesper seinen Nebelspalter in den Hirzen. So lange der Benedict in der Schule war, durfte er nicht ins Wirthshaus und nicht einmal den größern Burschen den Kegelbuben machen, doch jetzt hilft er dem Vater tüchtig arbeiten, stolzirt am Sonntage mit Etwas herum, was bei uns fast so viel bedeutet, als die toga virilis bei den alten Römern, nämlich mit einer Tabakspfeife und wenn es ihm beifällt, auch ein Schöpplein im Hirzen zu trinken, so sieht's der Jacob nicht gerne, doch der Sohn will thun wie andere auch und noch mehr, weil er der Held in 5 Dörfern ist. Der Vater hört denselben doch lieber herausstreichen als schimpfen und muß eben nachgeben, wie andere redliche Väter auch nachgeben.

Abends mag der Benedict nicht mehr beim Mütterlein spinnen, die kleine Hanne kanns thun, wird dieselbe doch mit jedem Tage größer und der Bruder geht in die Kunkelstube, um seinen Erzählerruhm aufrecht zu erhalten. Alle einzelnen Kameradschaften der Bursche und Mägdlein buhlen um seine Gunst, wo die Margareth ist, welche er am liebsten zu haben scheint, sitzt die Ofenbank voll und wenn er kommt, kommt Freude und Leben und jedem der Feierabend zu frühe.

Alle Häuser besucht er, jeden Abend ein anderes, in jedem ist er beliebt und bekannt und Niemand weiß, welchem er den Vorrang gebe! Uebrigens darf man nicht glauben, daß die Buben und Mägdlein unziemliche Kurzweil trieben an den langen Abenden, mindestens geschah dies nirgends, wo der Benedict hinkam und dieser wußte einen wüsten Gast derb abzutrumpfen und heimzuschicken.

Der Liebling der Jungen wollte auch der Liebling der Alten sein, zudem dem Mütterchen eher Ehre denn Schande machen und so wurde in den Kunkelstuben nur Ehrbares und oft Heiliges erzählt und nichts Unziemliches geschwatzt oder gar getrieben. Der Benedict hielt viel auf Ehre und hätte es sich nicht nachsagen lassen, daß ein unehrbares Wort aus seinem Munde gekommen und deßhalb liebten ihn auch alle Mädchen und ihre Eltern hatten nichts dagegen, wenn dieselben mit ihrer Kunkel und dem Rosenkranz nach dem Nachtessen in das Haus wanderten, in welchem der Benedict gerade zu finden war.

Eines Abends sitzt so eine trauliche Gesellschaft im Vaterhause des Hansjörgen und der Benedict erzählt bis gegen 10 Uhr, daß den Zuhörern bald die Thränen in die Augen schießen, bald die Gänsehaut aufsteigt. Jetzt stellt die Margareth ihre Kunkel weg, streicht die braunen Haare aus der Stirn, steht auf und sagt gar holdselig: "Benedict, 's ist bald Zeit, wir wollen noch Eins tanzen, damit wirs lernen bis Fastnacht!"—Alle Buben und Mägdlein sind dabei; der Benedict hat seine Klarinette bei sich, denn auch ein Musikus ist er geworden, der blinde Hans hat ihm die Griffe und Pfiffe gezeigt, er spielte bereits die schönsten Hopser, Ländler, Walzer und dergleichen aus dem ff heraus und jetzt sucht er den Ton, während Tisch und Bänke in eine Ecke gestellt werden und der Hansjörg vor Freuden mit der Zunge schnalzt und Sprünge macht wie ein Tiroler.

In diesem Augenblick tritt jedoch die Ursula, Hansjörgens Mutter in die Stube und sagt zum Benedict: "He, Benedict, wollt Ihr tanzen? Weißt wohl, daß ich nichts dagegen habe, wenn´s Zeit ist, doch ist heute nicht Freitag Abend? Was fällt dir auch ein, an einem solchen Abend blasen zu wollen? Kommt am Sonntag oder an einem Tage in der nächsten Woche!"

Der Benedict wird feuerroth, steckt die Klarinette ein, geht mit dem jungen Volke fort und sagt auf dem Heimwege zu den Mädlen, er wisse gar nicht, was er darum gäbe, wenn er heute nur nicht in Ursulas Haus gewesen wäre! ... Die Ursula war eine Gevatterin seiner Mutter und Gotte dreier seiner jüngern Geschwister, hatte ihn von Kindesbeinen an geliebt und geehrt, doch wer ihr Haus mit keinem Schritte mehr betrat und ihr auf der Straße fortan auswich, das war er, und zwar deßhalb, weil er meinte, sie hielte ihn in ihrem Herzen für einen religionsfeindlichen Menschen, der sich nichts daraus mache, am Freitag zu tanzen und aufzuspielen!

Hatte es früher schon schlechte und verrufene Leute im Dorfe gegeben, so gab es allmälig auch Aufgeklärte, denn mancher, der als frommer, züchtiger Rekrut fortgegangen war und auf Urlaub heimkam, hatte die Welt in der Stadt und in der Kaserne mit neuen Augen betrachten gelernt und der reiche Max aus dem Rindhofe wanderte jetzt fleißig in die nahe Stadt, wo er in jeder Bierkneipe gescheidte Leute und genug kirchenfeindliche Zeitungen fand. Der arme Benedict regierte die Jungen im Dorfe, der reiche Max sah dies nicht gern, suchte und bekam auch Anhang und daß der vielgepriesene "Zeitgeist" auch in diesem Dörflein zu rumoren anfange, zeigte sich vor dem Frohnleichnamsfeste. Seit urdenklichen Zeiten saßen jedes Jahr am Tage vor dem Frohnleichnamsfeste die Mädchen in der Schulstube und arbeiteten oft bis Mitternacht, um das Kreuz und den Altar, zu welchem die Prozession morgen aus dem Pfarrdorfe herüberzog, mit den stattlichsten Kränzen und Blumen zu schmücken. Sie hätten es sich um keinen Preis nachsagen lassen, der Herrgott am Kreuz und das ganze Kreuz sammt dem Altare seien nicht mit Kränzen, Blumen und Bändern aufs reichlichste ausstaffirt gewesen. Die Bänder wurden von den Mädchen und deren Müttern geliefert und heuer kommandirt der Benedict den ganzen Tag im Schulhause, macht den stattlichsten Kranz, der die Dornenkrone bedecken sollte und verspricht Abends beim Fortgehen, er werde der erste sein, welcher morgen früh den ersten Kranz ans Kreuz hefte.

Dem schwülen Tage folgte eine Regennacht, welche zu stürmisch war, als daß man hätte fürchten mögen, die Prozession werde darunter leiden und noch um 11 Uhr saßen einige Mädchen in der Schulstube, um beim Licht die letzten Zurüstungen zu treffen. Der Benedict liegt im Bett und will sich eben vom Rauschen des Sturmes in den Baumwipfeln und vom Plätschern des Regens in Schlaf lullen lassen, als es leise an seinem Fensterlein klopft und ruft. Er springt auf, denn er kennt diese freundliche Stimme und verwundert sich über den seltsamen Ton derselben.

"Hör', Benedict, jetzt sind wir Mädchen zu Schanden gemacht," berichtet die Margareth, welche den hübschen Kopf in das Kammerfensterlein hineinstreckt, damit das Wasser vom Dache sie nicht ersäufe.

"Verlassen und verrathen sind wir, alle Mühe war umsonst, denn die Buben haben keine Maien geholt!" bestätigt die Susanne. "Was? keine Maien?" sagt der Benedict erschrocken und Margareth sammt der Jutta und dem Vefele, die auch herbeieilen, erzählen, der Max habe die Buben aufgehetzt, heuer keine Maien im Walde zu holen und gesagt, es sei eine Schande für so große Esel, sich noch mit solchen "Kindereien" abzugeben. Daß der Max nicht umsonst redete, während der Benedict im Schulhause saß, stellte sich um Mitternacht sonnenklar heraus. Die Maien sind jedoch gleichsam die Rahmen, welche das Kreuz und den Altar liebend umfassen und wie armselig sieht ein Bild ohne Rahmen drein? Je größer, schöner und frischer die Maien, desto größer die Ehre für die Mädchen, an den Maien erkannten die Leute aller benachbarten Dörfer, wie Buben und Mädchen in diesem Jahre zusammen standen, seit Menschengedenken hatten die Maien nie gefehlt, drum that es den Mädchen heuer desto weher, sie sahen nicht nur den Herrgott vernachlässigt, sondern sich selbst beschimpft.

Rathlos steht der Benedict, ängstlich stehen seine Herzkäfer vor dem Fensterlein, der Regen stürzt wie aus Kübeln vom dunkeln Nachthimmel und ob den Vogesen, dem Rheinthale und Schwarzwalde zugleich flammen Blitze und kanonirt hundertstimmiger Donner.

"Geht heim, ihr Lieben, Maien müssen her, ich verlasse Euch nicht!" sagt endlich der Benedict, reicht den Mädchen die Hand, schließt das Fensterlein und schleicht zu den Eltern. Die Mutter hat all ihre Seiden- und Taffetbänder ins Schulhaus geschickt, sie weiß, daß sich die Mädchen heuer ganz besonders abmühten, jetzt erzählt er, wie schimpflich die Buben gehandelt und die Mutter stößt ihren Alten aus dem Schlafe. "Wär´ der Werktag nicht schon vorbei und der Fronleichnamstag angebrochen, so ginge ich wahrlich trotz Sturm und Wetter in den Wald!" meint der Benedict zögernd, um den Eltern an den Puls zu fühlen.

"Was an Sonn- und Feiertagen zu Gottes Ehre gearbeitet wird, ist keine Sünd´! antwortet die Mutter."

"Aber woher Maien? Die Weidenstöcke am Bach sind abgehauen, ... das Unwetter ist grausig, ich müßte eben junge Birklein holen, ´s ist fast eine Stunde in den Wald und wenn mich der Cyriak, der Waldhüter erwischte, gäbe es theure Maien!" meint der Benedict. "Ah bah! Cyriak hin oder her, wenn´s dir Ernst wäre, würdest du nicht darnach fragen, ob es theure oder wohlfeile Maien gäbe! Warum haben denn die Buben keine geholt, he?" sagt der Vater.

"Weil´s der Max, der Willibald und noch ein paar so schöne es für eine Schande erklärten und Alle, welche holen wollten, so verspotteten, daß sie es bleiben ließen!"

"Eine ewige Schande ist´s für euch, Buben, euch von dem ungerathenen Max, der unserm Herrgott und dem eigenen Vater, dem herzensguten Fidele nur Schande macht, in der Art verhetzen zu lassen! Gehst du nicht, so stehe ich wahrhaftig auf, wecke den Fidele und wir alte Kracher bringen gewiß Maien!" fährt der Jacob auf, wirft die Schlafkappe weg und richtet sich aufgebracht im Bette empor.

Fünf Minuten später eilt der Benedict mit einem Beil und Stricken durch die Sturmnacht, kein Faden an ihm bleibt trocken, bis er in den Wald kommt; hier ist's stockfinster, doch seine Hände wissen glatte Birkenrinde von der der jungen Erlen gut zu unterscheiden und bald hat er vier stattliche junge Birklein vor den Wald auf die nassen Wiesen herausgeschleppt. Das Aergste ist, daß er kaum zwei auf einmal zu tragen vermag; muß er den Weg doppelt machen, so kommt der Tag, ehe alles an Ort und Stelle und die Freude der Mädchen fertig ist. Was thut der Benedict? Er springt mit zwei Birklein eine Strecke weit, springt zurück, um die beiden andern nachzuholen, macht auf diese Weise fort und die ersten Strahlen des Tages sehen die letzten zwei Birklein am Altare. Der Regen hat aufgehört, die Schwalben zwitschern und die Rothkelchen singen auf den Dachfirsten, der Benedict tropfnaß und heidenmäßig schwitzend, springt ins Schulhaus, dann zum Altare zurück, heftet richtig, wie ers versprochen, auch den ersten Kranz ans Kreuz und dann geht er heim, um noch ein Stündlein zu ruhen.

Sehr früh kommen einige Bauern zum Altare, um bei der Verzierung des Kreuzes zu helfen, alle bewundern die herrlichen Birklein, der Cyriak kommt aber auch dazu und sagt:

"Diesen Vier hab' ichs gestern Abend spät noch vermacht, daß sie heute da gesehen werden! ... Am Werktag sind sie nicht geholt worden und diesen Morgen auch nicht! ... wer die geholt hat, muß gesalzen werden! ich bring ihn heraus, gebt Acht, 's wird theure Maien geben!" brummt er zum Xaver, betrachtet ärgerlich die schönen Bäumlein und macht eine Faust.

"Sie stehen besser hier, als in deinem Revier!" lacht der Xaver.

"Heut' sind die Birklein noch schöner als gestern, gelt Cyriak?" scherzt der alte Liebhardt.

"Sollen auch schön Geld kosten, ich bringe den Buben heraus!" versichert der Cyriak und geht mit starken Schritten das Dorf hinauf.

Die Ehre der Mädchen war in den Augen aller Einheimischen und Fremden durch die Verzierungen und durch die vier prächtigen Birklein herrlich gerettet, dafür wurde auch der Benedict von den Mädchen schier in den Himmel erhoben und erklärt, er allein sei treu gegen Gott und Menschen, er verdiene, daß sie ihn zeitlebens auf den Händen trügen.

Das Wunderbarste bei der Sache blieb, daß kein Mädchen den Waldfrevler verrieth. Um Mittag wurde das Vefele, das heute Nacht bei demselben gefensterlet, von ihrem Vater, dem Cyriak, ins strengste Verhör genommen, doch sie weiß nichts und ihr Bruder, der Mathes, versichert, er wisse auch nicht, wer die Birklein geholt, wenn ihn der Vater auch mit dem Waldbeil vor das Hirn schlüge. Wie ein Feuerreiter eilt der Cyriak von Haus zu Haus, von Mädchen zu Mädchen, doch die Birklein blieben abgehauen und—was keine Erdichtung, sondern blanke Thatsache ist und ein Licht auf die angebliche Schwatzhaftigkeit der Mädchen wirft—der Benedict unverrathen, mindestens für das laufende Jahr.

Vom Max und dessen Anhange mußte er dagegen Spottreden genug hören, doch kümmerte er sich wenig um diese "neumodische Schwitt", wie der Max mit seinen Kameraden hießen, welche auch allgemach an Werktagen und am Sonntag unter dem Gottesdienst im Wirthshause zu sehen waren. Liberalseinsollende Zeitungen und böse Bücher übten wohl nur Einfluß auf diese Bursche, weil Aufklärer in jedem Wirthshause saßen; sie selbst waren keine großen Freunde vom Kopfzerbrechen und Lesen und ihre Weisheit floß in einem unter dem Landvolke allmälig weit verbreiteten Sprichwörtlein zusammen, welches heißt: Predigen und Büchermachen ist das Handwerk der Pfaffen und G'studirten! Woher solches Sprichwort stamme und welche Leute es am liebsten im Munde führten, darauf sah die "neumodische Schwitt" nicht, sondern schloß mit ihrem gesunden Bauernverstande ruhig weiter: "Ist der Pfaff ein Handwerker, so ist die Kirche seine Werkstätte, Gottesdienst und Predigt aber sind Stücke seiner Arbeit. Bei jedem Handwerker hat man die Auswahl unter seinen Arbeiten, daher wählt man aus der Predigt gerade das, was Einem am besten gefällt und gefällt Einem nichts (was bei steigender Aufklärung bald der Fall sein muß), nun, dann läßt man dem Pfaffen seine ganze Arbeit und geht am Ende gar nicht mehr in die Werkstätte desselben!"

Die Eltern der "neumodischen Schwitt" sammt den meisten bejahrtern Einwohnern betrachteten die Kirche als das Haus Gottes, den Geistlichen als Diener Gottes, thaten, wie ihre Urahnen, hielten Sonn- und Feiertage heilig, beteten zu Hause, in der Kirche, im Felde bei Prozessionen und Bittgängen, zierten das Kreuz vor dem Dorfe und schliefen nicht ein, wenn der Benedict Legenden erzählte. Sie waren der Religion treu geblieben; Protestanten, welche über die Jungfrau Maria, die Heiligen, die Ohrenbeichte, das Abendmahl, die Ehelosigkeit des Pfarrers witzelten, gab es keine und dies aus dem einfachen Grunde, weil es überhaupt im Dörflein des Benedict und in der Umgegend weder Protestanten noch Hebräer gab.

Es lebte da ein gutes, glückliches Völklein und wenn auch die Protestanten von ihm als eine Art Heiden betrachtet wurden und die kleinen Kinder davon liefen, wenn ein Hebräer auf der Straße zu sehen war, so geschah doch Niemanden etwas zu Leide um des fremdartigen Glaubens willen. Was zum alten Eisen gehörte, blieb der Aufklärung unzugänglich; der Jacob pflegte zu sagen, die "neuen Lehren" seien von "alten Lumpen" längst gepredigt worden und dafür wußte er Namen zu nennen. Doch die Aufklärung in religiösen und politischen Dingen kam auch in dieses Dorf und ihre erste Frucht war Zwiespalt unter dem jungen Volke beiderlei Geschlechtes.

Der Max saß mit dem Willibald und Andern fleißig im Wirthshause, der Fidele und die Eltern der Uebrigen schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, ermahnten, baten, weinten, zankten, fluchten und wetterten, doch gab dies keinen Zwiespalt unter der Dorfjugend, denn hier zwitscherten die Jungen nicht, wie die alten sangen, sondern die Alten mochten sagen, klagen und thun, was sie wollten, die "neumodische Schwitt" ließ sich dadurch wenig Galle aufrühren und noch weniger graue Haare wachsen.

Zuerst begnügte sie sich, im Wirthshaus zu sitzen statt in der Werkstätte des Pfarrers; bald spotteten sie über Jene, welche beim Alten bleiben wollten und in demselben Jahr, in welchem der Max aus der Sonntagsschule entlassen wurde, hatte er auch die Magdalene zum Extraschatz, ein armes, doch hübsches Mägdlein voll Leben und Feuer.

Weil sie einige Sommersprossen im Gesichte und rothe Haare hatte, deßhalb hieß sie auch "die Rothe" oder das "Fegfeuer" und wegen ihres lebhaften ungestümen Wesens zuweilen "der Feuerteufel."

Unter den Burschen war der Max der Reichste, doch der Benedict der Gescheidteste und Angesehenste und letzteres zeigte sich, als jener seine Macht erprobte und einen Vorschlag machte, welcher so recht zu der "neumodischen Schwitt" paßte.

Uralte Sitte und patriarchalisches Leben herrschten in diesem Dörflein noch und so bestand auch der Gebrauch, daß die Buben den Mädchen insgesammt am Neujahr und bei andern Gelegenheiten Geschenke machten, ohne dabei Gedanken an nähere Liebschaften zu haben.

Nun meinte der Max, welcher vielleicht etwas von der Zehntablösungsfrage aufgeschnappt hatte, man möge künftig den Mädchen nur noch am Neujahr Etwas geben und zwar keine Ringe oder ein Konstanzer Gesangbuch und ähnliches Zeug, sondern baares Geld. Er stand gerade unter der alten Linde, welche die Jugend so vieler Geschlechter beschattete und die Sache wurde noch an demselben Abend in allen Kunkelstuben verhandelt. Die "Rothe" und einige andere Mädlen wären mit dem Geldgeschenk zufrieden gewesen, doch wurde viel gestritten, der Max und der Bendict [Benedict] redeten sich für und gegen die neue Mode schier Lunge und Leber heraus.

Am Ostermontag kam die Angelegenheit bei den Buben und Mädchen zur Berathung und Entscheidung, der Max hatte gotteslästerlich viele Worte, Flaschen und Versprechungen aufgeboten, Benedict in den letzten Tagen so geschwiegen, daß der Max ihn auf seine Seite zu bringen hoffte, doch jetzt trat derselbe für die alte Sitte und seine jungen Herzkäfer auf und siehe da, die meisten Buben fielen ihm zu.

Wüthend zog Max mit den Seinigen von der Linde in den Hirzen; von diesem Tage an brachte er dem Benedict den diesmal sehr unverdienten Namen, "der Duckmäuser" auf; der Zwiespalt des jungen Volkes offenbarte sich noch an demselben Tage darin, daß die Neumodischen sich im Wirthshause abgesondert von den Altmodischen setzten, doch geschah keine feierliche Kriegserklärung, es wurden einstweilen nur neue Namen aufs Tapet gebracht.

Benedict hieß fortan "der Duckmäuser" und sein Anhang "die schwarze Schwitt", Maxens Roche gab den Anlaß, dessen Schwitt die "roche" zu taufen und von "lewatisch gewordenen Schaufelstudenten" und "Knierutschern" war beiderseitig viel Munkelns und ingrimmigen Höhnens.

Viele Buben und Mädchen wußten noch nicht recht, zu welcher Schwitt sie halten sollten und am andern Sonntage stehen und sitzen sie nach der Vesper um die Linde herum, plaudern und scherzen, singen und lachen, doch will die Freude nicht recht in Gang kommen, denn der Benedict fehlt und vergeblich läuft bald die Susanne, bald die Margaret mit ihren Kameradinnen ins Oberdorf, um den Herzkäfer herbeizuholen. Im Hirzen sitzt der Jacob vor seinem Hälbsle, daheim steht die Theres im Garten und ihr Waldburgele hält sie immer an der Schürze, das Besele und das Kätherle folgen der Mutter wie die Küchlein der Henne, doch weder der Jacob noch die Theres wissen, wo der Benedict steckt und die kleinen Schwestern wissen auch nichts, als daß er ihnen ein Rad am Wägelein flickte, worauf sie ihre "Doggenbaben" spaziren führen, dann die Kappe genommen, den Kittel über das rothe Wamms angezogen habe und fortgegangen sei, nachdem er in der Küche beim Anzünden der Tabakspfeife sich noch ein bisle verbrannt habe! ... Auf einmal geht der Ersehnte mit dem Gregor, seinem liebsten Kameraden vom Unterdorf herauf und langsam auf die Linden zu, die Susann' und die Margareth, das Vefele und die Apel, die Affer, Sabin' und Andere laufen ihm entgegen.

"Sag uns doch, warum bist du bös auf uns?"—"He, ich bin mit Euch durchaus nicht bös!"—"Ja, warum kommst heute nicht?"—"Ei, bin ich jetzt nicht bei Euch?"—"Du bist bös mit uns, wenn du's auch verhehlst!"—"Ich bin nicht bös, gelt Gregor nit?" "Aber", sagt der Duckmäuser jetzt laut und vernehmlich und steht mitten unter dem Haufen, "ich und der Gregor und der Mathes bleiben jetzt für uns Herr, und Alle, welche am Frohnleichnamstag Maien geholt haben, dürfen nicht mehr zu mir kommen!"—"Und die, welche keine Maien geholt, sollen uns vom Leibe bleiben!" rufen die Mädchen.—"Ich gehe über Feld, wer will mit?"—"Ich, ich, ich auch, wohin?" rufen und lärmen die Buben.—"Ja, es dürfen keine Andern mit mir als solche, die den Mädlen keine Maien geholt haben!" ruft der Duckmäuser.

Der Stich wurde verstanden, die Buben sonderten sich in zwei Heere, das größere sagt: "Benedict, wir sind bei dir!"—["]Wollt Ihr altmodisch bleiben?" fragt der Benedict und Alle antworten. "Ja!" Einer rennt in den Hirzen, mit feuerrothem Kopfe kommen der Max, der Willibald und Andere; der Max scheidet zuerst seine Rothe von den andern Mädlen ab, die Buben alle thun dasselbe, die Scheidung der Lämmer und Böcke, der schwarzen und rothen Schwitt ist in wenigen Minuten entschieden, die rothe Schwitt verläßt mit ihren Mädchen die Linde, am nächsten Sonntage soll sichs zeigen, ob die rothe oder schwarze Schwitt ihren Mädlen größere Freuden zu bereiten verstehe!" [verstehe!]

"Lauter Markgräfler muß auf den Tisch", schwört der Max, "kein Mädle darf an den Wänden herumstehen, wenn's auch keinen besondern Schatz hat, bei uns gilt die Eine was die Andere, wir bringen Anderes auf's Tapet, als Blumenzutragen, Maienholen, den Eckpfosten am Schulhaus verzieren und das verwitterte Kreuz, wo der Herrgott bald einen Schnurres von Moos bekommt!" Was ist das für ein Munkeln und Gerede die ganze Woche, wie gespannt sind die Alten und Jungen, doch ruhig bleiben die Mädlen der schwarzen Schwitt, denn ihr Herzkäfer hat gesagt: "Der Max und ich stehen einander gleich dick gegenüber am Sonntag, obgleich er der einzige Sohn des reichen Fidele ist und ich der des fast armen Jacob; ihr Mädlen sollt nicht zu Schanden werden!" Am Sonntag nach der Vesper sitzen die beiden Schwitten mit ihren Mädchen im großen Saal beim Hirzenwirth einander gegenüber; dem Duckmäuser thut nichts weher, als daß der Hansjörg und dessen Schwester, zwei stille, harmlose, einfältige Seelen auch bei der rothen Schwitt sitzen. Die Beiden halten den Duckmäuser für ihren Todfeind seit dem Freitag, an welchem ihre Mutter demselben das Tanzen und Klarinettblasen verbot, obwohl er ihnen kein böses Wort gegeben. Der Max bekommt gar keine Zeit zum Sitzen vor lauter Einschenken und Zubringen des Markgräflers an seine "Gemeinmädlen", und feurige Wangen und blitzende Augen gibts unter der rothen Schwitt, bis endlich der Max seinen Wamms auszieht, das Halstuch locker knüpft, das Schnupftuch in einem Knopfloche seiner rothen Weste festbindet, seine Rothe am Kopfe nimmt und sagt: "Auf Alte, wir tanzen jetzt Eins!"

Jetzt wird getanzt, gesoffen und gefressen, daß es erst eine rechte Art bekommt. Unter dem Tisch der rothen Schwitt liegen die Scherben aller geleerten Flaschen, vom Tische herab regnet der Zwölfer, kein Glas darf vom Munde, ehe es ganz geleert ist, nur der Hansjörg und dessen Schwester sind von diesem Gesetze ausgenommen; die Pyramiden von Wecken und Bretzeln, welche vor den Mädchen gestanden, waren zum guten Theil wieder Teig geworden, die rothe Schwitt tanzt, stampft und jauchzt, daß der Boden zittert und die Scheiben klirren.

"Franz", schreit der Max dem Aufwärter zu, der mit seiner weißen Schürze schwitzend umherfliegt, "Franz, einen Kübel voll vom Allerbesten, vom alten Rothen!"

"Jo, s'ischt anfangs nöthig, daß Ihr's in Kübeln fordert, d'Butelle sind bi Gott alle z'sammeng'schlage!" brummt der Franz.

"Franz, hol ihnen den Brunnentrog im Hof, sie können die Köpf hineinhängen, daß sie bälder voll werden!" ruft der Duckmäuser vom Tisch seiner Schwitt herüber und der Willibald schaut ihn giftig an.

Schon um 5 Uhr trinkt der Max nicht mehr, hört auch nichts von der schönen Musik, denn er liegt schwerbetrunken hinter dem Holzschoppen des Hirzenwirths und seine Rothe mag auch irgendwo so ein Plätzlein gefunden haben; um 6 Uhr ist von der rothen Schwitt nichts mehr zu sehen als eine im Markgräfler gebadete und von Flaschen zerhämmerte Tischplatte voll Scherben und Teig; die Gäste wurden theilweise fortgetragen, theilweise taumelten sie hinaus, um im Freien sich zu lagern, nur der Hansjörg und dessen Schwester sitzen noch da und diese führt der Duckmäuser jetzt an die lange und dicht besetzte Tafel der schwarzen Schwitt.

Die Mädlen der rothen Schwitt haben sich theilweise fortgeschlichen, theilweise buhlen sie um Aufnahme bei der schwarzen, heute wird aber nichts daraus.

Der Duckmäuser hat auch Pyramiden von Wecken und Bretzeln aufstellen lassen, doch nichts durfte verdorben werden; er hat stets denselben Wein kommen lassen wie der Max, doch blieb die Tischplatte sauber und Niemand wurde zum Saufen gezwungen; Alle sind nüchtern und in Ehren fröhlich, der Duckmäuser sitzt stolz zwischen seiner Margareth und der Marzell.

Den Mädlen der schwarzen Schwitt gefiel's gar wohl, keinen "Batzenvierer", sondern denselben Wein wie die der rothen trinken zu dürfen; nunmehr ist die rothe Schwitt fort, die Mädlen meinen, man könne jetzt mit dem Zwölfer aufhören, weil das Prahlen und Wettzechen vorüber sei, doch jetzt läßt der Duckmäuser erst vom Dickrothen ausstellen, bringts der heißgeliebten Margareth zu und lacht:

"He, Ihr glaubt, der Benedict habe einen schwindsüchtigen Geldbeutel, weil sein Alter das Knieschlottern bekommt, wenn er ihm einen Batzen geben muß? Seid getrost, der Dorfhanswurst hat noch Späne!" Alles Zureden und Lobreden der Mädchen half nichts, gab nur zu zärtlichen Wortgefechten Anlaß und alle Mädlen gelobten, der altmodischen Schwitt treu zu sein, alle Buben schwuren, wie ehrliche Brüder zusammenzuhalten und die Mädlen in Ehren hoch zu halten. Erst Abends zehn Uhr schied die schwarze Schwitt vom Hirzen und vom Dickrothen, doch kein Betrunkener war zu hören oder zu sehen und den ganzen Sommer redeten Alt und Jung vom Ehrentage, welchen der Benedict seinen Herzkäfern bereitete.

Am nächsten Sonntage legt der Duckmäuser der Susanne, die mit ihren Kameradinnen aus der Kirche kommt, die Hand auf die Achsel, schaut sie gar ernsthaft an und fragt. "Habt ihr recht andächtig gebetet, Mädlen?"—"Ja!" —"Auch für mich?"—"Wir beten Alle für dich!" rufen die Mädlen treuherzig und dem Duckmäuser wirds wohler ums Herz.

Er hat sich nichts merken lassen, doch bang und schwüle ist's ihm seit dem letzten Sonntag und finstere Ahnungen, als ob ihm etwas Großes, Ungeheures bevorstehe, schnüren seine Brust zusammen; jetzt thut ihm das Geständniß der lieben Kameradinnen gar wohl und gießt Muth in seine Seele!" [Seele!] ... Daheim hat der jüngere Bruder schon das Papier gerichtet und die Feder gespitzt, damit ihm der Benedict die Predigt dictire; der Benedict kommt und dictirt, doch guckt er wieder in Einem fort in eine Ecke und der Bruder muß heute gar zu oft fragen: "was kommt jetzt, was soll ich jetzt schreiben" und meint, er habe heute nicht recht aufgepaßt, sonst müßte er nicht so lange studiren.

Plötzlich fragt der Vater draußen mit einer Stimme nach dem Benedict, welche diesen zittern macht; rasch öffnet er die Kammerthüre und ruft: "Was ist's, was gibts?" Die Frage ist noch nicht recht heraus, fühlt sich der Benedict am Titus gefaßt, hageldichte Schläge versetzt ihm der Jacob mit einem vierfachen, reichlich mit Knöpfen versehenen Seilstumpen und brüllt. "Wo hast du Geld geliehen?" "Hab' keines geliehen!" heult der Benedict, krümmt sich unter den Eichenfäusten des Vaters und immer wüthender haut dieser zu und haut zu, wie der Sohn schon auf dem Boden liegt, denn Weste und Wamms hatte dieser ausgezogen und trug nur ein Hemd und dünne Sommerhöslein, so daß kein Hieb verloren ging. "Ach, Vater, sechs Kreuzer habe ich geliehen!"—"Bei wem, Schlingel!"—"Beim Aloys!"—"Wo hast noch geliehen?"—"Beim Bernhard!"—"Wieviel?"—"Nur zwölf Kreuzer!"—"Wo hast noch geliehen?"—"Beim Stoffel!"—"Wieviel?"—"Achtzehn Kreuzer!"—"Und wo noch?"—"O Jesus, Maria und Joseph, laßt mich gehen, beim Bernhardt!"— "Wieviel?"—"Einen Sechsbätzner!"

Auf solche Weise ging das Examen fort, der Jacob bebte vor Zorn und Wuth, doch seine Kräfte gaben nach von lauter Zuschlägen, der Benedict aber war Eine Beule von oben bis unten und sein Blut rann ihm über das Gesicht und den zerfleischten Leib. Athemlos und keuchend steht der Jacob, vermag kaum den Seilstumpen mehr in der Hand zu halten, mit heiserer Stimme gibt der Benedict die letzte Antwort: "Ach, beim Liebhardt hab' ich zwei Gulden geliehen!"—und aufs neue schlägt der Vater zu, daß sich der Sohn wie ein Wurm auf dem Boden krümmt, schreckensbleich steht der Bruder, die Schwestern weinen vor Mitleid, die Theres bringt vor Angst und Schrecken kein Wort hervor und hat den Muth zum Abwehren verloren, denn sie kennt ihren Alten und weiß, wozu ihn die Wuth bringen kann.

Das Blut Benedicts, der keine Stimme und keine Thränen mehr zum Weinen hat, gibt ihr endlich den Muth, in den Augenblicke, wo alle Kinder um Hülfe für den Bruder schreien, aus der Küche zu springen, dem Vater, der mit beiden Händen seinen Strick hält und zuhaut, unter den Streich zu fahren, denselben am Arme zu packen und zur Menschlichkeit zu ermahnen. "Spring fort, spring fort, Benedict!" rufen angstvoll die Geschwister und der Benedict springt nicht fort, doch wankt er zur Thüre und zur Hinterthüre hinaus in den Obstgarten und von da über den Zaun ins Feld.

Ohne Kappe, ohne Halstuch, ohne Wamms und Weste, ohne Schuhe und Strümpfe und dazu ohne Geld wankt der Mißhandelte von Wenigen gesehen und von Keinem erkannt, dem Weidengebüsche am Mühlenbache zu.

Dies waren Folgen des Ehrentages der schwarzen Schwitt.

Der Vater hatte nicht gewußt, daß sein Sohn die Zeche bezahlte; diesen Morgen wandelt der Liebhard mit ihm und andern Nachbarn aus der Kirche, das Gespräch kommt auf den Benedict, Alle loben denselben und der Liebhardt sagt: "Darfst glauben, Jacob, daß ich deinem Buben die zwei Gulden nicht geliehen hätte, wenn er ein liederlicher Mensch wäre!"—"Was? zwei Gulden hat er bei dir geliehen?" fährt der Jacob auf und macht Augen wie Pflugräder.—"Hätte ich das Maul gehalten!" denkt der Liebhardt, der jetzt erst merkt, der Jacob wisse nichts um die Sache, doch kann er nicht als Lügner dastehen, erzählt die Sache ausführlich und der grundehrliche Jacob schämt sich in den Boden hinein, der finstere Jacob aber eilt heim, flicht Knoten am Seilstumpen und ist gerade fertig geworden, als sein Opfer den Kopf zur Kammerthüre herausstreckte.

Der Duckmäuser hatte nicht nur beim Liebhardt, sondern noch bei vielen Andern, welche keine Buben oder Mädlen bei den Schwitten hatten, Geld geliehen, wußte nicht, daß der Vater nur vom Liebhardt etwas wisse, gestand zuerst den kleinsten, dann größere, allmälig alle Posten ein und mit den Zahlen wuchs so der Grimm des Vaters. Als dieser der Theres Alles erzählt, steht die gute, grundehrliche Frau gleich einer Bildsäule da und würde ihren Mann zum erstenmal einen Lügner gescholten haben, wenn sie die Geständnisse ihres "Augapfels" theilweise in der Küche draußen nicht selbst gehört hätte. Beim Mittagessen erschien kein Benedict, in der Vesper fehlte er auch und den ganzen Tag bis in die tiefe Nacht hinein war ein Geläufe der Buben und Mädlen der schwarzen Schwitt zum Elternhause ihres "Herzkäfers", doch vom Benedict wußte Niemand ein Sterbenswörtlein, seine Eltern und Geschwister verriethen aber auch nicht, wie er geschlagen worden sei und warum.

Noch um zehn Uhr Abends geht die Margareth mit der Susanne, Marzell und Anderen durch das Oberdorf, sie reden lauter Liebes und Gutes vom Duckmäuser, eine dunkle Gestalt schleicht hinter ihnen eine Weile her und dann verschwindet sie zwischen den Gartenzäunen.

Es ist der Benedict, der seiner Wohnung zutrollt, die beiden kleinern Schwestern stehen noch im Hofe, eilen freudig auf ihn zu und berichten auf seine leise Frage, der Vater liege im Bett, die Mutter jedoch sei noch auf, sie habe immer geweint und gefürchtet, er werde sich den Tod anthun, doch wisse kein Mensch, was der Vater gethan habe.

Die letzte Versicherung tröstet den Duckmäuser, wenns nur Niemand weiß, dann steht alles gut! wie lieb ihn die Mädlen haben und wie hoch ihn die Buben der schwarzen Schwitt in Ehren halten, das hat er auf dem Heimwege erfahren!

Am Bache hat er seine schwarzblauen Beulen und blutigen Striemen wehmüthig betrachtet, sich dann ins Wasser gelegt und an den Wunden gerieben, hoffend, dieselben würden eher unsichtbar werden, dann legte er sich zwischen den Weiden nieder und schlief mit hungrigen Magen bis zum Abend, wo er noch sitzen blieb, bis es recht finster wurde und dann fortschlich, um zu sehen, wie es im Dorfe und daheim aussehe.

"Gang, Hannesle, lang mer jetzt die Kleider zum Kammerfenster heraus und bring mein Geld; es liegt hinter dem Getüchtrog in einem dunkeln Lumpen eingewickelt!" sagt der Duckmäuser; der Hannesle geht, berichtet der Mutter, der Bruder sei Gottlob wieder gekommen, das Mütterchen bringt das Geld selbst und fragt, wozu er so viel geliehen.

Ihr gesteht er Alles und sie sieht ein, daß der Augapfel Geld lieh, um die Altmodischen der schwarzen Schwitt im Dorfe gegen die liederlichen und allgemach verrufenen Rothschwittler in Oberhand zu halten, vergißt ihre Schaam und würde die Beulen ihres Augapfels gerne nicht nur aus dessen Gesicht, sondern von seinem ganzen Leibe mit ihren Zähren abgewaschen haben. Sie will ihm Essen holen, er will nichts und sagt, er verdinge sich noch heute Nacht in der Stadt oder sonst wo und nur das feierliche Versprechen der Mutter, beim Vater ganz gutes Wetter zu machen, bringt ihn davon ab, doch bleibt er nicht daheim, sondern geht wieder fort.

Eine halbe Stunde später kommt der Duckmäuser zum Dorfe, torgelt und taumelt und redet mit sich selber wie ein Schwerbetrunkener und findet aber doch den Weg zu den Linden, wo noch Buben und Mädchen der schwarzen Schwitt stehen, denn das Verschwinden ihres Herzkäfers hat Alle in schwere Unruhe und Besorgniß versetzt und Mehrere suchen in den umliegenden Ortschaften ihr Haupt.

Der Mond steigt über den dunkeln Bergen des Schwarzwaldes auf und leuchtet ins Thal, die Susanne erkennt den Duckmäuser, Alle springen ihm fragend entgegen und sehen seine Beulen und Striemen; er spiele die Rolle des Betrunkenen, wiewohl er im Pfarrdorfe drüben nur zwei Schöpplein schnell hinabstürzte; sie glauben, daß er heute fortgewesen, im Rausche unbesonnen gewesen sei, Händel angefangen und "Pumpes" bekommen habe.

Dies war's, was er wollte, denn daß ihn seine Eltern so wenig verriethen, als die, von welchen er Geld geliehen, wenn er nämlich dieses Geld rasch zurückgebe, dessen war er gewiß.

Der theuern Margareth, der holdseligen Marzell und dem herzensguten Vefele erzählte er die Sache vom Liebhardt selbst, doch wollte er auf dem Markte, wohin er jeden Donnerstag mit einem Korb voll Eier, Butter und dergleichen geschickt wurde, ein großes Unglück gehabt und die zwei Gulden gebraucht haben, um den Schaden vor dem strengen Vater zu verbergen!

Er konnte als armer Bursche mit den paar rothen Batzen, welche die Mutter dem Vater für ihn abschwatzte, seine Anführersrollen nicht spielen, der Max würde ihn mit seinen Kronenthalern arg zu Schanden gemacht haben. Heimliche Schulden drückten den Benedict und seitdem er so gründlich erfahren, was der Vater von Schulden halte, wars ihm desto unlieber, weil die Mutter gar zu scharfe Augen machte, wenn sie den Marktkorb zurüsten half.

Ohne dem Augapfel ein Freudlein in Ehren zu mißgönnen, blieb sie sehr sparsam und häuslich; seit der Geldgeschichte schien ihr auch ein Licht darüber aufgegangen, weßhalb der Benedict seit einiger Zeit manchmal in "Brandpeterle's" Haus schlich, welches im Punkte der Ehrlichkeit und in einigen andern dazu nicht im besten Geruche stand. Sie paßte gewaltig auf, wenn derselbe seinen Marktkorb auf den Kopf nahm und in die nahe Stadt marschirte, suchte zuweilen hinter dem Getüchtrog und in andern Winkeln und schüttelte den ergrauenden Kopf, obwohl sie niemals etwas Verdächtiges fand.

Man munkelte im Dorfe hie und da von Schulden des Benedict, die rothe Schwitt meinte, "er habe es dick hinter den Ohren und sei halt der Duckmäuser", doch die Leute wurden nach und nach bezahlt und der rothen Schwitt das böse Maul gestopft.

An einem Dienstag Abend sitzt der Benedict bei den Mädlen unter den Linden, da sagt die Marzell: "Gelt, du hast heute ein Pfund Butter bei der krummen Lisbeth für s' Baschi's Wittfrau gekauft?"—"Ja, warum sagst du's?"—"He, die Lisbeth hat dich bei einer ganzen Heerd Weiber ausgerichtet, habest ihr kein Geld für die Butter gegeben und nachher doch behauptet, du hättest sie bezahlt!"—"Wart'! der Lisbeth will ichs morgen sagen! Hab' ich je in meinem Leben um einen halben Kreuzer betrogen?" fährt der Benedict auf und geht bald ein bischen verstimmt heim.

Am nächsten Markttage steht die krumme Lisbeth mit andern Weibern und Mädlen des Dörfleins auf dem Wochenmarkte und just neben einer Obsthändlerin. Auf einmal kommt der Benedict, kauft für zwölf Kreuzer Obst, gibt der Frau das Geld und geht.

Eine Viertelstunde später kehrt er eilfertig zurück und fragt die Obstfrau schon von weitem: "Nicht wahr, bei Euch habe ich für zwölf Kreuzer Obst gekauft?"—"Ja, das habt Ihr!"—"Ich habe Euch ja 's Geld nicht gegeben?"— "Doch, doch, Ihr habts mir in die Hand gelegt!"—"Oh, das kann gar nicht sein, ich weiß es von meinem Gelde, die zwölf Kreuzer fehlen mir nicht!"

Wer keine doppelte Bezahlung will, ist die blutarme Obstfrau, wer darob ein tüchtiges Geschrei anfängt, der Benedict und während alle Weiber recht aufpassen, sagt er und schaut auf die krumme Lisbeth hinüber. "So ist's! Die Eine will ihre Waare gar nicht, die Andere dagegen doppelt bezahlt haben! ... Für die halbe Stadt muß ich einkaufen; gehe ich nun auch einmal fort und vergesse in Gedanken das Bezahlen, so finde ich bald, wo es fehlt, wenn ich die Rechnung über mein Geld stelle! ... Doch zweimal, wie es vorgestern Eine mit ihrem Pfund Butter haben wollte, zahle ich nicht gern!"

"Da sieht man wieder, wie man den Leuten Unrecht thut!" ließen sich die Weiber vernehmen und schauten auf die Lisbeth.

"Ich hab's vorgestern gleich nicht geglaubt, der Benedict geht jetzt schon lange auf den Markt und hat sich noch nie etwas zu Schulden kommen lassen!["] meint die Apel.

Abends hört der Duckmäuser von seinen Herzkäfern lauter Liebes und Gutes und einer ganzen Heerde Weiber hat die Lisbeth eingestanden, es sei leicht möglich, daß sie Benedicts Geld für die Butter verloren habe; ein Loch sei nicht in ihrem Rocke, doch habe sie das Geld in der Eile nicht in den Beutel gethan und vielleicht mit dem Schnupftuche weggeworfen.

Sauer, blutsauer ließ sich's unser Held werden, bis die ärgsten Gläubiger zufrieden gestellt waren, Angst und Noth stand er genug dabei aus und fand, der Erwerb auf krummen Wegen gewähre dem Menschen sehr wenig Freude; er würde sich gern mit den paar Batzen begnügt haben, welche die Mutter ihm zusteckte, doch sollte er jetzt vor dem Max zurücktreten, aufhören, an der Spitze der schwarzen Schwitt zu stehen und so die "Neumodischen" Herren im Dörflein werden lassen?

Der Max besaß Geld wie Heu; nicht blos an hohen Feiertagen und besondern Gelegenheiten, sondern jeden Abend, den Gott gab, lebte die rothe Schwitt herrlich und in Freuden, sei es im Hirzen oder in Kunkelstuben, und wenn die schwarze Schwitt auch nicht groß thun, prahlen und unmäßig sein wollte, so gab es doch von Zeit zu Zeit Gelegenheiten zum Geldausgeben und der Benedict hätte es nicht sehen können, wie Maxens Rothe, Willibalds Luzie und Andere mit Geschenken überhäuft wurden, während die braven, treuen und lieben Mädlen der schwarzen Schwitt leer ausgingen.

Wenn er jetzt zuweilen mit einem kleinen Marktkorbe auf dem Kopfe zum Ort hinausging, so wuchs der Korb merkwürdig in die Höhe, ehe er durch das Stadtthor keuchte und einige Weiber wollten wissen, das Wunder gehe ganz natürlich zu; gewiß war, daß der Benedict unterwegs seinen kleinen Korb abstellte, seitwärts vom Wege in das Weidengebüsch des Mühlenbaches trug und weit schwerer bepackt wieder hervorkam, sich vorher nach allen Seiten umsah, ob kein Unrechter in der Nähe sei und dann rascher als vorher der Stadt zulief. Die krumme Lisbeth mit ihren scharfen Augen bemerkte es wohl, andere Weiber wußtens bald; sie zogen den Benedict auf wegen seines Abstellens bei den Weiden und dieser merkte, daß Mutter Theres sammt andern ihres Geschlechtes und manchen Männern dazu seine Ehrlichkeit und Redlichkeit stark bezweifelten.

Der Liebhardt war nicht allein beim Jacob gewesen, als die Geldanleihe zur Sprache kam, Andere mochten die Sache herum gesagt haben, Benedicts Eltern zahlten alle ihnen bekannten Gläubiger aus, diese merkten auch etwas, das Pfund Butter war auch noch nicht vergessen und das Dörflein lag nicht in einer Gegend, wo man gestohlen haben mußte, um für unehrlich zu gelten; eine wackere Lüge reichte dazu hin und der Marktkorb machte die Mutter so mißtrauisch, daß sich der Held der schwarzen Schwitt nicht mehr zu helfen wußte. Zuweilen kam jetzt wohl die Schwindsucht an sein Geldbeutelein, doch von Zeit zu Zeit besaß er Geld und so vorsichtig er mit dem Ausgeben desselben war, schüttelten doch manche den Kopf und meinten, der Max habe mit dem Namen "Duckmäuser" keinen üblen Einfall gehabt.

Duckmäusers Glücksstern erbleicht.

An einem Sonntagmorgen tritt der Benedict aus der Kammer in die Stube, der Vater rasirt sich gerade hinter dem Ofen und tritt diesmal nicht so glatt und sauber wie sonst hervor, denn er hat sich im Eifer geschnitten oder vor innerer Bewegung gezittert, seine Stirn ist gefaltet und der Blick so finster, daß der Sohn bereut, durch das Löffelgeklirre der Mutter in die Stube gelockt worden zu sein.

"Bist du gestern Nacht nicht wieder in Brandpeterles Haus gewesen?" fragt der Jacob und der Mund zuckt bei dieser Frage gar seltsam.—"Ja, ich war ein Viertelstündle dort und hab' geschwind die Geschichte vom Fortunatus mit dem Säckel und Wünschhütlein erzählen! müssen!" meint der Benedict kleinlaut.—"Woher hast du denn diese schöne silberne Uhr, die heute Nacht aus deinem Sacke rutschte?" fragt der Alte mit blitzenden Augen und zitternden Lippen und zieht die Uhr aus dem Kasten—"Ho, ich habe sie gefunden!"—"So was findet man nicht so am Wege! Kerl, was fängst Du für ein Leben an? Gib Acht, gib Acht, daß ich nicht hinter dich komme, 's geht dann anders als wegen dem Liebhardt!" donnert der Vater und schlägt die Eichenfaust auf den Tisch, daß die blechernen Löffel und zinnernen Teller in die Höhe springen und die jüngern Kinder ängstlich zusammenfahren.— "Alter, denk' an unsere Verabredung!" ermahnt die Theres, welche eine Schüssel voll gebratener Erdäpfel neben die dampfende Suppe stellt.—"Wo hast du die Uhr gefunden?" forscht der Jacob weit sanfter.—"Da und da."— "Bah, bah, weßhalb hast du sie denn verborgen? Weßhalb mußte ihr Picken erst dein Glück verkünden? Soll man das Maul halten, wenn man Etwas gefunden hat? Meinst du, es werde Niemand nach der Uhr fragen? Kerl, Kerl, nimm dich in Acht, heute gehst du mir nicht zum Hause hinaus, hast's gehört?["]—"Ja, ja!" versichert der zitternde Benedict und die Mutter wirft ihm einen Blick unaussprechlicher Angst und Bekümmerniß zu, denn sie ahnt, wie ihr Augapfel zu der schönen Uhr gekommen sein möge. Aus der Kirche bringt der Vater die Hiobspost, gestern Abend sei dem Melchior die Silberuhr, welche er an der Wand hängen hatte—weggefunden worden, der Benedict glaubt sein Todesurtheil zu vernehmen, doch flicht der Vater diesmal keinen Seilstumpen und versetzt dem Bueb nur gelegentlich einen Stoß, daß derselbe der Länge nach zu Boden stürzt und will einen Fußtritt oben drauf setzen, den die herbeieilende Mutter jedoch verhindert.

Bei Nacht und Nebel trägt der Jacob die Uhr wieder dahin, woher sie genommen wurde, kommt unbeschrieen wieder heim, kann kein Wort reden vor Schmerz und Schaam, die Theres aber nimmt den Benedict in die Kammer, fällt vor ihm auf die Kniee und bittet ihn unter strömenden Thränen und mit aufgehobenen Händen, sich zu bessern und von dem Wege abzulassen, den er eingeschlagen.

Bei allem, was dem Christenmenschen und Kindesherzen heilig ist, beschwört sie ihn, vor Gott und den Menschen ehrlich und rechtschaffen zu wandeln und bringt ihn zum Schwure, wieder ordentlich zu werden.

Sie verspürt an Eiern, Butter und dergleichen, daß es dem Duckmäuser diesmal Ernst sei; sie kennt ihn inwendig wie auswendig und will Alles thun, um ihn auf dem rechten Wege festzuhalten. Sie weiß, es gäbe Eine im Dörflein, welche mehr über den Benedict vermöge, denn alle Geistlichen, Vater und Muster zusammengenommen, diese Eine hieß Margareth und zu dieser geht die tiefbekümmerte Theres, erzählt ihr, wie alle Ermahnungen, Warnungen, Schläge und andere Mittel den Buben nicht von Brandpeterles wegbringen könnten und wie es mit Melchiors Uhr zugegangen sei.

Ob der unerwarteten und nie geahnten Nachricht erschrak die Margareth so sehr, daß sie den Benedict, für welchen sie freudig ihr Leben gelassen hätte, von dieser Stunde an nicht mehr liebte, sondern eher fürchtete, und später fürchtete wie selten ein Mensch gefürchtet wird. Sie verrieth Theresens Vertrauen mit keiner Silbe, blieb gegen dieselbe eine zärtliche Freundin und liebende Tochter, doch die Liebe für den Benedict war aus ihrem reinen, blutenden Herzen verschwunden, jeder Blick und jedes Wort und die Scheu vor dem verdächtigen Geliebten verrieth es jetzt schon.

Am dritten Abend darauf rüstet der Benedict seinen Marktkorb, die Mutter sieht ihm mit nassen Augen zu, denn er sieht gar bleich und zerstört aus, thut wie Einer, der nicht mehr bei sich selbst ist und hört stumm die Aufträge herzählen, welche er morgen befolgen soll; schon um 3 Uhr will er wie gewöhnlich fortgehen und um diese Zeit pflegt die Mutter noch ein bischen zu schlafen.

Der Marktkorb ist gepackt, der Benedict setzt die Kappe auf und nimmt die Pfeife von der Wand. "Wohin willst du noch?" fragt die Mutter.—"Zu den Andern!" brummt der Sohn kurz und grob.—"Nein, du gehst jetzt nicht zu den Andern, sondern bleibst da! ... Wenn gute Worte nichts nützen, dann will ich auch anders mit dir anfangen!" ruft die schwergekränkte, erzürnte Mutter.

Der Vater sitzt am Tische, sucht in einem alten Kalender den Tag, an welchem die kleine Ammerey zur Welt kam, doch jetzt steht er auf und langt nach den Stricken, die neben dem großen Legendenbuch am Kasten herabhängen, der Duckmäuser jedoch schießt wie eine Kugel aus dem Rohr zur Thüre hinaus in die stockfinstere Nacht hinein.

Einige Minuten später geht er in das Haus des Brandpeterle, in welchem die rothe Schwitt jetzt ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat. Der Brandpeterle sitzt nicht in der Stube, denn er liegt schon längst drüben auf dem Kirchhofe, doch dessen verrufene Wittwe setzt eben zwei Krüge Wein auf den Tisch, ihre hübsche, doch leichtsinnige Tochter, die Hanne, sitzt auf dem Schooße des Willibald, der mit fünf andern Buben und fünf Mädlen der rothen Schwitt just vom Duckmäuser redet, denn dieser wird erwartet. An diesem Abend wird das bisherige Haupt der schwarzen Schwitt vollends zum Haupte der rothen ernannt, die Hanne zur "ehelichen Geliebten" desselben gemacht und der erste Beschluß des Neubekehrten heißt: Brandpeterles Haus bleibt Hauptquartier der rothen Schwitt, die ganze Jungfrauschaft der schwarzen ist im Bann!

Etwa um die Zeit, wo Benedict sonst den Marktkorb auf den Kopf zu nehmen pflegte, tritt er aus Brandpeterles Haus und geht nicht heim, um den Korb zu holen, sondern zum Dörflein hinaus und am Kreuze vorüber, wohin er vor drei Jahren in der Frohnleichnamsnacht die Maien gebracht.

Er zieht die Kappe nicht herab, sondern schaut nach der andern Seite.

Es wird Abend, wird wieder Tag, wird Sonntag, Dienstag und noch einmal Dienstag, vom Benedict ist nichts zu sehen und zu hören, die Hanne mit der rothen Schwitt wartet so vergeblich wie die schwarze. Am folgenden Sonntag, während Alles in der Kirche ist, was nicht ganz notwendig in der Küche oder bei der Wiege oder im Krankenbette bleiben muß, tritt der Duckmäuser wieder über die Schwelle seines Vaterhauses, die Mutter steht am Heerde und kehrt sich um, doch sie fährt erschrocken zusammen und findet keinen Gruß.

Ohne ein Wort zu sprechen, geht er in die Kammer, zieht ein frisches Hemd und die Sonntagskleider wieder an, nimmt einen schweren Geldbeutel aus dem Sacke der alten Hosen, steckt denselben ein und geht mit einem barschen "Adje" wieder zum Hause hinaus.

Kein Kundschafter erfuhr, wohin der Benedict gegangen, doch wie es dunkel wird, kommt er mit Zweien von der rothen Schwitt das Dorf herauf zur Linde, die Mädchen der schwarzen Schwitt drängen sich nicht um ihn herum, wie dies sonst immer der Fall war. "Wo ist d´ Margareth?" fragt er—"Wir wissens nicht! ... sie wird daheim sein!" antworten Einige—"Und Ihr, was thut Ihr da? Ihr könntet auch daheim sein!" sagt er und geht dann das Dorf weiter hinauf.

Im Hofe des Brandpeterle sitzen die Dorothea, Klara, die Sabine, welche aus der "Feinsten, Fleißigsten und Sittsamsten" auch eine Helden der rothen Schwitt geworden ist, vielleicht aus Scheu vor dem Oberhaupte der Schwarzen.

Der Duckmäuser will mit den Mädchen scherzen, die Gefährten dagegen halten ihn eifersüchtig ab. "Diese gehen dir nichts an, dir gehört die Hanne, laß diese sitzen, wo sie sitzen!"—"Was? Ihr habt mir nichts zu befehlen, ich kann hingehen, wohin ich will und Ihr, wohin Ihr wollt!"

Mit diesen Worten kehrt der Benedict den Rücken und zu der Linde zurück, wo Mädlen der schwarzen Schwitt einsilbig beisammensitzen und kein Lied anstimmen.

"Guten, guten Abend, ihr Lieben! Was macht ihr Lieben?"—"Ach, was machen wir! ... was denkst du aber auch! ... laß jetzt den Karren rennen, wohin er rennt!"—"Was sagt denn die Margareth?"—"Ach, was sagt sie! ... was wir halt auch sagen, daß Solches kein Mensch von dir geglaubt hätte! ... wo bist denn gewesen die ganze Zeit?"—"Weiß es selber nicht!" "Bleibst jetzt wieder da?"—"Dableiben? bei wem?"—"He, bei wem? bei deinen Leuten!"— "Heute und morgen noch nicht!"—"Ach, thue es doch der Margareth und uns zu lieb und folge deinen Leuten!"—"Der Margareth? Wißt Ihr nicht, daß sie mir den Abschied gegeben hat? daß ich jetzt ein Rothschwitter bin und die Hanne meine Herzige ist?"—Die Mädchen bleiben stumm, einige fahren mit der Schürze über die Augen, andere weinen laut.

"Wenn Ihr zu der Margareth kommt, so sagt ihr, sie habe mich zum Herrn in´s Brandpeterles Haus gemacht, gute Nacht!" sagt der Benedict mit bebender Stimme, ein ingrimmiger Schmerz wühlt in seinem Herzen und droht ihn zu erwürgen, er vermag kaum das "gute Nacht" noch herauszubringen, kehrt sich ab und geht. "Benedict höre, ich muß dir noch Etwas sagen!" ruft ihm die Susanne nach.—"Was weißt noch?" fragt er mit unsicherer Stimme.— "Ich wills dir allein sagen!"—"Gut, Susanne, ich komme noch einmal zu dir heute Abend!"

Um 11 Uhr klopft Einer am Kammerfensterlein der Susanne, diese öffnet und der Benedict fragt, was sie ihm denn zu sagen habe.

Dieses schwache, einfältige Mädchen sagt in einer stundenlangen Rede Alles, was Verstand, Ehre, Rechtschaffenheit und Gottesfurcht dem Zuhörer zu sagen vermochten; jedes ihrer Worte dringt tief, schmerzlich tief in seine Seele, sie fühlt, wie seine Hand in der ihrigen bebt und nimmermehr würde die Predigt des begeistertsten Kanzelredners, nimmermehr die Thränen der Mutter solch erschütternden Eindruck auf ihn gemacht haben, wie die Rede des einfachen Bauernmädchens, in dessen unansehnlichem Körper eine edle, herrliche Seele wohnte.

Stumm hört er die Susanne an, zuletzt schließt diese mit den Worten. "Wir Mädlen sind alle bei deiner Mutter gewesen und sie hat uns versprochen, dir solle nicht das geringste Leid widerfahren, wenn du nur ihr und dem Vater wieder folgen wollest! ... Jetzt sage mir was du thun willst!"

"Liebe Susann, ich kann nicht mehr hier bleiben, ich bin vom ganzen Dorfe verachtet!" meint der Benedict düster.

"Nein, du bist nicht verachtet, Alle haben Mitleid mit dir und von dem, was deine Mutter der Margareth, gesagt hat, wissen nur wir vier: ich, das Besele, die Marzell' und die Margareth! Wir haben nirgends ein Wörtlein gesagt und werden keines sagen, du weißt, daß wir dir treu sind!"

"Aber die Margareth?"

"Auch sie vergißt dir Alles und ist nicht mehr böse, wenn du jetzt folgen willst! ... Sie ist die ganze Zeit nicht aus dem Hause gekommen, hat nur geweint und wenn du noch jetzt zu ihr gehst, wird sie dir das Nämliche sagen, wie ich!"

Verzweiflungsvoll starrt der Benedict zu Boden und schweigt, die Susanne bittet noch einmal, Besserung zu versprechen und ermahnt ihn jetzt heimzugehen und wieder redlich zu werden, sie wolle immer für ihn beten.

"Susanne, ich will dir folgen, will heute Nacht noch heimgehen und meine Leute um Verzeihung bitten, aber—es nützt nichts, es ist zu spät! ... Gott behüte dich liebe Freundin!"

Verzweiflungsvoll schaut der Benedict zum sternenreichen Nachthimmel empor, wischt zwei große Thränen ab und geht, geht jedoch nicht heim, sondern zuerst vor das Kammerfensterlein des Besele, dann vor das der Marzell, hört bei Beiden dasselbe, was die Susanne gesagt und pöpperlet mit bangem klopfenden Herzen endlich noch bei der Margareth an.

Diese benimmt sich ganz so, wie ihre besten Freundinnen es vorausgesagt haben, versöhnt sich mit ihm und schließt ihre Predigt also:

"Wie oft, wie oft, Benedict, hat das schneeweiße Bäbele selig von dir gesagt, es sei nicht alles Gold, was glänze! ... Sei aber fortan jetzt brav und redlich, ich bitte dich um Gotteswillen, Allerliebster! ... Denk´ jetzt an unsern Herrgott, bete und arbeite, wie dein Vater, der brave Jacob sagt und thut! ... Laß solche Sachen bleiben, dadurch wird kein Mensch glücklich, wie du ja selbst schon oft gesagt hast!"

Schon bricht der Tag an, die Schwalben zwitschern, es ist Zeit, den Marktkorb endlich zu holen, er geht heim, Vater und Mutter sprechen mit ihm, als ob gar nichts vorgefallen wäre, Benedicts Entschluß zur Besserung steht fest, ist aufrichtig, aber—zu spät!

Drei Tage früher und der Duckmäuser hätte wohl den armen, stets verachteten, ungeliebten und durch die Lieblosigkeit der Menschen zumeist verderbten Zuckerhannes niemals kennen lernen!

Wunderbar ist die Macht, welche von einer unschuldigen, tugendhaften, christlich gesinnten Jungfrau nicht nur auf das Gemüth eines unverderbten, sondern auch eines verderbten, ja lasterhaften Jünglings ausgeübt wird. Die hohe Verehrung, welche ächte Katholiken der Jungfrau Maria zollen, wurzelt im tiefsten Geheimniß des menschlichen Herzens und wer die Liebe der jungfräulichen Mutter nicht versteht, lernt nur schwer die Liebe des Gottessohnes zum Menschengeschlechte verstehen. Ein Verächter Marias ist gewöhnlich ein schlechter oder mindestens sehr befangener Christ und wer die Jungfrauen nicht achtet, ein roher und noch häufiger ein schlechter Mensch. Schade, daß heutzutage christlich gesinnte Jungfrauen nicht häufiger sind! Hat Satan nicht zuerst die Eva und dann erst, als diese gesündigt hatte, durch sie den Adam verführt? Hat die Susanne, welche noch lebt und über den universellen Sieg der rothen Schwitt im Dörflein trauert, nicht den grenzenlosen Leichtsinn und tief eingewurzelten Hochmuth des Benedict in Einer Stunde gebrochen? Wie wäre er sonst unter das Fensterlein der Margareth und nach Hause gekommen? ... Mit dem Marktkorbe auf dem Kopfe wandert Benedict wiederum der Stadt zu, zuerst holt ihn das Besele, dann die Marzell und zuletzt auch die Susanne auf dem Wege ein, alle drei sprechen leise und angelegentlich mit ihm und stumm hört er ihre Reden an, antwortet zuweilen nur mit einem schmerzlichen: Ach, ich!—

Die "Alltagsmarktweiber" des Wochenmarktes stecken ihre Köpfe zusammen und verwundern sich ebenso sehr über die fremdgewordene Erscheinung des Benedict als über das nachdenkliche Gesicht und zerstreute Wesen desselben, denn heute bringt er auch nicht einen seiner sonstigen Marktwitze und fröhlichen Späße vor.

Auf dem Wege waren ihm noch früher als das Besele drei Gensdarmen begegnet; diese gingen seinem Dörflein zu, ein schwüles, banges, unheimlichem Ahnen erfüllte seine Seele, er sah immer nur die drei Gensdarmen, welche dem Hause seiner Eltern zugingen und hörte nur immer, wie dieselben nach ihm fragten!

Er verkaufte den Marktkram und ging dann in die Apotheke, um Arznei für sein krankes Brüderlein zu holen. Ihm folgt jedoch einer der drei fatalen Gensdarmen und als Beweis, daß derselbe bereits wieder aus dem Dörflein komme, folgt auch der kleinere Bruder, der Hannesle deutet bleich und zitternd auf den Aeltesten und sagt: das ist unser Benedict! ... Der Hannesle wartet auf die Arznei, der Verhaftete übergibt demselben den Korb sammt dem Marktgelde und wird vom Gensdarmen in das Amtsgefängniß geführt. Man fand nicht mehr bei ihm, was man suchte, doch er dachte an die verflossene Nacht, gestand seine ganze Schuld dem Assessor, welchem er vorgeführt wurde und kehrte noch am Abend desselben Tages in sein Dörflein zurück.

Der Jacob schmierte gerade ein Pflugrad, als er seinen Ungerathenen kommen sah, eilte zum Hause, stellte sich neben die Theres und beide erklärten einstimmig, er habe kein Elternhaus mehr, sei für immer von ihnen verstoßen und sie wollten vergessen, jemals einen Sohn gehabt zu haben, der Benedict heiße.

Diese furchtbare Erklärung brachte den Duckmäuser nicht außer sich, er behauptete, derjenige gar nicht zu sein, welchen die 3 Gensdarmen gesucht hätten; seine Unschuld sei gleich erkannt und deßhalb sei er auch gleich wieder freigelassen worden nach dem ersten Verhöre. Auf solche Weise erschlich er den Eintritt ins Elternhaus.

Viele Bewohner des Dörfleins jedoch glaubten nicht an seine Unschuld, bürdeten ihm zehnmal mehr auf, als er jemals gethan hatte und so wenig sich die Mehrzahl scheute, Ehre zu geben wem Ehre gebührt, so wenig scheute sich dieselbe, ihren Argwohn und ihre Verachtung dem Benedict ins Gesicht hinein zu werfen.

Als ihm die Mutter ebenfalls den Markt und die häuslichen Arbeiten abnahm und dem Gregor übergab, zugleich nirgends einen Schlüssel mehr stecken ließ, wo etwas zu holen war, da entleidete dem Benedict das Leben im Elternhause und er wäre fortgegangen, wenn die Mädchen ihm nicht in dieser Zeit Proben wahrer Freundschaft und Liebe gegeben hätten. Diese scheuten weder Muthmaßungen noch Sticheleien und böse Nachreden, theilten ruhig und freudig seine Verachtung, gingen offen mit ihm um, kamen zur Mutter Theres, um diese zu trösten, zu beruhigen und derselben eine freudenvollere Zukunft zu versprechen, insofern solche von ihrem Aeltesten abhänge. Der Duckmäuser hatte die arglosen, unschuldigen Mädchen leicht von seiner Schuldlosigkeit überzeugt und sie glaubten an seinen guten Willen zur Besserung. Er hielt sich möglichst fern von den Leuten, seufzte im Stillen, denn Ruhe blieb seinem Herzen fremd. Böses erwiederte er nicht mit Bösem, nahm Alles in Demuth hin, betete viel und nach einiger Zeit gab es auch Stunden, wo er selbst an eine bessere Zukunft glaubte. Was thut, hofft, fürchtet ein junger Mensch nicht in arger Bedrängniß?

Die treuen Mädchen, welche zur altmodischen Schwitt gehörten, standen mit ihrer Treue vereinzelt, denn die meisten Buben und Mädlen ihrer Parthei hielten das stille, ruhige, demüthige Benehmen des außer Kredit gekommenen Oberhauptes meist nur für einen Akt neuer Verstellung. Dagegen begegnete die rothe Schwitt dem Duckmäuser so freundlich, zuvorkommend und wohlwollend wie noch nie, denn sie glaubte, jetzt oder nie sei der rechte Augenblick da, um ihn ganz an sie zu fesseln.

"Wie lange werden die treuen Mädchen der alten Schwitt noch zu dir halten? Wie lange wird es dauern, bis der letzte und ärgste Schlag im Hause geschieht? Bis du von den Besten unter den Guten verachtet, verlassen, aus dem Elternhause verstoßen sein wirst? Sind dann alle Deine Anstrengungen nicht vergeblich gewesen? Sei pfiffig, Benedict, bei der rothen Schwitt winkt Freude und Genuß, gerade jetzt ist es die rechte Zeit zum festen Anschluß an dieselbe! Leben die Buben und Mägdlein der rothen Schwitt nicht auch im heimathlichen Dörflein? Haben sie nicht ihre Eltern hier, Verwandte und Gesinnungsgenossen genug in den umliegenden Dörfern? Stelle dich an die Spitze der rothen Schwitt, mache das Leben derselben zur Mode, dann wird die allgemeine Verachtung aufhören, sie muß aufhören!" Also flüstert in bangen, schlaflosen Nächten der Versucher dem Benedict ins Herz, mächtig kämpft die Erinnerung an die Nacht des Fensterleins, mit letzter Kraft die Liebe zur Margareth und deren Freundinnen gegen jene Stimme an—er erlebte grausam qualvolle Stunden, der unglückliche Duckmäuser! ... "Fort, fort von hier, das ist meine einzige Rettung!" sagt er an einem Sonntagmorgen zu sich selbst und geht.

Nach der Vesper steht er jedoch mit dem Willibald, der ihn eine Stunde vom Dörflein traf und zur Umkehr bewog, unter der Linde und sein letztes Wort heißt: Ihr dürft auf mich zählen, Willibald, ich komme bestimmt!

Nach dem Abendessen schleicht er ohne Wamms und Kappe zur Thüre hinaus in den Garten; hier hängt Wamms und Kappe an einem Rosenstocke, er zieht sich an, setzt die Kappe recht aufs linke Ohr und nach einigen Minuten steht er in der Mitte der rothen Schwitt, welche insgesammt im Hauptquartier beim Brandpeterle sitzt und ihn jubelnd bewillkommt.

Die Hanne mit glühenden Bäcklein holt sogleich einen Hafen voll vom Alten, ihre Mutter überreicht ihm die Schlüssel zum Keller und zum Speicher, zur Fleischkammer und zum Geldkasten, erklärt ihn zu ihrem Eidam und spricht:

"Hab's schon oft der Hanne gesagt, sag's täglich, Dich und sonst keinen Andern will ich im Haus haben, denn Keiner ist im ganzen Revier, der dir gleicht! ... Hast ganz Recht gehabt, ganz Recht gehabt, wenn du nur einen ganzen Maltersack voll, Maltersack voll bei so einem reichen Geizhals erwischt hättest! ... Man muß nicht so dumm sein, nicht so dumm sein, wenn man dazu kommen kann! ... Ich hab' eben lauter Esel, der Sepp, der Sepp, er muß bei dir lernen!"

Toll und bunt geht es zu beim Brandpeterle, die rothe Schwitt rast vor Freuden über das neue Oberhaupt, selbst der Max hat allen Groll vergessen, doch schon um halb neun steht der Benedict auf, um fortzugehen.

Alle erklären sich dagegen, er bleibt fest und die Alte meint: "Was, du willst fort? fort von deiner Schwiegermutter? Willst halt noch zu deiner Schläferin, gelt? ... Möcht' nur auch wissen, was du denkst! ... Du der lustigste Bueb im Dorf, im Dorf, magst mit einem so todten Mädle gehen, wie die Margreth eines ist, während die vornehmsten Mädlen, wie meine Hanne, die Hanne dort, die Finger nach dir lecken!"

Vergeblich jedoch beschwört die Schwiegermutter den Eidam zum Dableiben, vergeblich ruft sie:

"Hanne, schenke ihm ein, er darf nicht fort! ... Du behälst ihn bei dir heute Nacht und wenn seine fromme Mutter auch allen Heiligen die Füße abrutscht!"

Doch der Duckmäuser geht, findet die fromme Mutter mit seinen treuen Freundinnen auf der Staffel des Hauses sitzend; sie fragen ihn, wo er gewesen sei, er gibt eine ausweichende Antwort, doch die Dasitzenden errathen die Wahrheit, ohne ihren Gedanken zu offenbaren, er redet wenig und legt sich bald zu Bette.

Von nun an schwankt er haltlos hin und her, nirgends hat er sein Bleiben, auch bei der rothen Schwitt bleibt er nie lange und kommt nur, wenn er die bösen Geister, welche ihn plagen, im Wein und bei der Hanne ersäufen will, sucht dann in der Hölle Ruhe und Frieden und findet stets das Gegentheil davon.

Der Mutter und den treuen Mädlen entgeht seine Haltlosigkeit nicht, sie bieten alle Macht ihrer Zärtlichkeit und Liebe auf und bringen ihn wirklich dazu, das Haus des Brandpeterle zu meiden, der Hanne und der ganzen rothen Schwitt mit Verachtung entgegen zu kommen. Aus dem leichtsinnigen Benedict scheint ein ernster, rechtschaffener Mann werden zu wollen, die Mutter und die Margareth glauben ihren Herzkäfer Gott und der Tugend gerettet zu haben, doch an einem Freitag Morgen tritt ein Zweifarbiger, nämlich der Amtsdiener in die Stube und meldet, der Benedict habe morgen früh um 9 Uhr vor Amt zu erscheinen.

Derselbe stand gerade beim Hirzenwirth im Taglohn, erfuhr von der Einladung nichts, bis er Abends spät nach Hause kam.

Da geht das Donnerwetter los, die Eltern meinten, er habe wieder irgendwo einen schlechten Streich gemacht und es fehlte nicht viel, so würden sie ihn noch in dieser Nacht fortgejagt haben.

Mit bangem Herzen geht der Duckmäuser am folgenden Morgen vor Amt in die Stadt und macht den Rückweg erst wieder nach vier Wochen, weil der Gefängnißwärter nichts vom Heimgehen wissen will, bevor die Strafe erstanden sei.

Während dieser Zeit saß die Mutter oft gar traurig und niedergeschlagen am Abend mit der Margareth, dem Vefele, der Marzell und der Susanne auf den Staffeln und gegen alle Tröstungen unzugänglich, sagte sie hundertmal:

"Er hört nicht auf zu lügen, hierin liegt der sicherste Beweis, daß er sich nicht ändern will! Er hat über unser Haus jetzt eine Schmach gebracht, welche nie wieder hinwegkommt, so lange er darin ist, darum soll er auch nie wieder in dieses Haus treten, wenigstens so lange ich am Leben bin!"

Die Mädchen meinten, Benedicts Strafe sei ja nur eine Folge des gewiß abgelegten Leichtsinnes, die Mutter habe ihm nach der Rückkehr von der mehrtägigen Wanderung Alles verziehen und dürfe also nicht so hart sein, wenn sie gerecht handeln wolle, doch Alles half nichts und wenn Theres nichts mehr zu erwidern wußte, begann sie zu seufzen oder zu schimpfen.

An einem Mittwoch Morgen kommt der Benedict durch den Garten auf das Haus zu und steht auf der Schwelle der Hinterthüre; die Mutter stand am Heerde, jetzt wendet sie sich um, ihre Augen sprühen Feuer, sie eilt ihm entgegen und ehe er sich's versieht, spritzt das Blut aus einer Wunde an der Stirn und dann schlägt sie die Thüre vor ihm zu mit den vernichtenden Worten:

"Du, Galgenstrick, kommst nimmer über die Schwelle dieses Hauses, so lange ich noch schnaufe! Wirst genug haben an diesem Willkomm, kannst damit hingehen, wohin du willst, mich aber nenne nie mehr deine Mutter!"

Sie hat ihrem Sohne den Abschied mit einem scharfkantigen Holzscheite gegeben und er wird die Spuren der Wunde inwendig und auswendig ins Grab nehmen.—

Junges Glück und alter Hochmuth.

Es gibt nichts Lieblicheres und Wohltuenderes als die sonnenreichen, milden Tage, welche von Maria Geburt bis Allerheiligen und manchmal bis in den Dezember hinein der Herbst in das badische Land bringt. Oft schaut der Schnee von den höchsten Bergen des Schwarzwaldes dem paradiesischen Frühling und Sommer des Rheinthales tief ins Auge und der Blick in die Schweizeralpen gibt ihm Muth zum Dableiben und muß er sich endlich in die schattenreichsten Klüfte flüchten, zuletzt auch diese Schlupfwinkel meiden und als neutrales Gebiet zurücklassen, wo weder der Winter noch der Sommer herrscht und nur der Frühling sein neckisches Knabenspiel ein bischen treibt, so kehrt der Winter von seinem Besuche bei den Schweizerbergen doch frühzeitig wieder zurück und versucht es, seinen Schneemantel wieder über die Höhen des Schwarzwaldes zu werfen. Entdeckt der September einige Zipfel des Schneemantels, so lacht er darob und jagt den Winter mindestens in seine Klüfte mit einer etwas stark verbrauchten Sonnenstrahlenruthe zurück; der Oktober lacht auch noch, doch heult, lärmt und weint er immer mehr dazwischen, denn der Winter redet von seinen Burgen herab schon ein ernsthafteres Wörtlein und sendet wohl zuweilen seinen Spion, den Frost in das Land des Herbstes; dieser gibt den Gedanken an Eroberung der Burgen immer mehr auf, begnügt sich, in den stillen, heimlichen Thälern des Schwarzwaldes am Tage herumzuwandern und bekommt endlich genug zu thun, um sich den vom Gebirge herabstürzenden Vortrab des Winters vom Leibe zu halten; wenn der November endlich auf den Kampfplatz tritt, mit seinem wahren Diplomatengewissen und ebenso geneigt, mit dem Sommer und dem Winter zu unterhandeln und beide an der Nase herumzuführen, so schaut dieser manchmal griesgrämig und finster drein, wenn ihm der Oktober keinen guten Neuen credenzt und tüchtig einschenkt. Ist der Wein gut und ein bischen viel, dann bringts der November wohl noch dem Dezember zu und mehr als ein sonnenhelles Lächeln zuckt über das kahle, verwitterte Gesicht des sonst so kalten und menschenfeindlichen Alten, er lüftet wohl seinen Schneemantel oder schlendert denselben lustig auf die Schwarzwälderberge zurück und stirbt als treuloser Knecht des Winters in der süßen Trunkenheit, welche der Oktober, ein rüstiger lebensfroher Fünfziger und der grauwerdende November mit seinem abgelebten Intriguantengesichte über ihn gebracht haben.

Am Tage, an welchem der Duckmäuser mit blutiger Stirn und blutendem Herzen dem Elternhaufe den Rücken kehren mußte, hatte der Oktober just scharfe Händel mit dem Winter bekommen, denn jener hatte den Schneemantel des letztern bereits auf den mittlern Bergen entdeckt und fürchtete für seine Vorhügel, wo der Wein noch vollends anszukochen war; beide lärmten und tobten, daß alle Bäume Reißaus nehmen wollten und weinten vor Zorn und Wuth, daß die Mutter Erde ob dem Verderben ihres zersetzten Unterrockes auch plätschernd schimpfte und kein trockener Faden an unserm Wanderer blieb.

Seine Werktagskleider hatte der Benedict im Thurme ein bischen stark abgerutscht, war neben andern auch mit Flickergedanken heimgegangen, jetzt besaß er nichts auf der weiten Welt, denn zerrissene Kleider, ein zerrissenes Herz und einen magern Geldbeutel, und weil er doch nicht wußte, wohin er sollte, ließ er sich vom Sturm auf's Gerathewohl vorwärts treiben und trunken von Schmerz, gleichgültig gegen das Leben, fühlt er wenig vom wilden Kampfe der Jahreszeiten und noch weniger von Hunger und Durst.

Würde ihm ein Gensdarme begegnen, so würde er nichts sagen über Wer, Woher und Wohin und ließe sich geduldig in irgend ein Gefängniß führen.

Gegen Abend kommt er in ein fremdes Dorf und der Leuenwirth nimmt ihn auf, weil er demselben einiges Geld zeigen kann. Er ißt und trinkt wenig, weint jedoch viele bittere Thränen in sein Kopfkissen, weils ihm wird, als ob die Margareth, das Vefele, die Susanne sammt der Marzell in der Kammer wären und gar wehmüthig und traurig in das Bett des Verstoßenen hineinschauten, der nicht einmal Abschied von diesen lieben Seelen genommen hatte. Er weint und betet, redet im unsäglichen Wehe mit sich selber, da fährt ein Gedanke durch seine Seele, wie ein falber Blitz durch die stürmische Wetternacht.

Lebt nicht einige Stunden von hier, in einem Dorfe in der Nähe des Rheines ein alter, guter Freund? Ist dieser Freund nicht wohlbestallter Schweinehirt seines Dorfes? Braucht ein solcher nicht einen Knecht, wenn die Zahl der unartigen, grunzenden Pflegebefohlenen ein bischen groß ist? Heißt der Freund nicht auch Mathes, wie neben dem Gregor der beste Freund, welchen der Benedict bei der schwarzen Schwitt besaß? Ist jener Mathes kein "göttlicher Sauhirte", so ist er doch ein gutmüthiger, lustiger Kamerad und ein Musikant dazu. Wie oft ließ er den Brummbaß schnurren an Kirchweihen und an der Fastnacht, bei Hochzeiten und sogar bei einigen Festen der schwarzen Schwitt und saß er nicht auf der Musikantenbank in der Nähe des Benedict, wenn dieser mit seiner Klarinette die schönsten Walzer und Hopser in den Tumult und in die Staubwolke des Tanzsaales hineinblies? Hatte er nicht manches Glas mit dem Benedict getrunken, diesen seinen "Herzgepoppelten" genannt, ihm von den Freuden des einsamen, stillen Waldes und des Lebens unter den Schweinen erzählt? Kannte der Mathes nicht die Margareth und die Marzelle und Alle, welche dem Duckmäuser jemals lieb und werth gewesen? Wo sollte in dieser Zeit sonst ein Plätzlein gefunden werden, wo der verstoßene Bueb überwintern konnte?

Ganz beruhigt schläft Benedict ein, erwacht sehr frühe und lauscht, bis ein Getrabe im Wirthshause entsteht, darf nicht lange darauf warten, läßt sich den Weg ein bischen sagen und dieser ist nicht schwer aufzufinden. Die Sterne stehen noch über den finstern Höhen des Gebirges, als er sich auf den Weg macht und es wird nicht Mittag, so findet der Benedict den schweinetreibenden Mathes mitten unter seiner Heerde im Eichwald.

Der Hirtenhund des Mathes würdigt den Gast keines Blickes, denn er erkennt in demselben kein rechtes Schwein und was nicht Schwein heißt, existirt für ihn gar nicht auf dieser Welt; dagegen hört der Trüffelhund des Mathes mit Scharren auf, bellt lustig und rennt dem Ankömmling entgegen, sein Herr thut dasselbe und nach 3 Minuten weiß der Benedict, daß er zu keiner gelegneren Zeit hätte kommen können.

Der Mathes erkennt im Unglücke des Freundes eine Schickung des Himmels, welcher sich auch eines geplagten Schweinehirten erbarmt; gerade gestern ist der Knecht entlaufen, "'s war ein Ueberrheiner, ein Spitzbube", sagt der Hirt und installirt sofort durch Ueberreichung des Hörnleins den Benedict als neuen Knecht.

Wie der schmucke Benedict, der trotz des armseligen Gewandes ein hübscher Bursche blieb und durch das Tuch um den Kopf etwas Rührendes und Malerisches gewann, am andern Morgen mit seinem Horn die Ringelschwänze des Rheindorfes zusammenbläst, grüßt ihn von manchem Hofthor herüber manch liebliches und freundliches Gesicht, und es kommt ihm vor, die Leute seien hier wohl besser als daheim im Dörflein.

An den letzten Häusern bläst er noch einmal recht herzhaft und freudig und wäre das Hörnlein eine Klapptrompete gewesen, so würde er in langgezogenen Tönen und raschen Tonläufen der neuen Heimath einen feierlichen und jubelnden Morgengruß zugeblasen haben. Jetzt treibt ein gar reinlich gekleidetes und nettes Mädle mit brennend schwarzen Augen, zarten rothen Wangen und freundlichem Munde ein Mutterschwein sammt drei Ferkeln zur grunzenden Armee, blickt auf, steht wie versteinert, geht auf den Benedict zu, nennt ihn beim Namen, faßt dessen Hand, begrüßt ihn als Freund und ladet ihn dringend ein, doch so bald als möglich in ihr Haus zu kommen.

Gewiß hat noch kein Feldherr sein siegreiches Heer mit seligeren Empfindungen in die Heimath zurückgeführt, als jetzt der Duckmäuser seine Ringelschwänzlein zum Walde trieb.

Er hat Brod, hat einen Freund, hat eine liebe Freundin, was will der Mensch mehr? Bis zum Abend muß er im Walde bleiben, der Mathes ist ein kurzweiliger Gesell, doch von zarten Gefühlen und schwärmerischen Empfindungen versteht er nichts, dem Knechte kommt es vor, als ob der kurze, trübe Oktobertag mit seinen dampfenden Bergwäldern ein endloser Junitag voll Blüthenduft und Sonnenlicht und herrlicher, doch gar zu langsam reifender Früchte sei und kaum sind seine Pflegebefohlenen freudig grunzend und lustig schreiend heimgesprungen, kaum sind die letzten von den Bäuerinnen unten im Dorfe in die Ställe gelockt worden, so steht der Benedict vor der Schulkamerädin und Landsmännin, der freundlichen Rosa; ihr Pflegevater, der alte Straßenbasche, ein ehemaliger Unteroffizier, jetzt ein zufriedener Bauer und fleißiger Straßenknecht dazu, ladet ihn zum Nachtessen ein und die Pflegmutter springt fort, um bei der Scheckenbäurin drüben die versprochenen Trauben und beim Adlerwirth eine Flasche Ueberrheiner zu holen.—Lange Jahre haben sich Rosa und Benedict nicht mehr gesehen; sie kam fort, ehe die beiden Schwitten im Werden waren und ihre Geschichte ist eine in jeder Hinsicht zu wahrhaftige Dorfgeschichte, die Rosa spielt fortan eine zu erhebliche Rolle, als daß wir nichts Näheres erzählen sollten.

Rosas Eltern wohnten einst nicht weit vom Schulhause, in welchem der Benedict als Unterlehrer und als "der Leichtsinnigste von Allen" Knabenlorbeern pflückte. Sie liebte den Unterlehrer, denn er sagte auch ihr ein, machte auch ihre Aufsätze, beschützte auch sie beim Schuckballen und Ziehen auf der Wiese gegen den Unverstand und die Rohheit des Max, Willibald und anderer gar früh keimender Lümmel der rothen Schwitt, welche Freude daran fanden, die Mädchen zu necken, zum Weinen zu bringen, ihre Kleider zu zerreißen und in den Kinderhimmel derselben hineinzubengeln, bis sie sich schüchtern mit Zusehen begnügten oder schreiend heimsprangen. Die Freundlichkeit, Güte und Liebe des starken Benedict gegen die schwachen Mädlen war auch der Rosa unvergeßlich geblieben, deren Geschick sich minder freundlich gestaltete, als das der Kameradinnen, so daß sie ohne Gottes besondern Schutz leicht ein weiblicher Zuckerhannes hätte werden mögen, deren es jährlich mehr im Badischen wie anderwärts gibt. Rosas Eltern waren weder reiche noch arme, sondern mittelbegüterte, dabei grundehrliche, gottesfürchtige Leute vom alten Schlage.

War Benedicts Vater ein bischen zu finster und in Geldangelegenheiten oft karg und hart, so war der Vater Rosas fast zu leutselig, zu gut und barmherzig, schenkte Jedem gleich sein Zutrauen und litt an der Schwachheit, niemals eine Bitte abschlagen zu können, wo das Helfen irgendwie in seiner Macht stand.

Kommt eines Tages ein naher Vetter zum Klaus, wie Rosas Vater hieß, der überall der "ehrliche Klaus" genannt wurde und dessen Wort mehr galt als heutzutage doppelte gerichtliche Versicherung; der Vetter aber klagte erbärmlich, denn er hat Schulden, die Gläubiger wollen entweder bezahlt sein oder einen guten Bürgen haben. Klaus redet mit seiner Alten, leistet richtig Bürgschaft und sein bloßes Versprechen, im Nothfalle Selbstzahler werden zu wollen, beruhigte und befriedigt die Gläubiger des Vetters. Dieser jedoch gehört zu den vielen gewissenlosen Schuften, die gar stolz und eingebildet im Bauernrock und Herrenmantel an Zuchthäusern vorüberwandeln und sich darüber freuen, daß man in der Welt gemeiniglich nur die kleinen Spitzbuben hängt, die großen dagegen laufen läßt. Er benützt Klausens gutmüthige Schwachheit noch weiter, nimmt auf dessen Bürgschaft hin ein ordentliches Kapital auf, macht im Stillen Haus und Hof zu Geld und eines schönen Morgens verschwindet er aus dem Dorfe und kommt nicht wieder; nach einigen Monaten wandern die Seinigen ihm nach und zwar nach Amerika, wo allmälig alle Spitzbuben und Schurken der Welt sich gerne ein Stelldichein geben und den ehrlichen Leuten das Spiel verderben.

Jetzt kommen einige Gläubiger des saubern Vetters zum Klaus, doch ihre Hoffnungen sind schwach, denn der Klaus ist kein reicher Mann, hat ein Weib und vier unschuldige, unerzogene Kindlein, zudem besitzen sie nicht Schwarz auf Weiß und das Ja, welches ehemals aus Klausens Lippen tönte, verhallt gewiß unter dem Nein aller Gründe, welche Klugheit, Selbstliebe und Pflichtgefühl eines Familienvaters einzugeben vermögen.

Einige Gläubiger klopfen gar nicht an, sie wollen den biedern, ehrlichen Mann nicht einmal durch eine Frage ängstigen.

Zu den Andern dagegen spricht der Mann wörtlich:

"Mit all dem Geld, für welches ich gutstand, könnte ich meine Ehre und die Reinheit meines Gewissens nicht erkaufen. Ich hab' Euch mein Wort gegeben und bin jetzt schuldig mein Wort zu halten, werde es thun, so gut ich's eben vermag!"

Einige Wochen später wird Klausens Häuslein sammt Allem, was darin und daran ist, versteigert; er hat deßhalb mit seiner Alten keinen Streit bekommen und mit ihr und den Kindlein beim Rindhofbauern, dem Fidele und allzuschwachen Vater des schlimmen Max, vorläufig ein Kämmerlein und Brod bekommen, doch am dritten Tage nach der Steigerung ist dem Klaus das Herz gebrochen, er legt sich ins Bett und stirbt nach wenigen Stunden, während er wörtlich also betet. Herr, du hast mich arm gemacht, darum komm' ich jetzt zu dir und übergebe dir die Sorge für mein Weib und meine Waislein!

Gott hat das Gebet erhört; acht Tage später bricht auch dem Weibe das Herz und sie folgt ihrem Klaus nach in ein Land, wo es keine Schuldgesetze, keine Bürgschaften und keine Versteigerungen gibt.

Jetzt werden die vier Kindlein verloost und getrennt, sind noch viel zu jung zum Arbeiten, das älteste zählt kaum 10 Jahre, das jüngste kaum einige Wochen. Die siebenjährige Rosa wandert in das Haus eines wegen seines Unverstandes und seiner Rohheit gefürchteten und berüchtigten reichen Hofbauern, der nur darauf sinnt, wie das Kind sein elendes Bettlein und die Dienstbotenkost mit Zinsen vergüten könne.

Rosa sollte noch lange zur Schule, doch täglich muß sie den schweren Milchkorb auf den Kopf nehmen und stundenweit in die Stadt marschiren, sobald der Morgen graut.

Bei uns fehlt der Schnee gar oft im Dezember und Januar; am Tage regnet's und in der Nacht gefrierts, so daß auf allen Wegen und noch mehr auf dem Straßenpflaster das Glatteis am Morgen die Wanderer zum Fallen bringt.

Ein Fehltritt, dann ist's geschehen und so ging es einmal dem Rosele, diesem schwachen Kinde; sein Fuß gleitete aus und der Milchkorb lag auf der Straße. Wie hat das Kind vor Angst und Schrecken gezittert und gebebt, als die Scherben der Milchtöpfe klapperten! Mit weinenden Augen schaut es zu, wie die bläuliche Milch in gefrorene Fußtapfen und Wagengeleise rinnt, fühlt schon den Seilstumpen sammt dem Farrenwedel des Pflegherrn auf dem Rücken, weiß nicht mehr, was es thut, liest endlich einige Kohlköpfe und Scherben zusammen, in welchen noch ein wenig Milch zurückblieb und läuft still weinend und schluchzend der Stadt zu.

Vom Korbe herab tröpfelt die Milch noch immer über das grüne Biberkleidlein und das Kind sieht bald aus, als ob es einmal Milch geregnet habe, in seiner Todesangst hat es die Sache erst auf dem Wochenmarkte wahrgenommen.

Hier begegnet es seinem ehemaligen Unterlehrer, dem Benedict, denn der Hofbauer, bei welchem Rosa lebt, wohnt nicht im Dörflein, sondern gehört nur noch zur Gemeinde desselben. Beide sehen sich sonst blutwenig, jetzt aber sieht er seine alte Schülerin wieder und hört die schlimmen Prophezeiungen der Weiber, welche den unmenschlichen Hofbauern kennen. Benedicts Geheimkasse hinter dem großen Getüchtrog ist gerade in Floribus, er schenkt dem Rofele gerade so viel als es heimbringen soll, kauft dazu neue Milchtöpfe, tauscht dieselben gegen alte aus und weil ein Milchtopf ziemlich wie der andere aussieht, geht das vor Freuden weinende Mägdlein mit dem Gelde und der vollen Anzahl seiner Töpfe aus der Stadt getrost wieder heim.

Der Hofbauer erfuhr niemals etwas von der Milchgeschichte und das Rofele zählte zwölf Jahre, als es von dem Unmenschen erlöst und in demselben Rheindorfe beim Sraßenbasche ein Unterkommen fand, in welchem jetzt der verstoßene Duckmäuser als Knecht des "Saumathes" lebt.

Der Straßenbasche ist, wie gesagt, ein alter pensionirter Unteroffizier, hat in den napoleonischen Kriegen große und kleine Kugeln tausendweise summen, singen und pfeifen hören und brachte er es im Felde bei aller Pflichttreue und Tapferkeit nicht weiter als zum Sergeanten, so brachte er es im Frieden und in der Ehe nicht einmal zum Vater. Er war von Hause aus ein armer Teufel, doch sein ehemals fuchsrother Schnurrbart zündete ein Flämmlein im Herzen eines braven und bemittelten Mädchens an, sein grundehrliches, biederes Soldatenherz brannte schon vorher ein bischen, der Pfarrer schloß den altmodischen Dorfroman mit einer Trauung und beiden Leutchen fehlte bei ihrem christlichen, genügsamen und deßhalb sorgenfreien Leben nichts zum Glücke außer einem Kinde.

Gott, welcher den Seufzer des sterbenden Klaus gehört, lieferte dem Straßenbasche und dessen bravem Weibe das arme Rosele in Hände und Haus und vom zwölften Jahre ihres Alters lebte das Mädchen nicht als Magd, sondern als erklärte Tochter und künftige Erbin des ganzen Hauswesens beim Straßenbasche. Gar oft hatten die Pflegeeltern die Milchhafengeschichte gehört und mit der Erzählerin gewünscht, den edelmüthigen Helfer in der Noth kennen zu lernen, jetzt sitzt die seit sechs Jahren zur blühenden Jungfrau herangewachsene älteste Tochter des ehrlichen Klaus mit freudestrahlendem Gesichte dem Benedict gegenüber und dieser liest aus ihren Augen einen ganzen Himmel heraus.

Der Straßenbasche küßt wahrhaftig in seiner Begeisterung ob der Milchgeschichte die Hand des armen Gastes, er und seine Frau betrachten den Liebesdienst, als ob er ihnen erwiesen worden wäre, die Rosa hat heute wieder Alles lang und breit erzählt, der Benedict fängt bereits an stolz zu werden, doch plötzlich fängt die Rosa auch an, in Gegenwart der Pflegeeltern dem Staunenden alle Streiche, welche er daheim ausgeübt, von A bis Z herzuzählen; an jeden Streich knüpft sie sammt dem Straßenbasche gar zärtliche Mahnungen und liebreiche Warnungen und schließt endlich die lange Strafpredigt mit den Worten:

["]Ueberlege, Benedict, überlege nur, was ein Gottloser stiften kann. Du hast meine Eltern gekannt und weißt, daß wir Kinder noch glücklich in ihren Armen leben könnten, wenn nicht ein schlechter Mensch gemacht hätte, daß beide fast mit einander gesunden Leibes ins Grab sanken. Gott gebe ihnen ewige Ruhe und ihrem Mörder den Frieden, mir aber Segen, dich für die Rechtschaffenheit zu gewinnen. Meinst du, ich hätte dich und jenen Marktmorgen je vergessen? Einen leichtsinnigen Streich nach dem andern mußte ich von dir hören und das kränkte mich tief in die Seele hinein! ... Darfst es glauben!"

Sie konnte vor Weinen nicht mehr reden, dem Straßenbasche rannen auch die hellen Thränen in den halbrothen Bart, sein Weib, die weichherzige Klara schloß die fromme Pflegetochter in die Arme, küßte dieselbe und konnte nur die Worte hervorbringen: Oh Rosele, mein Kind, mein liebes Kind!

Regungslos hat der Duckmäuser bisher am Tische gesessen, jetzt steht er tief erschüttert auf, um die Hand der Schulkameradin zu küssen und feierlich zu geloben, ihr zu folgen, den Leichtsinn und Hochmuth von heute an ganz fahren zu lassen und ein Christ in Wahrheit zu werden.

Spät geht er vom Straßenbasche weg und dieser sammt der Klara haben ihm herrliche Aussichten in ein friedsames, ländliches Stillleben mit der Pflegetochter, ihrem einzigen Kinde gemacht, wenn er sich nur bessern wolle.

Der Benedict führte sich brav und klaglos auf. Er besaß keine Kleider außer den elenden Lumpen, mit welchen er gekommen war, getraute sich nicht, von seinen neuen Eltern bessere zu fordern, doch schon vor Neujahr war er vom Kopf bis zu den Füßen neu gekleidet, konnte vier nagelneue weiße Hemden aufzeigen, dazu einige Sechsbätzner, um der Rosa einen Neujahrskram zu kaufen und was das Vornehmste dabei war, er durfte sich zum erstenmal in seinem Leben sagen, nur auf ganz ehrlichem Wege zu all diesen Herrlichkeiten gekommen zu sein.

Den ganzen Tag war er mit dem Mathes im Walde bei der Armee; die viele freie Zeit benutzte er, um Birkenreiser zu schneiden und Besen daraus zu machen, die Besen aber sendete er auf den Markt. Einmal bekam er auch Gelegenheit, einem schönen Hasen, der mit offenen Augen hinter einem Pfriemenstocke schlief, das Peitschenholz zwischen die Löffel zu legen und verkaufe das kleine Vieh an den Adlerwirth. Wenn er Morgens seine Ringelschwänzlein zusammenblies, kam manchmal auch eine Bäurin und schenkte dem treuen, braven Hirten einige Kreuzer und zu all diesem kamen zwei Hochzeiten, wobei der "Saumathes" den Brummbaß wieder schnurren ließ, sein Knecht neben ihm die Klarinette blies, daß es fast die französischen Zollwächter drüben hörten.

Bei diesen Hochzeiten trank er auch wieder ein Schöpplein, doch keinen Rausch nach Musikantenart; vorher und nachher sah er das Innere einer Wirthsstube nicht bis zum Neujahrstage, wo er zum erstenmal mit seiner Rosa in den Adler hinüberging, der Straßenbasche mit der Klara kamen später auch, ein Freudlein in Ehren kann niemand verwehren!

Wie daheim, luden ihn die Leute unaufhörlich in ihre Kunkelstuben ein, doch er blieb weg, denn entweder hatte er mit seinen Besen zu thun oder er saß im stillen, frommen Kreise beim Straßenbasche. Noch in den letzten Tagen des alten Jahres bemerkte der Benedict beim Ausfahren, welche Augen und Geberden eine Katharin machte und wie sie mit Schauen, Grüßen und Reden nicht fertig werden will, am Neujahrstag sagt ihm im Adler die Tochter des Mathes: "Käther will Dir fünf Kronenthaler geben, wenn Du sie ins Wirthshaus nimmst!"—"Soll sie nur einem Andern geben, ich habe schon soviel, als ich und das Rösele brauchen!"—"Bist aber doch recht dumm, wenn mans so haben kann!"—"Laß mich dumm sein, Fränz, und bleibe Du gescheidt!"

Richtig sitzt er am Neujahr neben dem Rösele im Adler und die Wirthin hat ihn glücklich gepriesen, wiewohl das Pärlein den ganzen Abend nur zwei Flaschen Batzenvierer trank.

Hatte er doch in kurzer Zeit nicht nur die innige Liebe der alten Schulkameradin, sondern auch die volle Zuneigung des braven Basche und dessen Weibes errungen, war wohlgelitten bei Jung und Alt und verlebte hier die seligsten Tage seines Lebens!

Weil er in keine Kunkelstube ging, kamen allmählig und besonders nach Neujahr Buben und Mädlen, Weiber und Mannen zu ihm in die Behausung des "Saumathes," dessen Stube bald zu klein wurde, wenn der Knecht darin zu finden war.

Am Neujahr hätte dieser den Schweinhirtendienst aufgeben können und wurde arg von den Leuten im Adler geplagt, sich bei ihnen zu verdingen und der Basche selbst redet ihm scheinbar ernstlich zu, doch der Benedict meint: "Bah, bah, 's ist nichts; ein Wirthshaus, das wäre gerade der Platz für mich, um bald wieder in den alten Werktagshosen zu stecken!"—"Gelt, Du traust gewiß der Magd des Adlerwirths nicht?" lacht der Basche—"Nein, nein, ich traue mir nicht!" erwiederte der Benedict und gar wohlgefällig streicht der Alte den halbrothen Schnurrbart.

Schon seit jenem Tage, an welchem der Duckmäuser bei der ersten der beiden Hochzeiten, welche seit Oktober im Adler gehalten wurden, lief sich der blinde Michel fast die Füße aus dem Leib, weil er Klarinettblasen lernen wollte, der Vater desselben kam auch oft, bat inständig und machte große Versprechungen, doch Alles nützt nichts, denn der leiblich blinde Michel hat einen geistig blinden Vater und das Haus desselben ist gerade dasjenige, in welchem sich die Rothschwittler des Rheindorfes häufig sehen lassen. Zwar geht der Basche selbst zuweilen zum Nachbar hinüber, andere ehrbare Leute thun es auch, doch der Duckmäuser glaubt, Gelegenheit zu meiden sei mindestens für ihn das Ersprießlichste, die Leute, welche ihm in die Stube des "Saumathes" nachrennen, bringen ohnehin Anfechtungen und Versuchungen genug. Endlich bittet ihn das Rösele, sich des blinden Michels zu erbarmen und demselben in der Stube der Pflegeeltern das Klarinettblasen zu lehren und jetzt thut er es wirklich.

Als freundlicher, gefalliger, hübscher Bursche und Geschichtenerzähler steht der Duckmäuser längst in hohem Rufe, jetzt wird der Straßenbasche ob dem "musikalischen Scheine" desselben schier ein Narr und räth ihm eines Abends, zum Militär zu gehen und "Hobist" zu werden und meint, bis zum Kapellmeister könne er's leicht bringen. Dieses Wort zündete, denn Hobist zu werden, war einer seiner alten Jugendträume und der Gedanke an Erfüllung dieses Traumes ließ ihm Tag und Nacht keine Ruhe mehr.

Wem dies am wenigsten gefiel, war das Rösele und am dritten Abend, wo der Basche wieder vom Hobistwerden spricht und der Benedict sich streckt, als ob er just unters Maaß stehen wolle, meint sie. "Die Kasern' ist für den Benedict noch gefährlicher als der Adler, lieber will ich ihn zeitlebens beim Mathes sehen denn beim Regiment!"—Das heißt den alten Unteroffizier ein bischen an der Ehre angreifen und er sagt: "Wer liederlich sein und bleiben will, kanns bei der Sauheerd' so gut und wohl noch besser als beim Regiment; 's gibt schlechte, gottvergessene Sauhirten und brave gottesfürchtige Soldaten!"—"Wohl, doch kommt Alles auf die Anlage an, die Einer hat!"—"O närrisches Kind, gerade der Anlagen wegen sollte der Benedict Hobist werden; 's hat schon Mancher sein Glück beim Militär gemacht und er machts auch, das weiß ich zum Voraus!"—"Ja, wenn er nur lauter gute Anlagen hätt', doch hat er auch Anlagen, die bei den Soldaten reichlich ... ich will gar nichts weiter sagen!"—"Bist viel zu ängstlich, Rösele; bei den Soldaten ist eine Zucht, wo diese Anlagen, welche dir bange machen, zurückweichen müssen; haut er über die Schnur, mein! wie wird er da gezüchtiget! ... Übrigens ist er kein Spieler, kein Wirthshaushocker und Vieles Andere nicht, es läßt sich nur Gutes hoffen! ... Ich machte mir ein Gewissen daraus, gegen sein Glück zu sein!"—"O Vetter," sagt die Rosa sehr ernst und wehmüthig, "wenn der Benedict beim Regiment einmal gezüchtigt wird, dann ist's zu spät! ... er ist freilich kein Spieler und kein Wirthshaushocker, das ist wahr, doch ist er stolz, leichtsinnig und dabei der gute Jockel selbst, das habe ich als Kind auf dem Wochenmarkte schon erfahren!"—"Bah, baperlapap, unser Herrgott lebt auch noch!" meint der alte Unteroffizier und langt nach seinem Nasenwärmer, welcher unter der Tafel hängt, die seinen Abschied und das Dienstzeichen einrahmt.—"Ich will jetzt nichts mehr sagen, meint die Rosa, doch so lange ich ihn beim "Saumathes" sehe, habe ich für ihn gute Hoffnung, es ist der geeignetste Platz, um seine ... Anlagen niederzuhalten; dagegen gebe ich alle Hoffnung auf und spreche ihm alle Hoffnung ab, wenn er zu den Soldaten geht! ... Ihr werdet einmal an mich denken, Vetter!"

Schweigend hat der Duckmäuser Alles angehört; Rosas letzte Worte wirkten auf sein Herz, wie Hagelschlag in Blüthenwäldern, das Blut drang ihm zu Kopfe und er mußte sich Gewalt anthun, um seinen Unmuth nicht zu äußern. Beim Fortgehen begleitet ihn die Rosa hinaus und unter der Hausthüre fängt sie noch einmal von der Sache an.

Rösele wiederholt Alles, was sie drinnen gesagt hat, der Benedict entgegnet "Denk' doch auch an den Vetter, den Straßenbasche! Ist dieser nicht von früher Jugend bis ins gesetzte Alter Soldat gewesen und hat er Etwas zu bereuen?["]—"Wohl wahr, doch bevor er zu den Soldaten kam, hatte er auch nicht zu bereuen, was du bereuen mußt. Frag' ihn, ob er auch je so grenzenlos leichtsinnig gewesen sei, wie Du? Und ob er sich auch soviel eingebildet hat, wie Du? Wirst ganz andere Dinge hören, als man von Dir hören kann!"—"Hoh, Rösele, sei doch nicht so hart, was kannst Du mir denn seit Oktober vorwerfen und ist's nicht bald ein halbes Jahr?["]—"Liebster, ich sehe und höre wohl, daß Du der alte "Leichtsinn" noch bist und mit Gewalt deinen Leib und deine Seele verderben willst. Jetzt stehst Du auf deinem Eigenthum, in deinem eigenen Hause und dies so lange, als Du hier bleibst, wenn Du aber in eine Stadt gehst, dann" ...—"Dann nimmst einmal einen Andern statt meiner ins Haus, he?" fragt der Benedict etwas verhofft.—"Nein, ich nehme keinen Andern, aber ebenso wenig Dich, wenn Du nicht vom Regiment wegbleibst."—"Rösele, lieb Rösele, sei doch nicht so ängstlich, wirst sehen, daß ich halte, was ich Gott und Dir und deinen Leuten versprochen habe. Der Vater hat schon gesagt, ich komme hinüber nach Freiburg, dann kann ich gar oft zu Dir kommen und siehst doch lieber Einen mit dem Säbel an der Seite und dem Kriegshute auf dem Kopfe, als wenn ich immer und ewig mit der Geisel und dem Hörnle im Dorf und Wald bei den Sauen herumtrummle!"—"Ja gerade das ist's, was mir so bange macht; ich sehe wohl, daß Du dich des Dienstes beim Saumathis schämst und könntest Dich nicht schämen, wenn Du deine Umstände nur ein wenig zu Herzen nähmest!"— "Gute Nacht, lieb' Rösele, bleib mir nur treu und gut, dann wird Alles recht werden!"

In den letzten Tagen des Märzmonats wandert der Straßenbasche mit dem Benedict nach Freiburg; der Benedict kann die schöne große, vierstöckige Kaserne und die Offiziere, Unteroffiziere, Hobisten und Soldaten, welche blank und stolz aus dem Thore strömen, nicht genug anschauen; sein Herz bebt vor Freude und Bangigkeit, wie er mit seinem Begleiter die steinernen Stufen des der Kaserne gegenüber liegenden Kommandantenhauses hinaufsteigt.

Der Oberst verzieht das ernste Gesicht mit dem grauen Schnurrbarte zu einem freundlichen Lächeln, denn der Straßenbasche hat als Unteroffizier unter ihm gedient, die Beiden haben Pulver genug mit einander gerochen und kennen sich noch recht gut; wenn der Basche ein Geschäft in Freiburg hat, muß er zuweilen seinen ehemaligen Hauptmann heimsuchen, 's kostet dem jetzigen Obersten nur ein Schöpplein vom Guten und er läßt sich's gar gerne kosten.

Die Beiden werden also gar herablassend und freundlich empfangen, der Straßenbasche rapportirt, was ihm wegen des Duckmäusers auf dem Herzen liegt, der Oberst betrachtet den Rekruten und meint, die Sache habe gar keinen Anstand, wenn der Junge nur von den Aerzten für tauglich erklärt werde und ein gutes Sittenzeugniß aus seiner Heimath mitbringe.

Wie der arme Benedict vom Sittenzeugniß hört, werden alle Luftschlösser zu Wasser, das Herz fällt ihm in die Hosen, er bekommt so ziemlich den Knieschlotterer und weil der Straßenbasche auf dem Heimwege auch einen bedenklichen Kopf macht und die Neuerungen mit den Sittenzeugnissen verflucht, verliert der Rekrut fast alle Hoffnung, jemals in seinem Leben Hobist zu werden.

"Sechs Jährlein Soldatenstand machte den Benedict zu einem Prachtskerl für das Rösele, wenn er nur angenommen wird! Gottlob, daß der Oberst mein alter Kriegskamerad war!" sagt der Straßenbasche daheim und der Benedict muß gleich um ein Sittenzeugniß schreiben.

Wer sich ob der Betrübniß des Benedict am meisten freut, ist außer der Mutter Klara natürlich das Rösele, welches laut darüber jubelt, weil der Himmel bereits ihr Flehen erhört habe.

Am vorletzten Tag des Märzmonats sitzt die Rosa mit der Walburg und Lisi am Tische, sie nähen und spinnen und plaudern, die Mutter hat ihr altes Gliederreißen und ist gleich nach dem Nachtessen ins Bett gegangen, der Vater dagegen sitzt beim runden französischen Ofen, stopft den Nasenwärmer mit Dreimännerknaster, reicht dann das Päckle dem Benedict, dieser stopft seinen Mohrenkopf auch, zündet dann einen Fidibus an und hält ihn auf die Pfeife des Vaters. Der Straßenbasche thut jedoch gerade, was er allabendlich thut, nämlich er erzählt von seinen Feldzügen und diesmal von einem Gefechte in Spanien; statt tüchtig am Mundspitz zu ziehen, damit der Knaster anbrenne, erzählt er immer weiter, der Fidibus brennt beinahe ab und wie der Benedict daran erinnert, lacht der Straßenbasche und meint, ein Soldat müsse Feuer und Schwert ertragen können, sonst sei er ein Tropf. Auf dieses Wort hin hebt der Duckmäuser den eben weggeworfen flammenden Fidibus wieder auf, hält denselben wiederum auf den Nasenwärmer und zwischen den Fingern fest, bis er gänzlich verbrannt ist.

Die Mädlen am Tische lachen sich schier krank ob solcher "Dummheit" und die Rosa meint sehr offenherzig: "Wenn Dir nur die Finger abgebrannt wären, dann würdest Du froh sein, Sauhirt bleiben zu können! ... Vielleicht wär' es in anderm Betracht auch noch gut gewesen! ... was kann man sagen!"——

Der zweite Fidibus entzündet den Nasenwärmer des Straßenbasche und dieser beginnt, dem Benedict Verhaltungsregeln für den Militärstand herzuzählen, denn schon morgen muß der zweite und entscheidende Gang nach Freiburg gemacht werden, vielleicht liegt das Zeugniß des Rekruten bereits beim Kommando und—Probiren geht über Studiren.

Der Vater kommt eben recht in Zug, da meint das Rösele unwillig: "Das ist nichts, Vetter, Ihr braucht ihm nicht noch zu sagen, wie er sich zu verhalten habe! ... Wißt Ihr, was er braucht? ... er braucht Etwas, das hat niemand, niemand kann ihm's geben... er bleibt bei mir!"—

Der Duckmäuser wird Soldat, sucht und findet in der Kaserne Vorbilder

Am 31. März 183.——es war wiederum an einem Freitag, und Mittwoche mit Freitagen spielen im Leben unsers Helden eine merkwürdige Rolle—steht der Benedict im paradiesischen Zustande vor den Regimentsärzten der Freiburger Garnison und die Herren machen ein bischen seltsame Augen, Einer davon sagt den Grund: "Füße wie zwei Sicheln, Rücken wie das Grammische Bierkellergewölbe, vom Kinn bis zu den Knöcheln Eine Dicke, mein Gott, was soll denn aus dieser Figur gemacht werden?" ... "Wenn wir noch Einen dieser Art hätten, besäßen wir ein hübsches Gestell für die große Trommel!" sagt trocken ein grauer Chirurg, der bei Leipzig die Säge drei Tage lang nicht aus den Händen gebracht hat.—"Was hat denn der Mann bis jetzt gearbeitet?" fragt der Kritiker wieder.—"Ich bin ein Bauer!" stottert der Benedict und schnappt nach Luft.—"Ach, da ist der Rückenkorb viel getragen worden, man sieht's dem Rücken, den Füßen, dem ganzen Mann an!"—"Nein, meine Herrn! doch auf dem Kopfe habe ich viel und schwer getragen."—"Das sieht man wohl, 's ist eine Terrasse, worauf ein Ball arrangirt werden könnte!" meint der trockene Chirurg.—Nun, tröstet der Oberarzt, die Füße werden sich schon wieder strecken, der Tornister wird sich auch Platz machen, der Mann sieht gut aus, hat eine starke, ausdauernde Brust, er kann gut werden!— "Aber der kann doch den großen Bombardon noch nicht erspannen?" fragt der Graue.—"Weiß nicht, er hat ... lange Finger, er ist tauglich!" lächelt der Oberarzt, Eine Viertelstunde später mißt der Compagnieschneider im Zimmer der Staabscompagnie dem Benedict Rock und Hosen an und prophezeit, er werde die Montur meisterhaft machen, doch koste es ein Maaß Bier.

Am ersten April sitzt er auf dem Gang des Hintergebäudes der Kaserne, wo die Hobisten hausen, und ein entsetzlich langer Tambour stutzt ihn mit Kamm und Scheere um ein Schnäpschen zu einem vollkommenen Hobisten um, hält ihm dann den kleinen Spiegel vor und der Rekrut kann sich in seiner nagelneuen Montur nicht genug bewundern.

Schade, daß er nicht sofort zur Säbelkuppel greifen und zum Rösele ins Rheindorf hinüber marschiren darf; der Weg ist doch etwas weit und die Rekruten müssen zuerst Honneurs machen lernen, bevor sie zum Gitter hinauskommen.

Am zweiten Sonntag nach dem ersten April sagt der Straßenbasche beim Mittagessen. "Rösele, am nächsten Samstag gehen wir wieder einmal auf den Wochenmarkt, nach Freiburg hinüber und wollen sehen, was er macht!"—"Ja, ich mag gar nichts mehr hören!"—"Sei doch nicht so einfältig, hast verweinte Augen und ganz umsonst; er ist ja kein Kind mehr und sieht an Andern, wie weit er mit dem Leichtsinn kommt."—In diesem Augenblicke springt des Nachbars kleine Johanne athemlos zur Thüre herein und keucht und sagt: "Rosa, dein junger Vetter ist wieder beim "Sanmathis!"... er ist kein Sauhirt mehr! ... hat einen Säbel! ... Soldat ist er!" "Was? ... Beim Hirt ist er? ... wirst nicht recht gesehen haben, Hanne!"—"Ho, er hat mir ja einen Wecken gegeben, da guckt, den Wecken hat er mir gegeben!"

Der Straßenbasche sieht auf und will zur Thüre hinaus, im gleichen Augenblick öffnet sich diese und in der Stube steht ein schmucker Hobist, der militärisch grüßt und wohlgefällig lächelt.

"Aber Röfele, kennst ihn noch? jetzt sag' nur nichts mehr, sonst—..." "O Vetter, ich bitt' Euch! ... will gern nichts mehr sagen, wenn einmal dort neben Eurem Abschied ein ähnlicher von ihm an der Wand hängt!"—

Schon eilen Nachbarn und Freunde herein, Alle wollen den Hobisten sehen, sprechen, ihm gratuliren, sogar der blinde Michel tappt herein und greift an ihm herum, greift gleich einen Offizier heraus; Alles lobt, bewundert den Benedict, tadelt die unerbittliche Rosa und diese muß zuletzt, um den Straßenbasche nicht zu erzürnen, auch ein Wörtlein des Wohlgefallens von sich geben.

Wie die Leute wieder fort sind, fragt der Alte: "Wie ist's mit dem Zeugniß vom Amt und Bürgermeister gegangen?"—["]Gar nichts weiß ich davon; entweder ist's vergessen worden oder die Offiziere haben es gar nicht oder im Wirthshause gelesen! Gewiß bleibt, daß zwei Andere fortgeschickt wurden, weil ihre Zeugnisse ein paar Tage ausblieben!"—"Ho, der Oberst hat eben deine Jugend in Anschlag genommen, er ist ein guter Herr, Alles vergißt sich leicht, wenn Du brav bleibst!"—"Ja, brav ist der Oberst! Gestern auf der Parade meldete ich mich und bat für heute um Urlaub, um Kleinmonturstücke zu holen. Da hat er mich ein wenig finster angeschaut und gefragt, ob ich denn eine Kaserne von einem Taubenschlage zu unterscheiden wisse. In der Todesangst nannte ich ihm Euern Namen, da strich er den großen Schnauz und gab mir Urlaub!"—"Wie lange?"—"Morgen früh bei der Tagreveille muß ich unterm Kasernenthor sein!"—"Ja, das sieht ihm gleich, er ist noch der alte Fuchser, bis er weiß, wen er vor sich hat!" lachte der Unteroffizier.

Am andern Morgen oder vielmehr kurz nach Mitternacht eilt der Benedict mit einem ordentlichen Päcklein Freiburg zu. Mutter Klara und Rösele haben feine, blendendweiße Leinwand, woran übrigens im gesegneten Breisgau kein Mangel ist, hergegeben, damit der bierdürstende Compagnieschneider 2 paar Sommerhosen daraus mache; die Mutter des blinden Michel sorgte für Leinwand zu Unterhosen und Kamaschen, die Mutter des Saumathes brachte Hemden und Schuhe, der Straßenbasche und Andere schwitzten etwas Geld, das Rösele legte 3 baare Gulden dazu; noch nach Mitternacht geben einige Buben dem Benedict das Ehrengeleite eine gute Strecke weit und kehren erst auf sein wiederholtes Geheiß singend und jodelnd ins Dorf zurück.—Das Rösele hat ihm mit weinenden Augen so dringend empfohlen, Gott vor Augen zu haben und sich an brave, erfahrene Kameraden zu halten, der Duckmäuser muß Vorbilder suchen und diese sich zu Freunden machen, hat bereits seine Augen prüfend umhergeworfen.

Montags nach der Austheilung der Menage mißt ihm der Feucht, der Compagnieschneider die Sommerhosen an und während der Operation fällt es dem Benedict bei, dieser Schneider sei das erbaulichste Muster eines stillen, frommen, gottesfürchtigen Soldaten. Weßhalb? Er hat die Maaß Bier, welche der Benedict ihm wegen der Montur zahlte, noch nicht getrunken, ist ein alter Soldat, der schon zum vierten Mal für Andere einstund, ein ruhiger gesetzter Mann, welcher den ganzen Tag bei seiner Arbeit sitzt, sehr wenig redet, mit Keinem umgeht, sich in seinem Arbeitseifer ungern stören läßt; die einzige Gelegenheit, bei welcher er zornig wird und in seiner Seehasensprache furchtbare, niegehörte Flüche zum Besten gibt, ist die, wenn Einer ihn necken will oder ihm Wachs, Zwirn, die Scheere, Maaße und dergleichen verlegt oder wegstipitzt oder nach seinem Ausdrucke "Dreck schwätzen" will.

So lange der Benedict unter den Zweifarbigen steckt, hat sich Meister Feucht noch nicht herausgewichst, nicht einmal den ungeheuern rothen Schnurrbart gekämmt und wozu hätte er es thun sollen? An Werktagen wie an Sonntagen arbeitet der Schneider und kommt kaum zur Stubenthüre, geschweige zur Kaserne hinaus.

Solch Muster der Eingezogenheit und Solidität hätte Benedict nicht unter den Hobisten gesucht; diese sind ein ziemlich lustiges und leichtes Völklein und der Feucht beinahe der Einzige, an welchen er sich getrost anschließen möchte.

Doch jedes Wort, was der Straßenbasche vorgepredigt, klingt fort in unserm Rekruten und so oft er sich dem Compagnieschneider nähern will, glaubt er aus dem ernsten, strengen Gesichte desselben folgende Worte des Straßenbasche zu lesen:

"Ein Rekrut soll sich vor allen längerdienenden Leuten stets in ehrerbiethiger Stellung und Entfernung halten, sich nicht vorwitzig oder gar frech in deren Reden mischen und Vorgesetzten jedes Ranges nur wenn er von diesen Etwas gefragt wird, anständig, bescheiden, kurz und wahrhaftig antworten!"

Unter solchen Umständen mußte sich der Duckmäuser einstweilen begnügen, den Meister Feucht aus naher Ferne zu bewundern und mit dem Spruche trösten: Kommt Zeit, kommt Rath, dann folgt die That!—

Am 5. Mai steht der Schneider in aller Frühe auf, bürstet mit der Silberglätte die rothgewordenen Messingknöpfe seines Monturfrackes, den Säbel, die Bataillenbänder des Tschako's, klopft dann drunten im Kasernenhofe Rock und Hosen aus, kleidet sich an und geht zum ersten Mal seit 5 Wochen im vollen Staate zur Thüre hinaus.

Der Benedict besitzt nicht den Muth, Einen um Erklärung des so räthselhaft gewordenen Betragens seines Vorgesetzten zu bitten, denn er ist der Jüngste von Allen und diesmal sicher auch der Gespannteste. Um 8 Uhr geht der Schneider zum Rapport, wird unsichtbar bis um 9 Uhr, wo derselbe mit geröthetem Kopfe zur Probe kommt. Letztere ist beendigt, Meister Feucht nähert sich seinem Bette, doch zieht er den Frack nicht aus, sondern kämmt nur seinen feuerrothen Schnurrbart recht sorgfältig und eilt dann abermals raschen Schrittes zur Thüre hinaus.

Der Schneiderstuhl bleibt heute den ganzen Tag unbesetzt, nicht Eine Nadel fädelt dessen Inhaber ein, weil er sich weder beim Mittagessen, noch beim Verlesen sehen läßt.

Abends macht der Duckmäuser einen Spaziergang; kurz vor dem Zapfenstreich kehrt er zurück, die Tambours spannen ihre Trommeln, beim Kasernenthor aber hält ein Bauer mit einem Mistwagen; er trägt einen Tschako in der einen, die Geisel in der andern Hand, auf dem Mistwagen aber liegt lang ausgestreckt ein Soldat, ein Hobist, stöhnend, ächzend und unverständlich fluchend. Der Benedict erschrickt nicht wenig, wie er in diesem Hobisten sein nachahmungswürdiges Muster, nämlich den Compagnieschneider Feucht erkennt. Doch, wem ein Unglück begegnet ist, pflegt nicht Versuche zum Singen zu machen, der ganzen Welt Brüderschaft anzubieten und vor der Kaserne in seligem Entzücken zu jauchzen. Der gute Feucht ist schwer betrunken; der Bauer muß ihn abladen, singend legt er sich sofort auf den Boden, zwei Soldaten tragen und schleppen ihn zunächst auf die Stockwache, von da in den Dunkelarrest für Unteroffiziere und hier mag er nach etwa 36 Stunden aus überirdischen Sphären wieder zum Bewußtsein seines soldaschen Schneiderthumes gelangen.

Benedict erzählt den Musikanten, was ihrem Schneider begegnet sei, doch Keiner verwundert sich darob und der Nachbar zählt kurz Meister Feuchtens Erlebnisse auf. Nach drei Tagen wird dieser wiederum erscheinen, sich ruhig auf den Schneiderstuhl setzen, genau sechs Wochen lang die Nadel und das Bügeleisen schwingen, schweigsam, unermüdlich, ruhelos, denn sechs Wochen hat er Kasernenarrest und nur so lange der Schneider von diesem festgehalten wird, ist Hoffnung da, daß die Hosen und Röcke der Hobisten geflickt werden. Heute über 6 Wochen wird Feucht sich wieder putzen, um 8 Uhr zum Rapport gehen, um sich als freier Mann zu melden, um 9 Uhr mit rothem Kopfe, doch taktfest die Deckel schlagen, um 10 Uhr verschwinden, Abends kurz vor dem Zapfenstreich von einem Bauer vom Mistwagen geladen, von zwei Soldaten der Kasernenwache in den Dunkelarrest für Unteroffiziere geschleppt werden und so fort bis in ferne Zeiten.

Also hat's der Compagnieschneider Feucht vom Bodensee seit vielen Jahren gehalten; alle Obersten und Generale Europas würden ihn nicht dazu bringen, frei und freiwillig eine Nadel zu berühren, im Arrest dagegen ist er anerkannt der eifrigste und beste Schneider des ganzen Regimentes und dereinst wird er im Arrest oder im Rausche Abschied von der Welt nehmen und diese wird um ein Original ärmer geworden sein.

Der Duckmäuser hörte auf, den Compagnieschneider als sein Vorbild zu betrachten, er dachte an Rosa und seufzte.

Unter 30 bis 40 Mann sollte es keinen braven und frommen geben? Nein, unter den Musikanten des Regimentes gibt es nachahmungswürdige, wackere und geschickte Leute, vorzüglich unter den Hobisten erster Klasse, doch diese sind verheirathete Männer, wohnen gar nicht in der Kaserne, lassen sich nicht zu einem jungen Menschen herab, kommen nur Morgens mit dem Kapellmeister zur Probe und der Benedict darf ihnen höchstens die Säbelkuppel anstreichen, die Knöpfe und Anderes recht glänzend putzen.—

Im Zimmer befindet sich ein junger Mann, auf welchen das Auge des Enttäuschten fällt. Derselbe spricht fast noch weniger als Meister Feucht, geht auch mit Niemanden um, er liest beständig. Er liest vor und nach der Probe, liest während des Mittagsessen, liest den ganzen Nachmittag und wenn er Abends zuweilen ausgeht, nimmt er jedesmal einen Pack Bücher mit und bringt einen andern zurück. Schon lange hätte ihn der Duckmäuser gerne um eines seiner interessanten Bücher gebeten, doch er getraute sich dessen nicht, Straßenbasche's Ordre kommt ihm nicht aus dem Sinn; bald eilt ein glückliches Ohngefähr dem Schüchternen zu Hülfe. Eines Morgens steht der Lesefreund sehr frühe auf, setzt sich ans Fenster, liest und vergißt vor lauter Lesen das Morgenessen, liest fort, bis der Kapellmeister erscheint.

Jetzt steht er auf, schleppt seine große Trommel an ihren Platz, haut während der Probe ingrimmig auf das Kalbsfell hinein, schlägt einigemal fehl und erhält dafür 2 Tage Zimmerarrest, um die Gedanken zu sammeln. Mittags kommt er zum Benedict, ersucht denselben, ihm einen Pack Bücher in die Leihbibliothek Waizeneggers zu tragen und alle zu bringen, deren Nummern auf dem beigelegten Zettel ständen. Freudig geht der von Kindesbeinen an dienstfertige Duckmäuser mit den Büchern fort, läuft jedoch nicht die Kaiserstraße, sondern den Löwenrempart hinauf; auf diesem kleinen Umwege ist er sicherer vor honneurswüthigen Unteroffizieren und Offizieren und kann ein bischen in die Bücher hineinschauen. Ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler ist der Duckmäuser von jeher gewesen, die Titel dieser Bücher eröffnen ihm eine neue Welt, er begreift die Lesewuth des großen Trommelschlägers, indem er liest: Bruckbräu oder der baierische Hiesel geschildert als Wildschütz, Räuberhauptmann, und landesverrufener Erzbösewicht—Simon Tanger der furchtbare Seeräuber—die sechs schlafenden Jungfrauen, eine Ritter- und Geistergeschichte—Ritterkraft und Mönchslist.—Die Grafen von Löwenhaupt—Tausend und Eine Ausschweifung.

Zitternd vor Freude, denn jetzt hat unser Rekrut gefunden, an was er sich halten soll, was ihn vor aller Gefahr wahrte und damit sein zeitliches und ewiges Glück feststellt, tritt er in die Bibliothek und die langen Reihen aufgestellter Bände entflammen vollends die längst gehegte Sehnsucht nach recht vielen Büchern zur Leidenschaft. Bisher hatte er leidenschaftlich Musik getrieben, denn in der Kaserne hatte er am ersten Tage den gewaltigen Unterschied zwischen der Dorfkirchweihenmusik und der Musik einer militarischen Musikbande entdeckt, unter welcher wahre Künstler und Virtuosen steckten; die Regimentsmusik, versetzte ihn in trunkenes Entzücken und kein Hobist übte sich fleißiger auf seinem Instrumente, denn der Duckmäuser. Doch Clarinettblasen konnte er auch nicht den ganzen Tag und weil er stets dachte, alle Gelegenheit meiden sei das Beste und fast immer zu Hause blieb, so fühlte er oft herzliche Langweile.

Nunmehr wollte er seine ganze Zeit theilen zwischen der Clarinette und den Büchern und er thats. Bald unterschied er sich vom großen Trommelschläger nur noch dadurch, daß er durch seinen Eifer für Musik sich die ganze Achtung und Liebe seines Kapellmeisters erwarb, bald keiner Belehrung mehr bedurfte, Alles vom Blatte wegblies und ein ordentlicher Künstler wurde.

Er hätte einen wirklichen Virtuosen abgeben und zugleich mehrere Instrumente erlernen können, doch dazu reichte die Zeit nicht hin, denn wenn er gerade mit einem rechten Bücherhelden zu thun hatte, vergaß er oft Essen, Trinken und Schlafen, bis er Alles wußte, was derselbe gethan und welches Fräulein er beglückt oder welchen Tod er erlitten habe.

Die Clarinette und der Katolog Waizeneggers verschlangen über ein Jahr eines stillen, glücklichen, genußreichen Lebens, ließen ihn alle Bierschenken, Wirthshäuser und Stadtmamsellen vergessen; alle Vorgesetzten achteten und liebten ihn, die Spöttereien und Neckereien leichtfertiger Vögel berührten ihn wenig, er gewann durch seine Freundlichkeit und Dienstfertigkeit die meisten Kameraden für sich, ohne ihre Einladung zum Ausgehen anzunehmen. An Samstagen fehlte er niemals auf dem Münsterplatze, wenn er glauben durfte, die Rosa zu treffen, Abends schrieb er zuweilen Briefe voll Gluth, Inbrunst und Tugendsinn und wenn er Urlaub bekommen konnte, eilte er ins Rheindorf hinüber.

Von Zeit zu Zeit brachte er seinem Rösele kleine Geschenke, vergaß niemals, dem Straßenbasche einige Päcklein ächten Portorikos, der kleinen Johanna und andern Kindern Milchbrödlein mitzubringen. Der alte Unteroffizier wußte, was ein stets ordentlich gefüllter Geldbeutel bei einem Soldaten und insbesondere bei einem Hobisten zu bedeuten habe, sah das gesunde Aussehen und die Nüchternheit des künftigen Schwiegersohnes, hörte, wie begeistert derselbe von seinem Stillleben in der Kaserne sprach und wie fremd ihm die Stadt blieb, er jubelte vor Freuden und die vornehmsten Bürger des Ortes sammt dem alten, ehrwürdigen Geistlichen eilten in das Haus des Straßenbasche, wenn es hieß, der Zweifarbige sei im Dorfe wieder gesehen worden.

Als noch im nächsten Frühling die Hobisten der Rosa auf dem Wochenmarkte dasselbe bestätigten, was sie im vorigen Sommer schon gesagt, daß nämlich der Benedict sicherlich durch sein ewiges Lesen noch ein "Pfaffe" werde und in ein Kloster wandere, da verloren sich auch ihre Besorgnisse, sie glaubte an die vollkommene Besserung ihres Geliebten und fühlte sich glücklich.—

Eines Tages sitzt der Duckmäuser mit dem Leibe auf dem wieder einmal verwaisten Schneiderstuhle des Meister Feucht, mit den Gedanken jedoch schwärmt er in überirdischen Regionen und mittelalterlichen Zeiten.

Während der Hobist an einem Stücke Komißbrod kaut, hält der Romanleser just auf einem glänzend schwarzen Streitrosse, den Leib mit einer silbernen Rüstung bedeckt, auf dem Haupte einen goldenen Helm mit wehendem Federbusche und hinaufgezogenem Visir als Sieger beim Turnier auf der Todesklippe vor dem Balkon der Ritterfräuleins. Die Königin aller Schönheit, die bezaubernde 17jährige Gräfin Etietta, um welche sich binnen kurzer Zeit 700 Ritter, 300 Grafen, 90 Herzoge und 11 kaiserliche und königliche Prinzen bereits todtgeschlagen, reicht ihm eine mit Gold und Edelsteinen reich geschmückte himmelblaue Schärpe und heftet zum Zeichen, daß sie ihn unter Allen einzig und allein liebe, eine rothe Schleife an seine Lanze. Eben will er in die Schranken zu den Rittern zurücksprengen, als ein dickköpfiger Füselier zur Stube herein und gerade auf ihn losgeht, um zu melden, Hobist Benedict werde im Münster von 2 Frauen erwartet.

Er plumpt in die schaale, prosaische Wirklichkeit zurück, doch bang und freudig zugleich schlägt sein Herz fort, denn augenblicklich denkt er an Etwas, dessen Mangel einzig und allein die Seligkeit seines Kasernenlebens stört.

"Der Eltern Segen baut den Kindern Häuser, ihr Fluch reißt sie darnieder!" hat er als Unterlehrer viele hundertmal gehört, gelesen und geschrieben und das furchtbare Wort "Nenne mich nie mehr Deine Mutter!" tönt wie Todtensang und Eulenschrei in den sonnenhaften Himmel der Gegenwart hinein.

In aller Eile putzt er sich, eilt zur Kaserne hinaus, doch läuft er weit langsamer, wie er bei der Post aus der Kaiserstraße auf den Münsterplatz einlenkt, er muß sich erinnern, daß er vor kurzem Sieger im großen Turnier bei der Todesklippe gewesen sei und als Hobist mindestens so vielen Muth besitzen müsse, um im Nothfalle vor einer alten Frau zu erscheinen.

Durch eine Seitenthüre tritt er in den herrlichen Tempel, wandert durch den Säulengang emsig umherspähend hinauf und entdeckt endlich die Rosa, welche betend vor einem Nebenaltare kniet. Dieselbe ist allein; doch nein! Die gigantische Säule hat Rosas Nachbarin verborgen, er kennt dieselbe nicht recht, doch sieht er soviel, daß es ein altes Mütterchen und sein pochendes Herz sagt ihm, wer es sei. Er bleibt stehen, hustet ein wenig, Rosa schaut um, steht auf, nimmt das ebenfalls sich erhebende Mütterchen bei der Hand, beide kommen auf den Hobisten zu—das Mütterchen ist Mutter Theres.

Welch Zusammentreffen, welch Wiedersehen!

"Das ist Euer Sohn, mein geliebtester Freund!["] sagt die tiefbewegte Rosa; laut weinend wankt das Mütterlein heran, sieht vor Thränen die Hand nicht, welche ihr der Sohn entgegenstreckt und erst als er fragt: "Mutter, seid Ihr mir noch immer böse" spricht sie leise schluchzend: "Nein, Benedict, Du bist wieder mein Kind!" und reicht ihm die verwelkte Hand.

"Gott sei Lob und Dank!" jubelt der Hobist und tritt in einen Kirchenstuhl, um für die Erfüllung seines einzigen Wunsches zu danken, die Mutter und Rosa thun das Gleiche.

Alle Drei gehen in die Kaserne, der Benedict freut sich, den Weibern, die vom Inwendigen einer Kaserne gar wunderliche Vorstellungen herumtragen, Alles zeigen und erklären zu dürfen und ermangelt nicht, die Freude derselben durch Vorzeigung einiger seiner lieben Bücher vollständig zu machen. Aus der Kaserne geht's in den Löwen hinüber, ein guter Markgräfler wird aufgestellt, der Hobist weiß schon, daß Mutter und Geliebte nicht alle Jahre zu einem Gläslein vom Besten kommen.

Das Aussehen und die schöne, ehrende Kleidung sammt den Reden und Benehmen des Duckmäusers versetzten im Bunde mit dem Gläslein dessen Mütterlein in den siebenten Himmel, sie reicht ihm alle Augenblicke die Hand, ihr Auge ruht unbeweglich auf ihm und sie kann ihn nicht oft genug ihrer Liebe versichern und um Verzeihung bitten.

Mutter und Geliebte begleiten den Helden um 5 Uhr Abends zum Verlesen, der alten Frau schießen Zähren in die Augen, wie sie ihren verlornen und wiedergefundenen Sohn so blühend und stattlich im geschlossenen Gliede stehen sieht und wie dessen Name verlesen wird, meint sie, die ganze türkische Musik mit den lieben Engelein im hohen Himmel müsse einen Freudentusch darauf folgen lassen und vergißt alle Schmerzensthränen, welche er ihr schon ausgepreßt hat.

Abends sagt sie beim Abschied mit weinenden Augen: "Schau' Benedict, schon lange und viel tausendmal habe ich gewünscht, sterben zu können, mein Jakob hat's ebenso gehabt, nun aber wünsche ich mir, noch lange zu leben, denn ich bin wieder eine glückliche Mutter; viel Thränen hab' ich vergossen um deinetwillen, diese aber, die jetzt über meine alten Backen fließen, sind süß, es sind Freudenthränen!"

Mutter und Sohn sind glücklich, am glücklichsten ist das Rösele, welches bald mit ihr vor Freuden weint, bald ihn wie ein Engel anlächelt und sich von diesem Tage kindlich an Mutter Theres anschmiegt.

Am nächsten Morgen trennen sich alle Drei, sie versprechen bald möglichst wieder zusammenzukommen, die Mutter hat fahren sollen, doch es durchaus nicht gethan, der Sohn hat zuerst dem Rösele ein kleines, dann der Mutter ein großes Geleit gegeben und kehrte glücklicher als je in die Kaserne zur Klarinette und zu den Büchern zurück, welche der große Trommelschläger indessen für ihn ausgelesen hat.

Wo und wie kamen Mutter Theres und das Rösele zusammen?

Auf dem Wege von Freiburg nach Sanct Georgen steht bis zur Stunde links an der Landstraße ein winziges Kapellchen; die Rosa war vom Straßenbasche nach Freiburg geschickt worden und hörte in diesem Kapellchen weinen und beten. Sie trat hinein und kniete neben der Mutter Theres, jedoch ohne dieselbe zu kennen, denn erstens ist das Kapellchen winzig wie die Neuzeit und dämmerungsreich wie das Mittelalter und zweitens ist's schon eine schöne Zeit, seitdem der ehrliche Klaus am Herzbruch starb, weil er keinen Wortbruch begehen wollte, das Rösele sammt den Geschwistern ist aus dem Dörflein fortgezogen und ein großes, stattliches "Maidle" geworden.

Tief und schwer seufzt, bitterlich weint das Mütterchen und aus ihren Reden entnimmt Rosa, daß schwerer Kummer um eines Ungerathenen willen ihr Herz drückt und daß sie eine Landsmännin vor sich habe, welche im Begriffe stehe, eine Wallfahrt nach Marien Einsiedeln zu machen, was bei einer so alten, gebrechlichen Frau schon Etwas heißen will. Nach wenigen Fragen weiß das Mädchen, Benedicts Mutter stehe neben ihr, das liebende Herz wallt auf und fragt, ob das Mütterlein schon lange nichts mehr vom Sohne gehört habe der Benedict heiße. Doch die Frage wirkt arg, das Mütterlein schreit auf und bricht fast zusammen, fleht unter Thränen, diesen Namen nicht mehr zu nennen, kein Wort mehr von dem Sohne zu reden.

Daheim im Dörflein schämten sich die Eltern des Duckmäusers so sehr, daß sie um keinen Preis nach demselben gefragt oder auch nur dessen Namen genannt hätten. Die Dorfbewohner wußten dies, schonten deßhalb die unglücklichen Leute, doch wußten diese von der Margareth, daß der Benedict am Rheine drüben die Schweine hüte, denn der "Saumathis" sagte es bei einem Besuche der Verwandten, welche er im Dörflein besaß. Kein Mensch wußte jedoch, daß der Schweinhirt zum Hobisten geworden und in der Kaserne zu Freiburg sei, Mutter Theres hatte sich ihr banges und doch halbfreudiges Ahnen beim Durchmarsche durch Freiburg auch nicht erklären können. Jetzt sagte das Rösele, was und wo der Benedict zu finden, gab sich selbst zu erkennen und suchte die Alte zu bewegen, mit ihr in die Stadt zurückzugehen. Lange und harnäckig bleibt die Mutter dabei, den Sohn nicht sehen zu wollen, aber das Rösele hört mit guten Versicherungen, Bitten und Betteln nicht auf und so kam es zuletzt doch, daß die Beiden zusammen durch das Breisacherthor in die schöne, freundliche Kaiserstraße und beim Museum hinüber in das Münster wandelten, in welchem Bernhard von Clairvaux den Kreuzzug gegen die Ungläubigen im fernen Morgenlande, heuer die Jesuiten wahrhaft zeitgemäß den Kreuzzug gegen den Unglauben im Herzen der Zuhörer predigen.

Ein Soldat schlägt einem hübschen Mädchen selten oder niemals eine freundliche Bitte ab und so geschah es, daß ein dicker Füselier, der auf dem Münsterplatze stand, die Zähne am Winde trocknete und am wunderbar schönen, durchbrochenen Münsterthurm schwindelnd und staunend hinaufsah, auf Rosas Geheiß eiligst zur Kaserne trabte und den Hobisten Benedict mitten im Siege von der Gräfin Etietta weg ins Münster zum armen Mütterlein und zur Pflegetochter des Straßenbasche zauberte.

Die Kirchweihe

Vater Jakob zählt dem Hannesle just aus dem ledernen, eingeschrumpften Opferbeutel vier rothe Batzen als Kirchweihgeld auf den Tisch, dieser hält jeden sorgfältig zum Licht, um etwas höchst Ueberflüssiges zu untersuchen, nämlich ob es auf dieser Erde auch Falschmünzer gebe, welche auf den Einfall gerathen sein könnten, falsche Schweizerbatzen zu machen; das Vefele sitzt mit der kleinern Schwester auf der Ofenbank und redet mit Benedicts Schwestern, die Susanne nennt alle Buben, mit welchen sie auf der Kirchweih tanzen und nicht tanzen werde, Mutter Theres sitzt am Spinnrädlein und netzt den Faden, da—klopft es leise und bescheiden an der Thüre. Die Mutter denkt an einen muthwilligen Buben, am allerwenigsten an ihren Sohn, von dessen Wiedersehen sie einzig und allein ihrem Alten gesagt hat; sie weiß, derselbe sei nicht mehr in Freiburg, sondern mit seinem Regimente in Carlsruhe drunten und gegenwärtig mache derselbe die große Revüe mit. Sie sagt deßhalb nicht "Herein," sondern: ["]d'Herren sind draußen, d'Bettelleut drinnen!" und die Susann' ruft mit ihrer glockenhellen Stimme: "Wir sind nit gärn klopft!"

Aber die Thüre geht auf, außer der Mutter erschrecken Alle gewaltig, denn ein großer, glänzend geputzter Soldat mit Tschako und nachläßig überhängendem grauem Mantel steht mitten in der Stube und lächelt, daß der keimende kohlschwarze Schnurrbart beträchtlich in die Länge wächst.

Der Hannesle macht Augen wie Pflugräder, die kleinern Kinder schleichen schüchtern hinter dem Ofen, der Jakob steht befremdet auf, doch die Susanne schreit mit dem Vefele aus Einem Munde: "Ohje 's isch jo Euer Duckmäuser!"

Er ist's richtig, denn der Oberst hat ihm nach der Revüe Urlaub auf 14 Tage gegeben, obwohl er diesmal nicht zum Straßenbasche wollte. Nach der Revüe nehmen ja die meisten Hobisten Urlaub und hätte der Benedict nach jahrelangem Besinnen sich nicht wieder einmal im Dörflein sehen lassen sollen? ...

Jetzt fängt das Händedrücken, Küssen, Grüßen und Fragen an, der finstere Jakob thaut ordentlich auf, die beiden Mädchen wissen nicht, was sie vor Freuden thun sollen, denn sie möchten ebenso gern bleiben als die unverhoffte Ankunft des alten Herzkäfers den Kammerädinnen ansagen. Endlich rennt das Vefele ins Unterdorf, die Susanne ins Oberdorf und ehe eine halbe Stunde vergeht, hat Benedict all den alten Lieblingen in die klaren Aeuglein geschaut und herzinnige Freude über seine Ankunft darin herausgelesen. Allen? Wir irren, denn zwei fehlen, erstens Maxens Rothe und zweitens die Sabine. Die Rothe ist in Folge ihres unordentlichen Lebens bei ihrer Schwitt nach langer, schmerzlicher Krankheit schon im 18. Jahre gestorben, die Sabine, zur rothen Schwitt desertirt, trägt eine Frucht ihres aufgeklärten Lebens auf den Armen und verbirgt sich gleich einer Eule, weil sie noch nicht so weit gekommen, gleich 5 Kameradinnen, welche zur alten Garde der rothen Schwitt gehören und mit ihren Verdiensten um Vermehrung des Menschengeschlechts stolz thun.

Die Meisten jedoch stehen und sitzen fröhlich und freudig in Jakobs Stube, erst nach Mitternacht bringen sie es über sich, dieselbe zu verlassen, doch keine schließt daheim ein Auge, jede hat's am andern Morgen gestanden.

Am andern Tage wandelt an der Hand des alten Lehrers der Benedict der Kirche zu; der rothe fliegende Haarbusch auf seinem glänzenden Tschako scheint die Oriflamme zu sein, welcher das ganze Dörflein in Einem Truppe folgt, mehr als ein bejahrter Mann und mehr als Einer wird lediglich durch das Gedränge verhindert, dem ehemaligen Dorfhanswurst, welchen sie als kleines pausbackiges Büblein mit schwarzen Augen voll Leben und Beweglichkeit gesehen und geliebt, öffentlich einen Kuß zu geben.

Nur die Buben der rothen Schwitt ließen sich nicht herbei und die Mädlen derselben thaten gleich verscheuchten Hühnern.

Während der langen Abwesenheit des Duckmäusers hatte die rothe Schwitt im Dörflein große Siege gefeiert, denn es gab keinen Burschen, welcher dem reichen, wüsten und wilden Max herzhaft und beharrlich mit Glück entgegentrat, die schwarze Schwitt hatte ihr Haupt verloren und zerfiel. Mancher Bube und manches Mägdlein trat zur rothen Schwitt über, weil sie auch ein Vergnügen oder mindestens ihre Ruhe haben wollten. Seit 2 Jahren gebot der Marx auf allen Tanzböden und in allen Wirthshäusern, über alle Vergnügungen der Dorfjugend, schloß alle "Altmodischen" davon ab und weil die rothe Schwitt auch in den umliegenden Ortschaften ihre Anhänger und Verbündeten zählte, welche ebenfalls emporkamen, so wurden diejenigen, welche hartnäckig altmodisch bleiben wollten, nicht nur von allen Freuden und Festen ausgeschlossen, sondern auch noch auf alle möglichen Weisen verfolgt und gekränkt. Max sah immer noch die verhaßte schwarze Schwitt fortbestehen, so lange nicht alle Buben und Mädlen ihm anhingen und wirklich gab es Viele, welche beharrlich von allen Festen wegblieben und Alles erduldeten, denn Solches thaten.

Die Treuesten unter den Altmodischen waren Söhne und Töchter recht christlich gesinnter Eltern, denn wie konnten diese ihre Kinder bei einer Gesellschaft sehen, deren Anführer der Max vom Rindhofe war? Zog sich der Max durch sein abscheuliches, gottloses Leben nicht einen Leibschaden zu, so daß er auch leiblich verkrüppelte? Bezeugte nicht der eigene Vater desselben, sein Einziger werde mit jedem Jahre liederlicher und bringe ihn frühzeitig in die Grube? Weinte der herzensgute Fidele nicht oft bei seinen Nachbarn die bittersten Thränen über den ausgearteten Sohn und ließ sich nur dadurch trösten, weil er demselben weder durch Rede noch That jemals ein böses Beispiel gegeben habe? Lagen die Gesinnungen der rothen Schwitt nicht in täglich sich häufenden Werken offen und erschreckend zu Tage?

Alles dies bewirkte, daß trotz dem Zerfallen und Zusammenschmelzen der schwarzen Schwitt nach Benedicts Abfall stets ein kleines Häuflein braver Buben und Mädlen altmodisch blieb, man mochte gegen sie unternehmen was man wollte.

In der letzten Maiennacht zeigten die Rothschwittler so recht ihre Bosheit und ließen dieselbe an der armen Margareth und deren Schwestern aus, deren Wohnhaus mit mehr als 500 Maien ganz umstellt wurde. Nahe am Kammerfenster entdeckte man am Morgen des ersten Mai einen Strohmann von abscheulicher Gestalt, einen Besen, mit Dünger bestrichen und mit einem Rosenkranze behängt, eine Ofengabel mit Salbhäfelein; da einen Stab mit einem alten Kochhafen, dort einen mit einigen Rinderschuhen, viele andere mit Ochsenohren, Hahnenkämmen, Gansschnäbeln, Schwänzen von Katzen und Hunden, der Eierschaalen, Nachttöpfe, Schlapphüte, weiblichen Zwilchröcke und dergleichen gar nicht zu gedenken.

Heuer an der Kirchweih wollte der Max das Oberkommando in zwei Dörfern führen und, da er als Krüppel doch den Willibald Tanzkönig sein lassen wollte, vor Allem dafür sorgen, daß die "Altmodischen" zu keinem Freudlein gelangten—die plötzliche Erscheinung des Duckmäusers am Kirchweihsonntage machte jedoch einen gewaltigen Strich durch seine Rechnung und er merkte gleich, die meisten der ehemaligen Schwarzen seien eben doch keine rechten Rothen geworden.

Begleitet von Alten und Jungen, von Altmodischen, deren Gesichter vor Freude strahlen und von Neumodischen, die den Stiel rasch umkehren, weil sie keine aufrichtigen Rothschwittler sind, tritt der Benedict in die Kirche; die beurlaubten und alten Soldaten aber weisen ihm den ersten Platz im Soldatenstuhle an und versprechen, aus allen Dörfern des Stabes ihm zu Gefallen auf die Kirchweihe seines Dörfleins zu kommen. Kaum ist der Nachmittagsgottesdienst beendet, so beginnen 6 Musikanten im Hirzen Straußische Walzer zu spielen, das Wirthshaus und der Tanzsaal wimmelt von Infanteristen, Dragonern und himmelhohen Kanoniren, welche der Benedict aus der Kirche mitgebracht hat, andere fremde Buben und Mädlen kommen auch und die Rosa ist verabredetermaßen bereits seit Mittag nach langen Jahren wieder einmal im Heimathdörflein und hat das Grab der rechtschaffenen Eltern bereits besucht; das ganze Dörflein ist voll Leben und Freude und die seit zwei Jahren von jeder Lustbarkeit ausgeschlossenen Getreuen der ehemaligen schwarzen Schwitt werden die Heldinnen dieser Kirchweihe, mit Ehrenbezeugungen und Lobreden von den achtbarsten Bürgern, geschweige von den Jungen, überschüttet.

Kein rechter Rothschwittler durfte sich diesmal im Tanzsaale blicken lassen und ihre entehrten Mädlen, welche sonst die vornehmste Rolle zu spielen pflegten, dürfen sich nicht einmal dem Hirzen nähern.

Einige reiche Bauern, wie der Fidele, Maxens Vater und der Liebhardt, legten einige Kronenthaler zusammen, um den getreuesten Mädlen der schwarzen Schwitt, welche rasch wieder auflebt, eine Freude zu machen, am Kirchweihmontag wurden schöne Halstücher gekauft und dieselben am Dienstag ausgetanzt.

Schon am Montag traten einige rechtschaffene Männer, denen das Treiben beim Brandpeterle und Andern längst ein Gräuel gewesen, im Hirzen in den Bund der schwarzen Schwitt und gelobten auf Benedicts Zusprache öffentlich und feierlich, fortan über die Sitten der christlichen Jugend des Dörfleins zu wachen, die ehr- und schamlosen Maxianer zu vertilgen.

Dies und noch weit Aergeres muß der Max mit anhören, der mit dem Willibald und zwei Anderen in einem Winkel der Wirthsstube würfelt.

"Dort hinten, sagt der tiefbewegte Fidele und deutet auf den Max, dort hinten hockt mein Schöner, den ich wohl noch am Galgen sehen muß!" ... Zum Vater des Duckmäusers, zum Jacob gewendet, der heut mehr als ein Hälbsle schluckt, sagt er weinend:

"Euer Sohn hat Euch viel Kummer gemacht und manche Thräne ausgepreßt, denn er war leichtsinnig, aber doch nie so liederlich und so bis ins Innerste verdorben, wie mein Einziger dort hinten! ... Dieser macht Euch jetzt wieder Ehre, Freude und Trost, der meinige wird mir Kummer bereiten bis zum Grab und mein einziger Trost bleibt, daß Gott und Ihr wisset, wie ich meine Pflicht als christlicher Vater erfüllte! ... Hab´ Alles gethan, ihn an Leib und Seele gesund zu erhalten, jetzt ist er doch an Leib und Seele ein Krüppel!"

Der Max schüttelt in seinem Winkel den Würfelbecher sehr lebhaft und thut, als ob er den Vater gar nicht höre; solch Benehmen empört alle Anwesenden, der Benedict stachelt den Hansjörg, mit dem er einst auf dem Katzenbänklein gesessen und Andere auf, nach zwei Minuten fliegt der Max zum Hirzen hinaus in den Straßenkoth, der Willibald und die Andern schleichen eiligst davon.

Von dieser Stunde an haßt der Max den Benedict tödtlich und schon am Abend wird letzterer gewarnt, sich wohl in Acht zu nehmen, weil der Max mit geladener Pistole auf ihn lauere, doch Jener fragt wenig darnach und gebraucht blos die Vorsicht, während der Urlaubszeit Abends nie ohne Säbel auszugehen.

Am glücklichsten fühlten sich während dieser Kirchweihe die alten Herzkäfer des Duckmäusers, die geehrten und beschenkten Jungfrauen der schwarzen Schwitt und nur Eine bekennt, daß sie nicht so glücklich sei, wie dies der Fall sein könnte. Diese Eine ist Margareth, Benedicts alte Geliebte, welche die Rosa an dessen Hand sieht. Die Rosa merkt dies wohl, spricht mit dem Benedict und sogar mit der Margareth selbst hierüber und erklärt, sie wäre bereit, für den Duckmäuser das Leben zu opfern, doch wenn er der älteren und damit mehr berechtigten Freundschaft gedenken wolle, so wolle sie entsagen.

Die Margareth jedoch meint, nicht sie, sondern das Rosele habe den Benedict vor gänzlichem Verderben gerettet, die Entsagung müßte dem Rosele schwer fallen und könne ihr nicht zugemuthet werden. Beide Mädchen meinten es aufrichtig und wohlwollend mit einander und ebenso mit dem Benedict, ihr liebreicher Streit gab den sehr zahlreich anwesenden Gästen Anlaß zu einem Gespräche, wie es wohl in einer Stadt sehr selten vorkommen mag.

Die Meisten kannten den Duckmäuser von Kindesbeinen an, sie wollten den Schiedsrichter zwischen der Margareth und dem Rosele machen und bei dieser Gelegenheit wurden alle Streiche, welche der Gegenstand ihres Streites jemals begangen, öffentlich besprochen; er erfuhr, daß die Wände Ohren haben; gar Vieles kam jetzt erst zur allgemeinen Kenntniß und er selbst war gescheidt und edel genug, bei der Aufdeckung seiner unsaubern Stücklein selbst mitzuwirken; dafür redeten Viele auch vom Guten, was er an sich trug und vollbracht hatte.

Endlich erhebt sich der älteste und ehrwürdigste Mann der Gemeinde, der eisgraue Korbhannes, welcher seit mehr als zwanzig Jahren kein Wirthshaus inwendig gesehen hat, heute seinem Liebling zu Ehren kam und seinen Sitz zwischen dem alten Schulmeister und dem Stabhalter nehmen und sich von diesen zechfrei halten lassen mußte. Er nimmt langsam die Zipfelkappe herab vom zitternden Haupte, es wird so still in der dichtgedrängten Stube des Hirzenwirths, daß man hätte können eine Stecknadel fallen hören und dann spricht der Greis, während er mit glänzenden Augen umherschaut:

"Ich weiß, daß ich von Gott und der Welt geliebt und geehrt werde; von Gott—dies beweist mein alter grauer Schädel,—von der Welt—dies sehe ich mit meinen Augen in diesem Augenblicke ... Heute ist noch ein Freudentag für mich vor meinem Tode, an welchem ich wie ein Jüngling mit Euch und dem lieben Herrgott Gesundheit trinken werde! Es ist ein glücklicher Tag, denn ein Verlorner unseres Dörfleins ist ja wieder gefunden—das allein macht mich heute so jugendlich und ist ja auch die einzige Ursache, daß der Vater Steffen dort und die Mutter Ursula dort drüben in ihrem hohen Alter noch einmal zu der ledigen Jugend auf der Kirchweihe sich gestellten! ... Es ist der größte Schmerz für rechtschaffene Eltern, ein ungerathenes Kind zu haben, aber auch der seligste Augenblick, wo ein verirrtes Kind wieder in ihre Elternarme zurückkehrt. Davon haben wir heute einen sprechenden Beweis, denn wer könnte wohl theilnahmlos bleiben an der Freude der Theres und des Jacob? ... Möge Gott dem Benedict auch ferner Seine Barmherzigkeit erzeigen, daß wir einst so wie jetzt hier voll Freuden in der Ewigkeit beisammensitzen dürfen! ... Gott weiß es, wie ich den Benedict liebte, seitdem er die ersten Hosen an hatte und diese Liebe ist nicht verschwunden, als er, mit Schande und Fluch bedeckt, sich aus dem Dörflein entfernte! ... Heute, da wir ihn als Mann und Christ wieder unter uns haben, brennt mein Herz recht für ihn und wird ewig brennen! Ich sage: ewig, denn gar bald wird mich Gott zu sich nehmen und daher glaube ich auch vor Euch Allen ein Vorrecht zu haben, dem Benedict zu rathen, wie er glücklich bleiben wird!"

Sich zum Duckmäuser wendend, fahrt der Alte fort:

"Dir rathe ich nun, fürchte Gott und halte Wort, dann kannst du einst mit derselben Ruhe und Freude in die Ewigkeit schauen, wie du es an mir siehst und nun, was diese zwei Mädlen betrifft, die dich mit gleicher Liebe lieben, so entscheide du selbst, denn Eine nur kann´s sein!"

Nach dieser Rede setzte sich der Greis, kein Beifallsgeklatsche ließ sich hören, doch in mehr als Einem Augenpaar standen Thränen, der Benedict jedoch betrachtet arg verlegen bald die Margareth, bald die Rosa und dann wieder seine Mutter, welche neben Margarethens Großmutter, der alten Ursula sitzt.

Er weiß nicht, was er reden soll, hofft, Mutter Theres werde entscheiden, doch diese ist zu gewaltig erschüttert von der Rede des Korbhannes und dem Edelmuth der beiden Mädlen, es entsteht eine lange, peinliche Pause, bis sich endlich gar die bereits 81jahrige Ursula erhebt und redet:

"Wie der Korbhannes vorhin gesagt hat, so muß ich auch sagen: ich habe den Benedict da von seiner Kindheit bis jetzt mütterlich geliebt und er allein ist´s, der mich, eine 80jährige Großmutter, noch einmal aus der stillen Stube in den Hirzen brachte und mir vor meinem Tode den Vorgeschmack ewiger Seligkeit kosten läßt;—aber ich bin der Meinung, er sei noch lange nicht aus allen Gefahren! ... Ich will mit diesen Worten den Ernst seiner Besserung nicht bezweifeln, allein er ist noch zu jung und unerfahren, um sich an fremden Orten unter fremden Leuten stets auf dem ebenen Wege halten zu können. Wir können noch wohl Ursache bekommen und besonders ihr Jüngern, über ihn so zu trauern und ihn so zu beklagen, wie wir uns heute über ihn freuen; er ist noch nicht gewonnen, so lange er von Fremden umgeben ist. Darum aber bin ich der Meinung, es sei am besten, er bleibe seiner einstweiligen Retterin, wie ich das brave Rosel nennen muß, anvertraut! ... Dieses Mädchen, von der uns oft unbegreiflichen Vorsehung gar früh in die fremde Welt hinausgeschleudert und der rohesten Behandlung preisgegeben, hat sich trotz allen widrigen Umständen gar lieblich, Gott und Menschen wohlgefällig entfaltet! ... Das Rosele bekam von Gott die Gnade, zu bewirken, was wir alle sehnlichst zu wirken wünschten und doch nicht vermochten! ... Alle unsere Ermahnungen, Warnungen und Strafen blieben fruchtlos bei diesem Verirrten, das Rosele aber hat ihn durch ihren Blick wieder zu einem Christenmenschen gemacht, dessen wir uns heute alle freuen! ... Dies scheint mir ein Beweis zu sein, daß er für keine andere als für das Rosele und das Rosele für keinen andern als für ihn geboren sei! ... Wohl mag ihr durch den Benedict noch Bitteres genug zustoßen, doch sie ist wie keine andere von Allen, die hier sitzen, so für Ausdauer in Leiden und Widerwärtigkeiten gemacht, daß sie ihn wohl zum zweiten und drittenmal retten könnte, wenn's, was Gott verhüte, die Noth erfordere! ... Gewiß bleibt, daß dem Rosele eine Kraft und Gnade innewohnt, um seine Seele zu bewahren, daß dieselbe nicht ganz für Religion erkalte und ersterbe! ... Die Hoffnung und das Zutrauen auf dieses Mädle kann mir Niemand nehmen und darum sag' ich: unsere Margreth soll dem Rosele nicht in den Weg treten!"

Alles stimmte bei, die Margareth verzichtet mit einem Kusse, welchen sie der Rosa gibt und wobei ihr doch Thränen in die Augen schießen, die sie mannhaft zurückdrängt, die Rosa aber hat während Ursulas Rede oft die Gesichtsfarbe gewechselt und später dem Benedict, welcher sie deshalb befragte, gesagt, erstens habe sie bei der Aufzählung seiner alten Fehler einen großen Schmerz empfunden und sich denken können, wie wehe es ihm thue, zweitens habe die Großmutter alle bangen Ahnungen vom Soldatenleben, welche sie gewaltsam unterdrückte, wieder auferweckt, es sei ihr gar seltsam und unheimlich ums Herz.

Der Duckmäuser sagt, bei der Aufzählung seiner Sünden sei es ihm gewesen, als ob man Alles nur sage, um Andere zu warnen und vor Schaden zu behüten und beruhigt die Geliebte ein wenig, so daß sich dieselbe zur Mutter Theres setzt und mit dieser sich unterhält.

Der Benedict nimmt dann die 80jahrige Ursula in den Tanzsaal und noch heute redet man davon, wie er zuerst mit der alten Prophetin und nachher mit der schwächlichen Mutter Theres tanzte und wie gewaltig die Freude diese beiden Frauen verjüngte und kräftigte, so daß sie es zur Verwunderung aller Anwesenden aushielten bis zum letzten Ton, wiewohl von keinem bedächtigen Menuett, sondern von einem Bauernwalzer die Rede gewesen ist.

Freilich war der Hobist auch der beste Tänzer der Gemeinde und trug die zwei Alten fast immer schwebend im Kreise herum. Nach drei Kirchweihtagen wußte er wieder einmal, Tanzen sei auch eine Arbeit und das Rosele pries sich glücklich, weil er mindestens nicht bei ihr seine Müdigkeit und Abgeschlagenheit aller Glieder geholt hatte; die alten Herzkäfer der schwarzen Schwitt dagegen meinten, er habe ihnen unsäglich viel Ehre angethan, doch hätte er mit Jeder noch ein bischen mehr walzen können!

Auf große Freud' folgt großes Leid! heißt ein altes Sprichwort und daß es gar oft ein wahres werde, erfuhr der Held der herrlichen Kirchweihe bald, ja das Leid trieb ihn aus dem Dörflein in die Garnison zurück, noch ehe sein Urlaubspaß abgelaufen war.

Er sitzt eines Abends, wo das Rosele wieder daheim beim Straßenbasche sitzen und diesem von der seit urdenklichen Zeiten unerhörten Kirchweihe ihres Geburtsortes erzählen mag, mit Vater, Mutter und einigen Hausfreunden am Tische; das Gespräch kommt auf die Leichenbegängnisse und das Leidtragen der Soldaten. Der Duckmäuser erklärt, jeder Soldat, welcher Leid tragen wolle, trage einen schwarzen Flor am Arme oder auch nur eine schwarze Schleife auf der Brust, je nachdem ihm an der verstorbenen Person mehr oder weniger gelegen sei.

Darauf fragt die Mutter:

"Nun, wenn ich einmal sterbe, dann wirst du gewiß einen recht großen Flor tragen?"

Rasch und lächeld [lächelnd] meint der Benedict:

"Wenn Ihr einmal sterbet, dann stecke ich einen weißen Federbusch auf meinen Kriegshut!"

Hat jemals Einer Grund bekommen, einen unbesonnenen Scherz bitterlich zu bereuen, so ist dieser Eine der arme Hobist.

Kaum ist das Wort aus seinem Munde, so wendet ihm die Mutter den Rücken zu und unfähig, ein Wort zu reden, beginnt sie so heftig und laut zu weinen, daß alle Dasitzenden erschrecken. Was half es, daß Alle die Weinende zu beruhigen suchten und ihr den Scherz erklärten? Daß der Benedict endlich selbst mitweinte und sich anbot, unter ihren Händen augenblicklich zu sterben, wenn er damit beweisen könne, wie aufrichtig er sie liebe?

Das von unsäglicher Liebe erfüllte Mutterherz scheint in Einem Augenblicke gänzlich versteinert zu sein; sie hört später mit Weinen auf, doch bleibt sie unerbittlich, kein gutes Wort kommt mehr gegen ihn aus dem Munde, sie mag und will ihn nicht mehr sehen, er muß aus dem Hause, soll es bei ihren Lebzeiten nicht mehr betreten.—Der Wunsch ging in Erfüllung.

Wie Einer fast ohne Schuld des Teufels werden kann

Von Allen, welche ihn liebten und fruchtlos versucht hatten, den Duckmäuser mit der Mutter auszusöhnen, tief bedauert, kehrte derselbe in die Garnison zurück.

Das Erste, was er erfährt ist, daß sein Regiment nach Freiburg zurück verlegt wird. Rasch schreibt er diese frohe Nachricht seiner Rosa und bittet dieselbe, ihn doch um Gotteswillen mit der Mutter auszusöhnen, auf ihr ruhe hierin noch seine einzige Hoffnung.

Der Abmarsch nach Freiburg wird so rasch angetreten, daß er Gelegenheit bekommt, die Antwort auf den Brief selbst zu holen, weil dieselbe doch etwas lange ausgeblieben ist.

Freudig wird er vom Straßenbasche, Saumathis, vom Rosele und allen Bekannten empfangen, doch—Roseles Antwort lautet untröstlich genug. Was er, der Vater, die Geschwister, die Mädlen der schwarzen Schwitt, der Korbhannes sammt der Ursula und vielen Andern nicht vermocht hatten, setzte auch das Rosele nicht durch, im Gegentheil erging es ihr am schlechtesten.

In ihrer Unschuld und Liebe bat sie am eindringlichten, versicherte, nicht weichen zu wollen, bis ihrem Benedict der übel angebrachte, doch arglose Scherz verziehen sei, dafür fiel auch sie bei Mutter Theres in volle Ungnade und diese wies sie aus ihrem Hause, um niemals wieder über die Schwelle desselben zu treten.

Solche Kränkung schmerzte, empörte, allein die Liebe duldet Alles und das Mädchen bedauerte nur, daß auch seine Bemühungen vergeblich gewesen, der Straßenbasche mit seinem Weibe schüttelt den Kopf und meint, die Weiber seien ein wunderliches, unergründliches Volk.

Kaum ist der Benedict wieder in die Garnison zurück, so entdeckt er den Nebelspalter des Vaters und richtig steht dieser bald vor ihm und erzählt, die Mutter habe ihn hergeschickt, damit er dem Herrn Kapellmeister empfehle, den Hobisten Benedict recht strenge zu halten und niemals wieder zu beurlauben.

"Abschlagen hab ich´s der Mutter nicht können; seit jenem Abend redet und deutet sie wenig, nimmt grausig ab und ist kränklich, bin halt zum Herrn Kapellmeister gegangen und hab´ ihn zuerst gefragt, wie du dich aufführtest. Er hat dich sehr herausgestrichen, deßhalb habe ich meinen Auftrag auch nicht ausgerichtet, ´s wär eine Ungerechtigkeit. Halte dich nur brav, die Mutter wird auch wieder anders werden!"

So sprach der Vater, als er vom Sohne Abschied nahm.

Das Mütterlein wurde jedoch nicht anders, sondern sandte an der Stelle ihres Alten die Salome zum Herrn Kapellmeister. Salome war ein lediges, jedoch mit fünf lebendigen Kindern gesegnetes Weibsbild, trug Gebetbuch, Rosenkranz, den Loosungsgroschen und die Karte zum Kartenschlagen stets in Einer Tasche, übernahm Wallfahrtsgänge für die halbe Welt, deßhalb auch die Wallfahrt zum Herrn Kapellmeister, zumal Mutter Theres ihr ordentlich spendirt und noch mehr versprochen hatte, wenn sie etwas ausrichte.

Die Salome wußte gar ehrbare und erbauliche Gesichter zu schneiden, Alles gut einzufädeln, was sie einfädeln wollte und es war ihr ein Leichtes, den Kapellmeister, einen wackern, offenen Soldaten, der nicht gerne an Verstellung glaubte, weil er selbst aller Verstellung fremd war, gegen den Duckmäuser einzunehmen.

Zuerst beschrieb sie demselben den answendigen, dann den inwendigen Benedict von der Geburt bis zur letzten Kirchweihe, erzählte alle Streiche desselben, wußte den unseligen Scherz mit dem Traueranlegen als Verbrechen darzustellen, beschrieb dann auch die Rosa als ein verdorbenes, gottvergessenes und heuchlerisches Geschöpf und schloß, indem sie den Kapellmeister im Namen der tief bekümmerten und gekränkten Mutter des Benedict bat, diesem keinen Urlaub mehr zu geben und ganz besonders auch die Ausflüge ins Rheindorf zum Rosele zu untersagen.

Wer schon bei der nächsten Probe dem staunenden und betretenen Duckmäuser in Gegenwart aller Hobisten sein ganzes früheres Leben, seine "ganze verfluchte Duckmäuserei" und die schändliche Rede gegen die alte Mutter vordonnerte und ihm öffentlich aufs strengste verbot, jemals wieder einen Fuß zu der "liederlichen Fuchtel" ins Rheindorf zu setzen, das war der Herr Kapellmeister.

Wie verächtlich betrachteten die ältern Hobisten jetzt den Benedict, wie schadenfroh lachten die jüngern und besonders die leichtsinnigsten über den "Klosterbruder!"

Einen Brief nach dem andern, einer rührender als der andere, schrieb derselbe an die Mutter, um ihr Herz zu erweichen; nie erhielt er eine Antwort und weil er nicht mehr zum Rosele hinüber durfte, kam dieses mit und ohne den Straßenbasche zuweilen herüber.

Solches wird dem Kapellmeister gesteckt, einem Hagestolz, der als Todfeind aller Bekanntschaften seiner Untergebenen, besonders der jüngern bekannt ist und jetzt den Umgeher seines Verbotes recht zu fuchsen sich vornimmt.

Wo fehlen beim Militär jemals Gelegenheiten zum Strafen, wenn ein Vorgesetzter darauf ausgeht, Einem das Leben zu entleiden?

Selten fand eine Probe statt, bei welcher der Kapellmeister den Hobisten Benedict nicht andonnerte oder strafte, dieser gewann bald Aehnlichkeit mit seinem ersten Vorbilde, dem Compagnieschneider, insofern auch er bereits immer Zimmerarrest hatte.

Von der Kirchweihe bis zur Fastnacht hielt der Duckmäuser aus und machte seine Sache durch sein heißes Blut nicht schlimmer; das Romanlesen verlieh ihm Gleichgültigkeit und Erhabenheit gegen die Quälereien prosaischer Seelen und Genuß, weil er sich selbst für einen von Schicksalstücke arg Verfolgten halten mußte.

An Fastnacht bekamen alle Hobisten, sogar Meister Feucht für 3 Tage Urlaub, Benedict sollte beim Adlerwirth im Rheindorfe drüben aufspielen—der Kapellmeister jedoch gab ihm an der Stelle des Urlaubes drei Tage Zimmerarrest.

Am Fastnachtsonntag saß er mutterseelenallein im Zimmer, hatte deßhalb auch die Zimmertour und weil's gerade ein Brodtag war, so faßte er das Brod für die Hobisten und legte jedem seine zwei Laibe auf das Bett. Gegen Abend hielt ers nicht mehr aus, sah nur immer das weinende Rosele vor sich, nahm sich Urlaub aus dem eigenen Tornister, trat Abends zehn Uhr halberfroren in Straßenbasches Haus, verlebte im Rheindorfe zwei lustige Tage und kehrte am Aschermittwoch in die Kaserne zurück.

Beim Eintritt in die Stube kommt ein Hobist auf ihn zu und klagt, weil ihm ein Laib Brod fehle; der Duckmäuser behauptet, jedem beide Laibe auf das Bett gelegt zu haben und wie er noch redet, wird er arretirt und wegen eigenmächtigen Urlaubes zum erstenmal ins Dunkle gesetzt.

Kaum tritt er aus dem Arreste, so kommt der Oberlieutenant, fragt nach dem Laibe Brod, welcher dem Hobisten fehlte; der Benedict schwört hoch und theuer, das Brod richtig gefaßt und richtig ausgegeben zu haben, eine Untersuchung wird eingeleitet und der Duckmäuser wegen Unterschlagung eines Brodlaibes im Werthe von 7 Kreuzern standgerichtlich zu drei Tagen Arrest verurtheilt; ein standgerichtliches Urtheil hat aber stets die Entziehung der Einstandserlaubniß zur Folge und dies setzt den Bestraften in arge Betrübniß.

Kaum ist er frei, so findet sich der Brodlaib; Alles beruhte auf einer Verwechslung mit dem Brode eines andern Hobisten, der Benedict fordert beide Hobisten dringend auf, seine Unschuld an den Tag zu legen; sie wollen ihn insgeheim mit einer kleinen Vergütung zum Schweigen bringen, doch er will nichts als seine Ehrenrettung, dazu lassen sie sich nicht bewegen, er verflucht und verwünscht Beide und—merkwürdig! beide starben noch in jenem Jahre, der eine ertrank, der andere bekam einen Blutsturz nach dem andern und starb gleichfalls.

Benedict gedachte der bangen Ahnungen des Rosele; eine schöne Gelegenheit zur Erlernung des Schreinerhandwerkes bietet sich ihm an, er faßt ein Herz, geht zum Oberst und fordert seinen Abschied. Der grundehrliche, brave, jedoch barsche und rauhe Soldat nimmt den Degen, schlägt das Hobistlein nach Noten herum und poltert: "Ich will dir den Abschied auf den Rücken schreiben, du Hundsfötter, du! ... Wir müssen dich fuchteln, sonst stirbst du im Zuchthause, du verstellte, heimtückische Bestie!"

Brav durchgewalkt kehrt der Verzweifelnde in sein Compagniezimmer zurück, welches er drei Frühlingsmonate nicht mehr verlassen darf. Er vergeht fast vor Schmerz, doch hält er immer ritterlicher aus, denn seine Romane verleihen ihm Trost, Muth, Heldenkraft. Zum Musiciren spürt er wenig Lust mehr, liest wie der große Trommelschläger den ganzen, lieben langen Tag, denkt und lebt sich ganz in seine Bücher hinein und ist fest entschlossen, nach dem Muster der heldenmäßigsten Ritter allen Flohstichen und Keulenschlägen eines widrigen Geschicks mannhaften Trotz zu bieten!

Während der Verbannung im Compagniezimmer kam ein schwarz versiegelter Brief vom jüngern Bruder, vom Hannesle, welcher ihm meldete, die Mutter sei gestorben und habe ihm in ihrer letzten Stunde Verzeihung angedeihen lassen.

Seit jenem Abende, an welchem Benedict harmlos scherzte, er werde für sie mit einem weißen Federbusche auf dem Kriegshute trauern, gab sich Mutter Theres einer Schwermuth hin, welche nicht mehr wich; sie wurde still und in sich gekehrt, suchte immer die Einsamkeit, aller Trost und alles Gerede blieben von ihr ungehört und den Namen ihres Sohnes durfte Niemand nennen, wer sie nicht in die furchtbarste Aufregung versetzen wollte. Von Tag zu Tag nahmen ihre Kräfte sichtbar ab, sie wurde bettlägerig, ihr Zustand verschlimmerte sich und die Aerzte mit ihrer Weisheit standen rathlos am Krankenbette.

Schon zur Zeit der Fastnacht, an welcher die rothen und schwarzen Schwittler sich endlich in die Haare geriethen und barbarisch prügelten, wie dies im weinreichen Baden gar oft der Fall zu sein pflegt, erwartete man das Ende der Mutter Theres und die herrliche Margareth wich fast nicht mehr von deren Bette.

Schwankend zwischen Leben und Tod lag die Dulderin viele Wochen; in ihren letzten Tagen nannte sie häufig den Namen ihres Sohnes, doch so oft man fragte, ob man denselben herbeiholen sollte, schüttelte sie verneinend den Kopf. Plötzlich schien sie von Neuem aufzuleben, die Krankheit gewichen zu sein, sie vermochte wieder deutlich zu sprechen, bat, den Benedict herbeizuholen, sie wolle und müsse demselben Alles verzeihen, wenn sie selbst Verzeihung bei Gott erlangen wolle, denn Alles habe sie dereinst an ihrer eigenen Mutter verschuldet.

Halb aufgerichtet im Bette legte sie vor allen Anwesenden das Bekenntniß ihrer Schuld ab und kaum war solches geschehen, so sank sie tod [todt] in ihr Kopfkissen zurück!

Es gibt unzählige Dinge zwischen Himmel und Erde, wovon sich die Philosophen gar nichts oder nicht gerne träumen lassen, weil jeder Luftzug aus einer überirdischen Welt ihre gar emsig und kunstreich gewobenen Spinnengewebe zu zerreißen im Stande ist.

Werke sind besser als Worte, Thatsachen lehren eindringlicher denn alle Spitzfindigkeiten der verständig gewordenen Vernunft, deßhalb mag die Jugendgeschichte der Mutter Theres das räthselhafte Benehmen während der letzten Zeit ihres Lebend erklären oder doch einigermaßen aufklären.

Ihr Vater, ein vermöglicher und braver Mann starb sehr frühe, von einem zweiten Manne bekam ihre Mutter noch einen Sohn und zwei Töchter. Dem letzten Willen des Vaters gemäß sollte Theres, sein einziges Kind, die Hälfte seiner Hinterlassenschaft in Empfang nehmen, sobald sie das achtzehnte Jahr erreicht haben würde, die andere Hälfte jedoch erst nach dem Tode der Fränz, ihrer Mutter. Theresens Stiefvater war ein roher, wüster, leidenschaftlicher Mann, mit welchem Mutter Fränz recht unglücklich lebte und welcher sich immer mehr dem Trunke ergab. Geduldig ertrug Therese alle Unbilden und Mißhandlungen, welche ihr Stiefvater sammt den Stiefgeschwistern ihr alltäglich anthaten, wurde 18, 20, 22 und 24 Jahre alt, blieb bei der Mutter, deren einziger Trost sie war und dachte nicht an die Herausgabe des halben Vermögens.

Armuth und Elend nahmen jährlich im Hause zu, der Stiefvater verkaufte, was ihm beliebte; von allen Seiten wurde Therese gewarnt, ihr Eigenthum zu retten und in ihrem 26. Jahre verließ sie endlich das Haus der Mutter und heirathete den Jacob.

Bei dieser Gelegenheit kommt die schlechte, gewissenlose Wirthschaft des Stiefvaters an den Tag, Fränz schaut jammernd in die Zukunft und bittet die Obrigkeit um Hülfe, der Trunkenbold wird endlich mundtod [mundtodt] gemacht, mißhandelt die Fränz ärger als je, bis sich der Himmel erbarmt und die Arme von ihrem Quälgeiste erlöst.

Theres hauste mit dem Jacob, ihre Stiefschwestern heiratheten auch kurz nach einander, die Fränz lebte jetzt allein mit ihrem Sohne, dem Paul. Dieser schlug seinem rohen, wüsten, trinklustigen Vater in Allem nach, doch war er noch jung und wurde vorläufig nur von Neid und Mißgunst verzehrt, weil er sehen mußte, wie die Therese, seine Stiefschwester, die schönsten Grundstücke und Hausgeräthe und Anderes dem Jacob in die Ehe brachte. Am meisten schmerzten ihn die beiden Rappen, seine Lieblinge, welcher der Schwager aus dem Stalle holte und wenn der Paul gar daran dachte, die Stiefschwester werde nach dem Tode der Mutter Fränz die andere Hälfte ihres väterlichen Vermögens beanspruchen, dann wußte er sich fast nicht mehr zu helfen vor Neid und Haß, zumal der eigene Vater mit all seiner Habe fertig und auf Unkosten der Fränz beerdiget worden war.

Mutter Fränz mußte dem Paul ihre Vorliebe schenken, ob sie wollte oder nicht und dieser war kaum volljährig, so suchte er eine reiche Frau zu bekommen. Im Dorfe und in der Umgegend nicht sonderlich gut angeschrieben, durfte er nicht an jeder Thüre anklopfen, zuletzt erschlich er sich die Liebe eines sechszehnjährigen Mädchens, der hübschen, muntern und vermöglichen Christine und die Mutter derselben gab die Heirath zu, weil die ältere Tochter sich hatte verführen lassen und weil sie fürchtete, gleiche Schande an der jüngern erleben zu müssen. Der Vogt, ein unumschränkter Dorfmonarch und vielgeltender reicher Mann, war Christinens Vetter, hatte deren Heirath mit dem Paul ungerne gesehen, doch als diese nicht mehr verhindert werden konnte und geschehen war, nahm er sich des Paares gewaltig an.

Bald redete Paul mit dem vielvermögenden Vetter, auf welche Weise die Therese um ihre halbe Erbschaft gebracht werden könnte; der Vogt versprach Alles zu thun und hielt Wort, bald entspann sich eine Dorfintrigue, worin Mutter Fränz, ihre Kinder aus zweiter Ehe und ihre Tochtermänner Hauptrollen spielten. Die Leute munkelten und redeten viel von diesen Intriguen, Jacob und Therese bekümmerten sich anfangs wenig darum, weil sie auf ihr geschriebenes und gültiges Recht pochten, doch wie endlich allgemein und laut gesagt wird, Fränz habe ihre älteste Tochter verstoßen und von der halben Erbschaft ausgeschlossen, geht Therese zur Mutter, um dieselbe über das Geschwätz zu befragen. Mutter Fränz erschrickt sichtbar, kann der Tochter nicht in die Augen schauen, gibt lauter ausweichende Antworten und dies beunruhigt natürlich diese gewaltig.

Am andern Morgen langt Jacob seinen langen Rock aus dem Kasten, setzt den Nebelspalter auf und begleitet sein Weib zum Hofe des Dorfmonarchen.

Der Vogt hört Alles ruhig an, dann donnert er los:

"Du, Theres, bist eine eigensinnige, bösartige Tochter gewesen, kannst es vor Gott nicht verantworten! ... Thut deine Mutter wirklich also, wie du da klagst und fragst, so hat sie Recht, du hast's tausendfältig an ihr verdient! ... Als deine Mutter im größten Elende bei ihrem liederlichen Manne schmachtete, bist du fortgelaufen, hast einen Mann genommen, die arme Frau wie eine Räuberin ausgeplündert! ... Wäre ich damals Vogt gewesen oder hätte mich's angegangen, ich würde dir einen Strick um den Hals gelegt haben, du unbarmherziges Thier!"—Die Ungerechtigkeit der Mutter und Stiefgeschwister kränkte die schuldlose Therese zehnmal mehr, denn der Verlust der halben Erbschaft, doch vertraut sie auf ihr gutes Recht und Gott, und hütet sich, den Anklagen des Dorfmonarchen durch ein böses Wort gegen die Mutter eine Handhabe zu geben.

Sie hütet sich nicht wochen-, sondern jahrelang und es scheint Gras über die Angelegenheit gewachsen zu sein, über welche erst der Tod der Mutter Fränz Aufschluß und volle Gewißheit zu geben vermag.

Eines Morgens kommt der mürrische, versoffene Paul zur Therese und fordert einen ausgehauenen Schweinstrog, welcher in Jacobs Hof steht, von ihr zurück, weil der Schweinstrog nicht ihrem, sondern seinem Vater zugehört habe. Therese lacht dem Paul ins Gesicht und gibt zu verstehen, sie sei im Stande, ganz andere Forderungen zu machen, wenn das Betragen der Stiefgeschwister es erheische.

Jetzt fährt der Stiefbruder auf, schreit ingrimmig:

"Was du zu erwarten hast, das hast du schon und darfst dich glücklich schätzen, wenn du nichts herauszahlen mußt!" und poltert zur Stube hinaus, deren Thüre er zuschlägt, daß das ganze Haus und Therese vor Zorn und Entrüstung zittert. Wenige Minuten später kommt Mutter Fränz, weiß nichts von dem Vorgefallenen, klagt über Unwohlsein und die noch unwillige und aufgeregte Therese meint:

"Sterbet in Gottes Namen, Ihr könnt nichts Besseres thun! ... Nur sagt es mir zuvor, daß ich mir ein weißes Kleid kaufe zum Leidtragen für Euch!"

Diese Aeußerung kränkte Mutter Fränz bitter, sie verließ die Stube, kam nie wieder zurück, verfiel in eine langwierige Krankheit und ließ der ältesten Tochter erst wenige Minuten vor dem Tode Vergebung angedeihen. Mehrere Wochen saß diese Tag und Nacht beim Krankenbette der Mutter, die 3 Stiefkinder kümmerten sich nicht im mindesten um die Sterbende, denn sie hatten, was sie wollten, nämlich ein schriftliches Testament, nach dessen Wortlaut Therese auch nicht Einen Kreuzer erhielt.

Sterbend verlangt Mutter Fränz das Testament, welches gleich nach der ersten und letzten Beleidigung von Seite Theresens geschrieben worden, zurück, um es zu vernichten, doch ein Tochtermann hatte es in Verwahrung und war über Feld gegangen, der Vogt wird herbeigeholt und hört das letzte Wort der Mutter Fränz: "das Testament ist ungültig, un—" Kaum ist diese eine Leiche, so kommt der Tochtermann von der Reise zurück, zeigt das Testament, der Vogt erklärt, der Widerruf gelte nichts, weil die Sterbende nicht mehr bei Besinnung gewesen, Theresens halbes Erbe bleibt verloren, denn diese fängt keinen Prozeß an, sondern betrachtet die Enterbung als eine Strafe des Himmels.

Mutter Theres war eine fromme, gottesfürchtige Frau; eine freudlose und leidenreiche Jugend hatte sie vorbereitet, mit dem finstern, strengen, doch dabei fleißigen, grundehrlichen und gerechten Jacob glücklich zu leben. Der Benedict war es, der ihr zumeist Sorge und Kummer bereitete, sie an alte Zeiten erinnerte und am Ende glauben machte, er sei von der Vorsehung bestimmt, an ihr die Verwünschungen zu erfüllen, welche Mutter Fränz nach dem erwähnten Auftritte gegen sie ausgestoßen hatte.—Der Besuch in der Kaserne und die Kirchweihe hatten ihre abergläubischen (wenn man's so nennen will!) Befürchtungen zerstreut; der, welchen sie von je am zärtlichsten geliebt und welcher sie am tiefsten betrübt hatte, war wiedergefunden. Sie liebte denselben von jeher mehr als eine gewöhnliche Mutter, mehr als alle andern ihrer Kinder, warum—wußte sie selbst nicht; die Kirchweihe weckte die ganze Gluth ihrer zärtlichsten und sicherlich nicht durch Romanlesen verminderten oder gesteigerten wahrhaftig leidenschaftlichen Liebe,—Der unglückselige Scherz, welchen der Hobist machte, in derselben Stube, in welcher vor vielen Jahren Mutter Fränz ihre Tochter verfluchte und in einer Stunde machte, wo das Licht noch nicht angezündet war, so daß sie nur die verhängnißvollen Worte vom weißen Leidtragen hörte, die Miene des Sohnes jedoch nicht sah; dies überzeugte sie von Neuem, der Fluch des Himmels laste noch auf ihr und ihr ältester, geliebtester Sohn sei geboren, um diesen Fluch zu erfüllen.

Gewiß war sie selbst überzeugt, derselbe habe es mit den paar Worten nicht böse gemeint, doch diese paar Worte sprach nicht der Benedict, sondern sprach nach ihrer Ueberzeugung der zürnende Gott zu ihr.

Sie hat den Sohn verflucht als ein Werkzeug des Fluches, hat ihm verziehen, weil der Tod sich ihrer nicht erbarmen wollte—wird der Fluch oder die Verzeihung sich als leitender Gedanke durch die fernere Lebensgeschichte ihres Sohnes ziehen?—

Der Duckmäuser ward durch den Tod und die Verzeihung der Mutter nicht sonderlich ergriffen; er erblickte in diesem Vorfalle nur einen neuen Beweis für die aus seinen Romanen geschöpfte Ueberzeugung, zu einem abenteuerlichen Leben bestimmt zu sein.

Ein von der Vorsehung zu wunderbaren Dingen ausgerüsteter Mann seiner Art läßt sich durch alle Anfechtungen der prosaischen Außenwelt wenig berühren, lebt in andern Zeiten und höhern Regionen und begnügt sich, prosaischen Vorgesetzten tiefe Verachtung und ritterlichen Trotz entgegenzusetzen und diesem "Gewürme", welches auf der Keule des Herkules herumkriecht, thatsächlich zu beweisen, daß man nach seinen kleinlichen und winzigen Chikanen so wenig frage, als nach den Ansichten und der Ordnung der gegenwärtigen prosaischen Welt überhaupt.

Der Oberst hatte den Hobisten in den Zimmerarrest und damit in die ohnehin geliebte Romanenwelt hineingeprügelt, drei Monate lang lebte der Hobist dem Obersten zum Trutz sehr glücklich in Burgen, bei Turnieren, focht wacker gegen Sarazenen, befreite mehr als Ein Ritterfräulein mit blauen Augen und hochwallendem Busen, oder zog sich als weitgefürchteter Räuberhauptmann in unzugängliche Felsburgen zurück.

Kaum während der Probe wußte der Glückselige Etwas von der prosaischen Wirklichkeit und mehr als einmal redete er bei seinen Erbsen und Kartoffeln laut genug von fehdelustigen Rittern, treuen Knappen und Fräuleins, welche ihm statt Gänseweines Nektar kredenzten. Wie die Hobisten von je den großen Trommelschläger verlacht und verspottet hatten, so verspotteten und verlachten sie jetzt auch den Benedict—hatte sich jener wenig daraus gemacht, so bewirkten sie bei diesem das Gegentheil. Mehr als einmal kamen gutmeinende Vorgesetzte und Offiziere, um dem Hobisten Benedict zuzusprechen, damit er nicht in Doctor Rollers Hände falle, allein Güte und Ernst prallten an ihm ab.

Die drei Monate des Zimmerarrestes waren beinahe zu Ende, da tritt ein sehr beliebter, gebildeter und braver Adjutant in das Hobistenzimmer und macht dem Bedict [Benedict], der stets mit Rittern und Fräuleins redet, ganz ruhige, vernünftige und menschenfreundliche Vorstellungen. Doch dieser hört ihn kaum und wie der Adjutant ihm das Narrenhaus prophezeit, streckt er die Hand aus und spricht wörtlich also:

"Du bist nicht als ein Apostel berufen und hast einem so unerschrockenen Ritter meiner Art durchaus keinen Vorwurf zu machen, deßhalb schweige, wenn ich dir nicht den Fehdehandschuh vor die Füße werfen und dir meine Kraft fühlen lassen soll!"—

Die Antwort des Adjutanten lautete auf 3 Tage Dunkelarrest, der Dunkelarrest machte den Kopf des Duckmäusers nicht heller! ... Endlich sind die 3 Monate des Zimmerarrestes verflossen, beim Beginne derselben war der Frühling kaum im Werden, jetzt findet der Befreite Leben, Bewegung, Freude, Liebe und Schönheit allenthalben; Alles, was er sonst gleichgültig betrachtete, hat für ihn hohes Interesse, er fühlt sich gleichsam neugeboren und ein schöneres, höheres Leben ist in ihm wach geworden!—

Lesefrüchte

Es steht zu vermuten, daß der Straßenbasche ein oder auch zweimal die Treppen des Commandantenhauses hinanstieg, um den Herrn Obersten, seinen alten Kriegsgefährten zu besuchen, die angetastete Ehre seines Rosele zu retten und für den Benedict ein gutes Wort einzulegen. Eines Tages nämlich sprach der Oberst zum Kapellmeister:

"Hören Sie, Ihr Hobist, der Benedict, ist kein schlechter Kerl, aber er wird durch seine verfluchte Leserei ein größerer Narr, denn der große Trommelschläger! ... Der Kerl hockt noch im Zimmerarrest, dauert mich halb und halb und wenn zuweilen sein Schatz vom Rheine herüberkommt, um ihn zu besuchen, so wollen wir nichts dagegen haben. Es soll ein verständiges, braves Mädchen sein und ganz geeignet, den Kerl vor dem Narrenhaus zu bewahren!"

Der Kapellmeister schrieb sich diese Ordre hinter die Ohren und wendete nichts dagegen ein, wenn Straßenbasches Pflegetochter an Sonntagen zuweilen in die Kaserne kam, um den gefangenen Träumer zu besuchen, wurde jedoch diesem nicht grüner.

Die Veränderung, welche in diesem vorging, blieb der Rosa nicht verborgen, denn er sprach jetzt häufig in einem himmelhohen Style, welchen sie nicht verstand und die einst so demüthigen, bescheidenen und ergebenen Reden desselben nahmen allmälig ein Ende. Sie ermahnte ihn gar zu lehrmeisterisch, den Obern zu gehorchen und brav zu werden, langweilte ihn mit ihren prosaischen Predigten und obwohl er in ihrer Gegenwart die lichtesten Augenblicke hatte und niemals vergaß, hundertmal "auf Ritterwort und Handschlag" Gehorsam zu geloben, so hegte sie doch wenig Hoffnungen und kehrte jedesmal nachdenklicher zum Straßenbasche zurück.

Jetzt stolzirt der Benedict an schönen Sommerabenden als freier Mann in der Gegend herum, die Gestalten seiner Romane steigen von den Burgruinen herab in die Ebene, wandeln um ihn herum und er entdeckt gar viel Ritterliches und Fräuleinhaftes in den schöngeputzten Städtern und Städterinnen.

Außer den Mädlen der beiden Schwitten und der Rosa mit ihren Kamerädinnen hat er noch keine Weiber kennen gelernt, doch weiß er jetzt, jene seien prosaische, gefühllose, ungebildete "Bauerndötsche" in Zwilchröcken, mit sonnenverbrannten Gesichtern, braunen Armen und abgearbeiteten, rauhen Händen. Wie niedlich und zierlich sind dagegen die Städterinnen gekleidet, wie zart, von Liebesgram gebleicht oder von beglückter Minne verklärt die Wangen, wie grazienhaft der Gang, wie fein und tugendsam ihr Benehmen! Täglich sieht er Hunderte, für die er sofort Lanzen haufenweise brechen würde und täglich Eine, welche auf milchweißem Rosse mit fliegendem Schleier auf ihrem Zelter sitzt, neben ihm den steilen Burgweg hinaufreitet, der Burgwart stößt gewaltig ins Horn, die Knappen schwingen jubelnd ihre schartigen Flamberge, der alte Kuno macht seine Meldungen, der Ritter führt die Ritterin in den hohen Rittersaal und getheilt zwischen Minne und Kampf verlebt er in der neugebauten Burg seiner Väter endlose Jahre voll Seligkeit—bis in Freiburg der Tambour seine Kameraden zum Zapfenstreich herausschlägt und der zum Hobisten degradirte Ritter auf des Schusters bescheidenem Rappen in den prosaischen Kasernennothstall zurücksprengen muß! ... Der Straßenbasche trägt nichts Ritterliches und Knappenhaftes an sich, die Rosa bleibt ein ehrliches, gutes, doch plumpes und grobfühlendes Landmädchen, nur der große Trommelschläger versteht vollkommen Benedicts Seufzen, Fühlen und Denken, theilt dessen romantischen Weltschmerz; noch mehr, der Trommelschläger hat viele Bekanntschaften in der höhern Frauenwelt der Städte gemacht und versichert, neben zahllosen, prosaischen, abgeschmackten Klötzen gebe es unter den Dienstmägden und Bürgertöchtern zarte, empfindsame Seelen, der treuesten Minne würdig und von der anmuthigsten Hingebung!

Geht der Duckmäuser über den Karlsplatz oder in den romantischeren Alleegarten, wo die Ritterfräuleins mit zarten Früchten der Minne sitzen und wandeln, dann richtet er sich stolz empor, nimmt das Schwert unter den Arm, schreitet mit Ritterschritten eines Niebesiegten an denselben vorüber, nicht ohne ihnen züchtige und minnigliche Blicke zuzuwerfen und ist voll Liebessehnen und Seligkeit! ... Wie oft steht er auf dem Schloßberge mit dem großen Trommelschläger und beide verfluchen die schaale Wirklichkeit, in specie den Klotz im Kommandantenhause und die Klötze in der Kaserne oder sie träumen von jener Zeit, wo der riesenhafte Münster noch nicht gebaut war, auf dem Kippfelsen drüben wohl mancher Lindwurm hauste und in der Ebene mannhafte Ritter prosaischen Pfahlbürgern ihren Kram abnahmen, dieselben zur Unterhaltung todtschlugen oder in schauerliche Burgverließe schleppten! Manchmal wandelt der große Trommelschläger mit einer Nymphe des Schwarzwaldes oder der Stadt durch die Auen, neben ihm der Duckmäuser mit klopfendem Herzen, unsäglichem Wonnegefühl und tiefer Wehmuth! Im Spätsommer bekommt Letzterer wieder einmal Urlaub, fliegt mit Ritterfräuleins liebestrunken in das Rheindorf, dessen schaale Wirklichkeit ihn ein bischen stark langweilt und bald zieht er durch das Land, um wo möglich irgend eine Burg und Abenteuer aufzutreiben.

Er wandelt zwar allein herum für prosaische Augen, doch neben sich hat er stets die lustige, minnigliche "Itania." Alle Augenblicke breitet diese ihre Schwanenarme nach ihm aus, er drückt sie an den Ritterbusen, erklärt ihr die Schönheiten der Landschaften und redet von seinen und seiner Gegner Burgen, deren hohe Thürme sich in den Silberwellen der Flüsse spiegeln.

Jeder verwitterte Steinhaufen und jeder epheuumrankte Thurm ist ein Magnet, welcher den Hobisten unwiderstehlich die steilsten Berge hinaufzieht und je höher er steigt, desto prachtvoller und einladender steht die Burg da im alten Glanze, desto lebhafter wird das Freudengetümmel im Schloßhofe und jede Distel scheint eine Trompete zu sein, welche dem Längstersehnten, von einer bösen Fee Verwunschenen, den Morgengruß einer neuen Zeit entgegenschmettert.

Allenthalben und überall sucht er seinem Ritterthume Ehre zu machen; es kann nicht fehlen, der stattliche Bursche in der glänzenden Uniform erobert durch sein galantes, edles Benehmen, durch seine gebildet klingenden hochtrabenden Reden und durch Schilderungen seiner edeln Abstammung und Güter im Sturmschritte das Herz eines Fräuleins und dafür, daß er an keine Dulzinea von Tobosa geräth, ist schon gesorgt, weil er nicht in Andalusien oder Estremadura, sondern im Großherzogthum Baden und in einem Herbstnebel des 19. Jahrhunderts herumfährt! ... Die Erkorene ist freilich kein anerkanntes, sondern ein verwunschenes Fräulein, wie deren sogar an den Brunnen zu Freiburg und anderswo angetroffen werden, doch wohnt sie nicht nur auf einem Berge, sondern bei einer Burg, kann mindestens als Tochter eines Burgwartes gelten, der für anlangende Gäste zu sorgen hat und sucht sich allseitig über die Wirklichkeit zu erheben. Ist es unmöglich, die namenlosen Reize Itanias zu beschreiben, so begnügen wir uns mit der Angabe, das Töchterlein des Burgwartes sei ein recht hübsches und lebhaftes Kind von 16 Jahren, in Benedicts Augen natürlich die "engelgleiche Itania" von Kopf bis zu den Füßen geworden.

Ein höflicher Vater, eine für Ritterlichkeit zugängliche Mutter, ein holdes, schuldloses, zutrauliches und plappersüchtiges Fräulein, vortrefflicher Wein, eine Burg vor Augen, ein Feenland am Fuße des Berges— was konnte unserm Ritter zur Glückseligkeit fehlen? Nichts, höchstens ein etwas längerer Urlaubspaß.

Drei Tage voll Seligkeit verlebte er hier; die Seligkeit ward nur Eine Stunde gestört, weil ein Hornist seines Regimentes, welcher den Abschied genommen und im Heimathsorte am Fuße des Berges sich häuslich niedergelassen hatte, gleich einem Gespenst in das Paradies seiner Träume hineinstolperte und aus purem Neid über das Minneglück sogar schlechte Witze über die Arreste und Zimmerarreste des ehemaligen Kameraden riß.

Am letzten Abend sah der Mond ein liebendes Paar innerhalb der zerfallenden Burgruine, fürchterliche Schwüre ritterlicher Treue hörte die Nachtluft, perlende Thränen im Augenpaar Itanias küßte der trauernde Benedict hinweg, denn morgen mußte er in die Welt hinaus, den Kampf mit den Tücken des Schicksals von Neuem aufzunehmen und nur die Gewißheit, die edelste Perle des Landes dereinst zu besitzen, gibt ihm Muth zum Scheiden, Trost im furchtbarsten Schmerze.

Itania lebte auf dem Lande, doch schon ihr Wohnhaus hob sie hoch über die prosaische Alltagswelt empor; aus einem "Pensionate" kürzlich zurückgekehrt, trug sie noch Hut und Schleier, war ein zartgebautes, schlankes und belesenes Mädchen, liebte und verstand Ritterromane, kannte die Welt nur durch diese, denn zwei langweilige Religionsstunden wöchentlich geben weder Gottes- noch Weltkenntniß; auf diese Weise wird der kleine Roman des Hobisten begreiflich und das Unglück lag nur darin, daß er es weit ernstlicher mit diesem Romane meinte, als die 16jährige Itania selbst und daß es ihm gelang, sich rasch die Gunst der Eltern zu gewinnen.

Auf dem Rückwege eilt er in sein Heimathdörflein, jedoch nicht, um das Grab der Mutter oder die Herzkäfer der alten Schwitt zu besuchen, sondern um den Vater zu drängen, damit ihm dieser augenblicklich 50 Gulden vom mütterlichen Vermögen herausgebe, welche er binnen einem Jahre zurückzuzahlen schwört. Jacob macht ein gar bedenkliches Gesicht, will wissen, wozu das Geld dienen solle und zudem hat er fast keines im Hause, doch der Duckmäuser weiß den Alten so zu täuschen und zu bereden, daß dieser noch in der Nacht den schweren Gang zum alten Liebhardt macht, die Summe holt und dem Sohne gibt.

Kaum graut der Morgen, so eilt Benedict aus dem Dörflein, macht zuweilen Sätze wie ein Hirsch und kommt richtig wieder in seine Kaserne, wo er kaum erwarten kann, bis der große Trommelschläger aus dem Arrest erlöst wird, um diesen in das Geheimniß seines Glückes einzuweihen.

Außer dem Kapellmeister und Benedict haben nämlich gerade alle Musikanten des Regimentes Strafen auf dem Hals, weil sie bei einem gemeinsamen Ausfluge Gelegenheit bekamen, ohnentgeldlich gut zu essen und beliebig zu trinken, des Guten zu viel thaten und deßhalb von der Ironie des Schicksals dahin gebracht wurden, sich auf dem Heimwege gegenseitig mit Fäusten und Säbeln zu belehren.

Die innere Seligkeit treibt den Duckmäuser in das Gewühl des Wochenmarktes und wider Erwarten findet er hier das Rosele, welches ihm einen freundlichen Morgengruß entgegensendet, der von ihm gar kühl und betreten erwiedert wird.

"Weßhalb so trotzig heut'? Bist bös mit mir oder was ist mit dir?"

"Muß ich dir Alles sagen? Bin ich unter deiner Oberherrschaft, so daß ich über mein Verhalten Rechenschaft abzulegen habe?"—"Ei, ei, so gefällst du mir, wenn du auf diese Weise anfängst? Womit habe ich denn das verdient?"

Benedict kehrt dem armen Mädchen den Rücken, plaudert mit der Sergeantenfrau, welche ihm die Hemden wäscht, kauft dann in Rosas Nähe einige Rettige und verschwindet im Gewühle.

Am folgenden Tage Abende bringt ihm eine Frau einen Brief vom Rosele voll zärtlicher dringender Bitten um Aufschluß über sein befremdendes und kränkendes Benehmen, voll liebreicher Mahnungen und gutgemeinter Warnungen. Benedict sagt der Ueberbringerin einen Ort, wohin er am Sonntage kommen und die Antwort mitbringen werde.

Richtig kommen Beide zusammen, er gibt dem Rosele einen Brief, sagt Adje, kehrt eilig um und rennt fort, ohne auf das Nachrufen des staunenden Mädchens zu hören, welches den Brief sofort erbricht, liest und mit zitternden Knieen beinahe zusammenbricht.

Er lautet also:

"Rosa! Du weißt, wie man mich seit Langem hier gehalten hat und nun habe ich die sicherste Nachricht erlangt, daß Du und nur Du die einzige und alleinige Schuld daran bist. Will ich mein Loos ändern, so muß ich Dich für immer meiden, was ich um so lieber thue, weil ich glauben darf, Du seiest nicht die bisher vermeinte fromme Rosa, sondern eine Schmeichlerin voll Falschheit und Trug. Besuche mich nicht, ich werde Dir fortan nur mit tiefer Verachtung begegnen. Glaubst Du Forderungen an mich zu haben, so schreibe Alles genau auf und schicke mir die Rechnung, ein anderes Schreiben werde ich nicht annehmen oder ungelesen zerreißen.

   Hobist Benedict."

Die edle Rosa ist des Schreibers Schutzgeist gewesen; noch vor acht Tagen war sie mit dem Straßenbasche beim Oberst und Kapellmeister und legte ein gutes Wörtlein für den wahrhaft Geliebten ein, sie hat ihn aus einem liederlichen Sauhirten zu einem Menschen gemacht, mit Güte und Wohlthaten überhäuft und—dann den Lohn der Welt empfangen, der sie vernichten würde, wenn sie nicht um Gottes und der unsterblichen Seele des Benedict willen gehandelt hätte.

Gott meinte es wohl mit Rosa, als Benedict es böse meinte.

Er opferte seinen Schutzengel einem Trugbilde und that es auf eine Weise, welche uns vollkommen an ihm irre machen müßte, wenn nicht ein geheimer besonderer Beweggrund ihn bei Abfassung des Schreibens geleitet hätte.

Dieses war jedoch der Fall.

Von Kindesbeinen an strebte er nach der Gunst der schönern und bessern Hälfte des menschlichen Geschlechts, das heißt, nach der Gunst der Mädchen und Frauen, mit welchen ihn sein Leben in Berührung brachte. Als Schulknabe und Unterlehrer beschützte er die Kamerädinnen gegen Rohheiten, half denselben in der Schule und bei Schularbeiten, that Alles, um sie angenehm zu unterhalten und für sich einzunehmen. Was der Knabe erstrebt und gewonnen, wollte der Jüngling nicht einbüßen, sondern erhalten und vermehren und hieraus erklären sich großentheils seine Tugenden und Verirrungen, jedenfalls seine Nüchternheit, Mäßigkeit, Scheu vor Geldspielen und die Sucht, Geld auf alle Weisen und durch alle Mittel zu erhalten. Er sparte, betrog, stahl, um seine Rolle als Haupt der altmodischen Schwitt behaupten und den Anhängerinnen derselben kleine Geschenke und frohe Stunden machen zu können. Wie viele seiner Herzkäfer hat er in einer Reihe von Jahren erfreut, welche Opfer hat er oft gebracht, um der Margareth, dem Vefele, der Marzell oder einer Andern ein kleines Geschenk machen zu können! ...

Seitdem er in der Montur steckt, ist es die Rosa, welcher er Geschenke aufdrängt, um ihr seine Liebe, dem Pflegvater seine Sparsamkeit zu beweisen. Er wandelt auf ehrlichen Wegen, muß sich Alles am eigenen Munde absparen und wenn die Geschenke auch nur lauter Kreuzer kosteten, so machen 60 Kreuzer bereits einen Gulden und ein Gulden ist für einen Hobisten schon ein Sümmchen.

Jetzt hat sich der demüthige Hobist zu einem stolzen, mannhaften Ritter gruduirt [graduirt], welcher jedem Adjutanten den Fehdehandschuh kühn vor die Füße wirft; der Ritter hat bitterlich gespart, um eine Ritterfahrt unternehmen zu können, auf dieser Fahrt fand er das Idol, wornach sein überhirnter Verstand und sein fieberhaft pochendes Herz dürstete. Die holdselige 16jährige Itania winkt im langen Kleide und mit fliegendem Schleier von der Burg herab Tag und Nacht dem armen Hobisten in seiner Kasernenstube zu. Großartig ist ihm die Einzige entgegengetreten, großartig hat der Ritter sich gezeigt, großartig muß das erste Geschenk sein, welches er seiner Gebieterin zu Füßen legen will.

Der Hobist log sehr unritterlich beim Vater, um 50 Gulden zu erhalten, er handelte mehr als unritterlich an Rosa, um sich desto ritterlicher gegen Itania zeigen zu können. Die Geschenke an Rosa müssen aufhören!— hierin liegt der Schlüssel zu dem herzlosen, lügnerischen und niederträchtigen Abschiedsbriefe, welchen er derselben in die Hand drückte und dann vom bösen Gewissen getrieben fortrannte.

Die bisherige Geliebte muß wissen, weßhalb er ihr keine Geschenke mehr macht; ein allmäliges Abbrechen und Sparsamwerden würde ihm bei ihr und dem Straßenbasche nichts nützen und viel schaden, geschweige daß die himmelanstrebende Itania keinen knickischen und knausigen halbgetreuen Ritter zu ihren ätherischen Füßen sehen will! ...

Die 50 Gulden reichen noch zu keinem großartigen Geschenke hin, die Ersparnisse bei Rosa machen wenig aus, das ritterliche Einkommen muß durch Sparsamkeit und Arbeit vermehrt werden, denn um Unverlornes mit "kühnem Griffe zu finden," dazu ist der Benedict doch allzu ritterlich gesinnt und allzu prosaisch gewitziget worden.

Bisher bekam der Tabaksverkäufer monatlich 40 Kreuzer für Tabak, der Apotheker 12 für Pomade, die Leihbibliothek 48 für Entzückungen und Verzückungen, die Wirthshäuser nur 36 bis 40 Kreuzer, endlich trug er auch dem kleinen Liebling der Rosa, nämlich der Johanna und dem Schwesterlein des blinden Michel Milchbrödlein und dergleichen Geschenke zu.—Itania winkt vom hohen Söller herab und die bisherige Monatsrechnung des Hobisten reducirt sich auf Null.

Der große Trommelschläger ist noch immer ein lesender Narr, der Duckmäuser hat den Rubikon zwischen Idee und Wirklichkeit überschritten und ist zum handelnden Narren geworden.

Er verkauft seine beiden Tabakspfeifen, thut alles, um ja Niemanden zu begegnen, mit dem er anstandshalber einen Schoppen Bier trinken müßte, unterrichtet mit allem Eifer zwei Damen der Stadt, die seidenrauschende und juwelenstrahlende Tochter eines halbverzweifelten Bierbrauers und die den hohen Adel durch ihren Aufputz beschämende Primadonna des städtischen Theaters auf der Guitarre, musizirt im Orchester des Theaters, wodurch ihm die Leihbibliothek mehr als ersetzt wird, endlich schreibt er in jedem freien Augenblicke Noten für Damen und Offiziere ab und vermehrt dadurch sein Einkommen ganz gewaltig.

Doch noch nicht genug—der Benedict verzehrt monatlich nur einen einzigen Laib prosaischen Komißbrodes, verkauft 14 andere monatlich um 3 Gulden 30 Kreuzer; für das Fleisch erhält er jeden Mittag einen Groschen, endlich schnürte der Held seinen widerspenstig knurrenden Magen mit einer vom Meister Feucht zur guten Stunde erbettelten Binde immer fester zusammen und träumt allnächtlich von vollen Humpen und Wildschweinköpfen, welche ihm Itania kredenzt und vortrefflich zubereitet.

Der große Trommelschläger bleibt der Einzige, welcher den Ritter Benedict lobt, bewundert, tröstet, die andern Musikanten spotten und lachen oder schimpfen beide "Büchernarren" brav aus.

In der Stadt wurde er von seinen Zöglingen oft eingeladen, Etwas zu genießen—doch ein Ritter ist kein Schmarotzer, läßt sich nur so weit herab, zu nippen oder einen einzigen Bissen zu genießen, um den Anstand und Ruf zu wahren und sprengt dann hungrig weiter.

Meister Feucht vom Bodensee aß wie ein Löwe und soff alle sechs Wochen trotz einem Urgermanen, blieb dabei spindeldürr und schüttelte jetzt unaufhörlich den Kopf, weil Ritter Benedict nicht aufhörte, ganz ordentlich und blühend auszusehen.

Große Affekte und Leidenschaften sättigen auch den Leib, wenn sie Kinder des Glückes sind, davon wußte Meister Feucht sammt seinen Kameraden wenig oder dachte nicht daran.

Benedict hielt mondenlang aus, machte sogar eine große Revüe mit und dankte Gott, der ihm schon als Knabe die Fähigkeit gegeben zu hungern, um den Mädlen Geschenke machen zu können.

Die Revüe nützte seinem Magen, schadete jedoch seinen Finanzen so gewaltig, daß er sich selbst in seinem letzten und wohlfeilen Vergnügen beeinträchtigte. Bisher war die Dämmerungszeit sein gewesen; er hatte neben dem großen Trommelschläger tiefergreifende, sehnsuchts- und wehmuthsvolle Septimen- und Mollakkorde den Lüften anvertraut, um sie der angebeteten Itania melodisch zuzuflüstern—jetzt übernahm er es, zwischen Licht und Dunkel Monturstücke, Waffen und anderes Zeug für den Regimentsfourier und Verwaltungsfourier zu putzen und erhielt von jedem derselben monatlich anderthalb Gulden.

Nebst einem herzbrechenden und hochbegeisterten Briefe hat er für mehr denn fünfzig Gulden Schmuckwaaren an Itanien gesendet, die Antwort voll Liebesgluth blieb nicht lange aus, deßhalb nahm er die Gelegenheit wahr, kaufte für 36 Gulden Zeug zu einem fräuleinhaften Gewande und sandte es mit einem bogenlangen Briefe ab. Er wartet mit fieberhafter Spannung auf Antwort, hungert und spart, spart und hungert, denn im Frühling will er die Burg besuchen und sich im vollen Glanze eines begüterten Ritters zeigen.

Itania, das Kasernenhäschen, der Deserteur.

Der Duckmäuser erhielt wirklich manchen Brief, in welchem Itania mit den schönsten zärtlichsten und wohlgesetztesten Worten ihre innigste Liebe und unverbrüchlichste Treue gegen ihn ausdrückte. Hundertmal des Tages zog er diese Briefe aus der Brusttasche, küßte und las sie und las sie noch einmal, bevor sie eingesteckt wurden. Der große Trommelschläger las Itaniens Briefe auch und wenn er von Itanien anfing, dann hafteten Benedicts Augen auf ihm, wie die eines Schwerkranken auf dem Arzte und beide überlegen, welche Geschenke an Neujahr der Huldgöttin zu Füßen gelegt werden sollten.

Eines Morgens kommt der Glückliche vom Exerzierplatze heim, da erscheint der Briefträger, um ihm zu sagen, es sei ein Päcklein für ihn da und er möge es in seiner Wohnung holen. Eiligst geht er mit, erkennt Itanias Hand auf der Adresse, unterschreibt den richtigen Empfang, fliegt zurück ins Compagniezimmer und öffnet das Päcklein mit zitternder Hand, denn er erwartet das wohlgetroffene Bildniß wohleingewickelt zu finden, um welches er das Burgfräulein zu bitten wagte, und ein artiges Gegengeschenk.

Doch—schreckensstarr und todtenblaß steht er da, denn all' seine Geschenke sieht er wohlgeordnet vor seinen Augen, glaubt zu träumen und aus seinem überirdischen Frühling plötzlich in den trostlosesten badischen Altweibersommer hineingeworfen zu werden! ...

Meister Feucht streicht seinen Fuchsbart und lacht wie ein Spitzbube, der erste Fagotist schleicht hinter den schier zusammensinkenden Benedict und schaut hinter dessen Rücken in folgende Hiobspost hinein:

"Freunt! Vergebe sie mer, wenn ich ihne mit diesem Schreiben und dem Zurikgeben des Bagets duschieren sollte. Sie seind mir lieb und werth, aber ich will, kann und darf Nix von Ihne wisse, meine Ehre erlaubt es nicht, denn wir wissen Alle sehr genau, daß Sie wegen schlechter Aufführung öffentlich bekannt geworden, mußten aus dieser Ursach das elterlich haus verlassen und stehen beim Regimend auch nicht in guter Haltung. So seind unsere genauesten Erfahrnisse. Ich bitte daher, kommen Sie mir zu Liebe ihr Lebtag nicht mehr auf die Burg, denn ich gebe mich durchaus in keiner Beziehung mit einem so schlechten Basaschier ab und schäme mich genug, nur Wohlgefallen an ihne gehabt zu haben.—Das Present aber (Gott was haben wir für Angst gehabt, bis es wieder aus unserm Haus), so große Freid ich daran hatte, könnte ich nicht behalten, weil ich befirchten mußte, daß es gestolenes Gut sei. Nehme Sie es daher wieder und geben Sie es Einer, die mit ihne gleich gesinnt ist, sonst schlagt mich der Vater tod, was übrigens nicht nöthig ist.

Mit durchdolchter Liebe und bleibender Achtung bin ich in Eile

   ihnige ehemalige treue Itania."

Der Duckmäuser zittert vor Schrecken, Wuth und Schmerz, vermag weder zu reden, noch zu denken und zu handeln, sitzt wie ein Sterbender auf seinem Bett, bleibt etwa eine Stunde sitzen, dann zerreißt er den Brief in hundert Fetzen und zermalmt (der große Trommelschläger hat denselben abgeschrieben, um der staunenden Nachwelt einen Beweis der Herzlosigkeit unseres tintenkleksenden Saeculums zu geben!) die Fetzen zu Staub, ballt die Fäuste und knirscht. "Warte, Karnali, du sollst's büßen!" Mit diesen Worten dachte er an Rosele, denn er glaubte, diese habe aus Rachsucht nach der Burg geschrieben und Alles verrathen.

Der Seidenstoff war unter Itanias zarten Händen bereits zu einem Weiberrocke geworden, der Hobist packt denselben zusammen, um ihn einer Nätherin zu verkaufen. Hier trifft er mehrere junge Mädchen, schämt sich, ein Kleid auszukramen, geht unverrichteter Sache wieder fort, tritt in ein Bierhaus und die Kellnerin, ein etwas verblühtes doch hübsches Mädchen meint:

"Das ist ein Wunder, daß Sie allein kommen und dazu noch an einem Werktage. Haben Sie sich heute verirrt?"—"Ich denke, es wird noch Mancher bei Straßburg über die Brücke gehen, ohne von Ihnen gesehen zu werden!"—"Um Vergebung, habe ich den Herrn Ritter etwa beleidiget?"—"Nein, durchaus nicht, gnädiges Fräulein, ich bin nicht so leicht zu beleidigen!"

Das Wort "Herr Ritter" hat die Gemüthsstimmung des Duckmäusers plötzlich verändert, er fängt ein langes freundliches Gespräch an, trinkt Bier dazu, überzeugt sich, daß die Kellnerin Agatha eine ganz gewaltige Romanenleserin gewesen sein muß, sich trotz dem duftendsten Ritterfräulein zu benehmen weiß und—schon am andern Tage bringt er derselben Itanias Gewand und alle Kostbarkeiten dazu als Weihnachtsgeschenk, beredet sie, das prosaische Bierhaus aufzugeben und einen gemächlichen Dienst zu suchen, dabei weniger auf Lohn, denn "auf gute Behandlung" zu sehen.

Der große Trommelschläger war überzeugt, Itanias Brief sei ein Blendwerk der Hölle, ein Zwangsbrief und der Ritter könne durch einen neuen Brief wieder zu Ehren kommen, die Geliebte vielleicht aus unsäglichen Gefahren befreien, doch Agatha versteht es, den Benedict zu bezaubern und zu fesseln, in jeder Hinsicht die Seinige zu werden!

Alles Arbeiten und Sparen hörte plötzlich auf, der Held war wenig mehr in der Kaserne, verlor Zeit, Geld und noch weit mehr bei der Agatha und diese benutzte die Gelegenheit vortrefflich, ihn in jeder Beziehung auszusaugen. Itanias Gewand und Schmuck taugte nicht zu ihren bescheideneren Kleidern, schöne Worte und Liebkosungen bewogen den Ritter, sie als Burgfräulein vollständig und standesgemäß zu equipiren, sein Geld flog weg wie Spreu, zum Arbeiten bekam er keine Zeit mehr und verlegte sich in der Raserei seiner durch die beständig gereitzte Sinnlichkeit aufgestachelten Leidenschaft auf—kühne Griffe, wobei ihn das Glück außerordentlich begünstigte, so daß es wieder Spätjahr wurde, ohne daß er Unannehmlichkeiten bekam.

Uebrigens mußte Vater Jacob nicht nur erleben, daß die 50 Gulden, die er von Liebhardt geliehen, nicht mehr zurückkamen, sondern auch, daß sein ritterlicher Sohn häufig in der Nacht ins Dörflein kam und am Morgen mit einem Theile des mütterlichen Vermögens von dannen zog, dabei den Säbelgriff selten aus der Hand ließ.

Nach der großen Revüe machte Ritter Benedict eine Luftfahrt mit Fräulein Agatha, verschwendete in 3 Tagen 20 Kronenthaler theils auf Rechnung seines Vermögens, theils auf Regimentsunkosten.

Ein sogenannter Zufall ließ ihn während der Luftfahrt entdecken, die Tieffühlende und Hochpoetische habe schon vor Jahren als zartsinnige Jungfrau der badischen Regierung ganz unberufen zwei kleine Unterthanen geschenkt und sei unter dem Namen "Kasernenhäschen" bekannt gewesen. Solche unromantische Enttäuschung bewirkte, daß in grimmem Zorne der Ritter der bisher Angebeteten den Fehdehandschuh ins Gesicht schleuderte, ohne die Hand vorher aus dem Handschuhe herauszuziehen und dieselbe auf dem Wege verließ.

Sein Urlaub lautete auf 8 Tage und weil nach 3 Tagen sein Geldbeutel leer geworden, hätte er in die Garnison zurückkehren sollen.

Er that es nicht aus drei triftigen Gründen, nämlich erstens aus Liebesschmerz, zweitens aus Furcht vor einem Wauwau beim Regimente, der ihm gar bange Ahnungen machte und drittens aus Furcht vor der Zukunft, weil eine Hauptquelle seines Einkommens, sein mütterliches Vermögen, vom hartnäckigen Vater Jacob verstopft worden war.

Nachts kommt er in das Rheindörflein, wo Rosa wohnt und wo er als Knecht des Saumathis so glücklich gelebt hat; er will in den Adler, da begegnet ihm sein alter Freund und Gutthäter, der Straßenbasche, packt ihn am Arm und zwingt ihn, mit ihm zu gehen. "Was hat's Rosele verbrochen, daß Du sie so verächtlich von Dir stießest?—Warum kannst Du so gegen uns sein, was haben wir Dir zu Leide gethan?—Bist Du denn nicht mehr unser Freund? Mein, wenn Du wüßtest, was alle Leute sagen!"—fragt und klagt der alte Unteroffizier, doch hartnäckig bleibt der Duckmäuser dabei, Rosa sei an allem Unheil Schuld, was ihm beim Regimente zustieß und wodurch jetzt sein Glück für immer zerstört sei!

Mutter Clara weiß gar nicht, was sie für ein Gesicht machen, geschweige was sie reden soll, das Rosele sitzt neben ihr auf der Ofenbank, bringt vor Schluchzen und Weinen keine Silbe hervor, endlich geht er zur Thüre hinaus, läßt jedoch seine Kappe auf der Bank liegen. Rosa steht jetzt auf, geht ihm nach und hält ihn fest:

"Wo willst jetzt hin?" fragt sie seufzend und schluchzend.

"Fort, so weit als die Welt offen steht, um Dir aus den Augen zu kommen!" schnauzt er und will sich trotzig losreißen; sie hält ihn aus Leibeskräften fest und weil er alle Fragen unbeantwortet läßt, will sie nur das Einzige wissen, was er denn Schlechtes von ihr gehört habe, er möge es ihr unverhehlt ins Gesicht sagen.

Er bleibt stumm, sie erinnert an das Leben im Heimathsdörflein, an Jugendzeit und Schuljahre, an die Zeit seines ersten Jahres bei den Soldaten, an die Kirchweihe und will Alles thun, um ihn von Neuem zu bessern, will ihm all ihr Geld freudig geben und zwar eine Summe, welche ihn mehr als gerettet hätte, doch er brummt: "Hab Deine paar Groschen nicht nöthig, behalte Du sie nur, Du wirst sie einmal nöthiger brauchen können!" reißt sich von seinem weinenden Schutzengel los und verschwindet in der finstern Nacht.

Weil sein Urlaubspaß noch gültig war, hinderten die Zollwächter seine Fahrt über den Rhein nicht, zumal im nächsten französischen Dorfe gerade die Kirchweihe gefeiert wurde, wobei badische Gäste selten fehlen.

Wir finden den Deserteur am andern Abend todesmüde vom Umherirren im "grünen Baum" zu "Wanzenau," einem etwa zwei Stunden von Straßburg entfernten Dorfe.

Der Wirth, ein braver, als Elsässerfranzmann gegen "Deutschländer" pflichtgemäß ein bischen eingenommener Mann, hat nicht nur den Deserteur gern ins Haus aufgenommen, sondern sich von dem Schlaukopfe auch einen stattlichen Bären auf die Nase binden lassen.

Der Hobist behauptete, auf den Rath seiner Angehörigen desertirt zu sein, um dadurch 50 Rohrhieben und dem sichern Tode zu entgehen, was ihm Alles wegen eines zerbrochenen Säbels drohe. Er habe nämlich bei einer Kirchweihe in einem badischen Dorfe aufgespielt, sein Säbel hatte an der Wand gehangen, die Tänzer hätten vorigen Dienstag eine schwere Schlägerei angefangen, sich seines Säbels bemächtiget, Verwundungen damit angerichtet und zur guten Letzt die Waffe gar zerbrochen. Am Mittwoch hätten die verhafteten Bursche von keinem Säbel Etwas wissen wollen, der Wirth habe geradezu geläugnet, vom Benedict einen solchen zum Aufheben bekommen zu haben, somit bleibe die "ganze Schmier" an ihm hängen und seine einzige Rettung, in Frankreichs großmüthigen Armen Schutz zu suchen! ...

Den Wirth zum grünen Baum, zugleich Maire des wohlhabenden Ortes hat das Klarinettblasen des Duckmäusers dermaßen entzückt, daß dieser sein und gar rasch der Liebling der ganzen Dorfjugend geworden ist. Am Tage arbeitet er auf dem Felde, es kommt ihm sauer genug an, nachdem er so lange nur auf Kasernenbrettern herumrutschte, doch vergibt er dem deutschen Fleiß nichts gegenüber der französischen Landeskraft, Abends macht er in einem großen Saale, worin unter Tags die hübschen Elsässerinnen mit ihren hellen Aeuglein Welschkorn abschleizen, Musik und verdient schweres Geld.

Alles geht vortrefflich, er läßt sich gerne neckend "Schwob" oder "Gelbfüßler" nennen und denkt nicht ans Heimgehen, sondern an eine große Hochzeit, welche einer der reichsten Bursche des Departements (die Stadtherren freilich ausgenommen) hier feiert. Diese Hochzeit lockt sehr zahlreiche Gäste herbei, währt drei Tage, der klarinettblasende Ritter hätte sich in Wein und Bier ersäufen können, wenn er gewollt hätte, doch er will dies nicht und aus guten Gründen. Der "große Maier," ein Schuster des Dorfes, der kürzlich von seinem Cuirassierobersten beurlaubt wurde, will dem armen Deserteur zeigen, daß er sich jetzt unter Franzosen befinde und veranstaltet eine Collecte, welche so bedeutend ausfällt, daß der Benedict ganz leicht ins Badische hätte zurückgehen und als ehrlicher Mann auftreten können, wenn er nur gescheidt gewesen wäre.

Doch sein Hochmuth läßt's ihm nicht zu; bereits vor der Hochzeit haben ihn der große Maier, der Allis, der Stegenklemens, der Rappenschorsch und Andere liebgewonnen und wenn das Schwitzen auf den Aeckern nicht wäre, würde er wohl beim Wirth zum grünen Baum sein Lebenlang bleiben können!

Während der Hochzeit wimmelt es im Wirthshause vom Dache bis zum Keller von Gästen, das ganze Rathhaus ebenso, die 5 Musikanten kommen gar nicht mehr zum Athmen, der lederne Instrumentenbeutel voll Franken und Fünffrankenthalern bleibt ihr einziger Trost, der Benedict aber macht der deutschen Musik unglaubliche Ehre.

Man muß französische Musik mit deutscher verglichen haben, um dies leicht zu begreifen, denn Musikanten und Sänger sind die Franzosen nicht, lieben jedoch Musik und Gesang enthusiastisch und—Elsässer wollen in Allem Franzosen sein.

Ein Friedensrichter wurde durch die "dütschen Walser" des Deserteurs dermaßen begeistert, daß er sofort mit dem Wirthe ausmacht, er soll den "Schwob" nach der Hochzeit zu ihm senden, er werde dann denselben nach Metz bringen und mit Hülfe seines Bruders, des Majors zu einem Hauptmusikanten des 35. Regimentes machen.

Doch Alles sollte anders kommen, der Duckmäuser in keine französische Uniform, sondern in einen germanischen Zuchthauskittel schlüpfen!

Am 4. Tage machten die Buben und Mädlen die üblichen Hochzeitspossen und Umzüge, die Musikanten mußten überall voranschreiten, die Lustigkeit währte tief in die Nacht und der dienstfertige Benedict suchte dieselbe auch auf andere Weise denn durch seine Klarinette zu erhöhen.

Er hatte in der Heimath einmal zugesehen, wie der Max in einer Scheune seiner rothen Schwitt eine katholische Messe las und unternahm jetzt dasselbe vor einem großen Haufen junger Leute. Still und lautlos sahen ihm Alle zu bis zur Communion, wo er bei Nachäffung des kelchtrinkenden Priesters beinahe erstickte. Jetzt erhob sich ein fürchterliches Toben, Lärmen und hundert Stimmen riefen: "Meinst, wir seien lutherisch, Du Schwob!—Schlagt den Schwob tod!"[tod!]—Nieder mit dem Ketzer!"

Der lange Maier streckt den Dorfhanswurst mit einer einzigen Ohrfeige der Länge nach auf den Boden, die Zunächststehenden fallen über ihn her, sie hindern sich gegenseitig durch ihre Anzahl im Zuschlagen und er würde sicher nicht lebendig davon gekommen sein, wenn nicht der alte Geistliche sammt dem hochgeachteten Notar des Ortes zu seiner Hülfe herbeigeeilt wären. Sie nahmen sich seiner barmherzig und kräftig an, die Fäuste ließen ihn los, die Bursche und Männer tobten und lärmten nur noch bunt durcheinander.

Zu dem bleichen, zitternden Deserteur sagt der Adjunkt von Killstett. "Wir wissen wohl, daß bei Euch drüben die Geistlichen nur Vormittags eine Stunde geistlich, die übrige Zeit des Tages aber weltlich sind und daß ihr Gelbfüßler alle lutherisch seid, doch bei uns kommt ihr mit solchen Späßen nicht an!"

Alle Freundlichkeit und Liebe gegen den Duckmäuser hat ein Ende, das Brautpaar läßt den Hochzeitgästen und Musikanten sagen, sie möchten den "gottlosen Schwob" ja nicht mehr ins Hochzeitshaus bringen, Gott könnte ihnen keinen Segen schenken, wenn sie einen solchen Menschen wissentlich unterhielten. Der große Maier macht bereits wieder Augen wie Pflugräder, die Gesichter Anderer verkündigen einen neuen Sturm, der ehrwürdige Pfarrer muß die Aergsten abermals beschwichtigen, Benedict sucht ängstlich Gelegenheit zum Fortkommen, findet solche und kommt mit einigen Tritten und Stößen glücklich ins Freie.

Doch eilt er nicht sofort aus Wanzenau weg; der volle Instrumentenbeutel hält ihn fest, er getraut sich nicht zurückzukehren und seinen Antheil zu fordern, weil er im Dunkeln oder beim Wiedererscheinen gar zu leicht den verdienten Lohn für sein Messelesen ernten könnte; die Theilung des Geldes unter den Musikanten sollte erst am Ende der Hochzeit vorgenommen werden, somit befindet er sich in einer recht mißlichen Lage und klettert zunächst auf einen Baum, wo er sicher vor Entdeckung und im Stande ist, seine Gedanken zu sammeln. Er wartet bis die meisten Leute wieder zum Rathhause zurückgekehrt sind, klettert alsdann vom Baume herab, paßt eine gute Gelegenheit ab, schleicht trotz einiger nachläßig gewordener und theilweise betrunkener Aufpasser ins Haus zurück, erobert in der Geschwindigkeit nicht blos seinen Lohn, sondern den ganzen schwergefüllten Instrumentenbeutel und macht sich dann eiligst aus dem Staube.

Jedoch noch nicht über die letzten Gärten und Häuser des Dorfes hinausgekommen, vernimmt er bereits Allarm, hört auf allen Seiten schreien und hinter sich einige Verfolger, darunter den großen Cuirassier, der ungeheure Sätze macht und seinen Sarras unter schrecklichen französischen und elsässischen Flüchen schwingt.

Hat ein Romanenheld jemals den Silberschein des Mondes in die unterste Hölle verflucht, so ist dieser der Benedict gewesen, während der nächtlichen Galoppfahrt aus Wanzenau. Gleich einem Riesen der fabelhaften Vorzeit schreitet der große Maier mit blitzendem Pallasch brüllend durch die Mondnacht, hinter ihm quicken die gewöhnlichen, diesmal außergewöhnlich erbosten Menschenkinder, jede Sekunde erhöht die Todesangst des galloppirenden Benedict, denn jede Secunde bringt die Feinde näher und vermehrt deren Zahl, schon hört er die schweren Athemzüge des keuchenden Riesen, schon schwingt dieser die furchtbare Waffe und gebietet dem "Spitzbuben" Halt auf Leben und Tod—im entscheidenden Augenblicke läßt Benedict den schweren Instrumentenbeutel klirrend fallen, der Riese bleibt stehen, der Verfolgte jedoch stürzt sich verzweifelnd in die Brisch, welche breit und tief genug ist, um mit Dampfschiffen befahren zu werden, die Todesangst verzehnfacht seine Kraft und glücklich erreicht er das jenseitige Ufer.

Drüben stehen die Verfolger, der große Maier ist im Besitze des Instrumentenbeutels, man findet es nicht mehr der Mühe werth, den Deserteur anders denn durch Schimpfnamen und Verwünschungen zu verfolgen, von denen dieser bald nichts mehr hört, weil er triefend doch wohlgemuther auf's Gerathewohl vom Flusse ins Land einwärts läuft.

Mit Tagesanbruch kommt er in ein Dörflein, sein Geldbeutel ist auch ohne den Instrumentenbeutel ordentlich gespickt, im Wirthshause legt er sich sofort ins Bett, schläft volle 36 Stunden; seine Kleider sind indessen getrocknet, Nöthiges schafft er an, wandert nach Straßburg "der wunderschönen Stadt," meldet sich auf der Mairie nach Algier, wird von da auf die Praefektur, von hier zum Rekrutirungskapitain, von diesem mit einem Schreiben zu einem Komissaire beim Metzgerthor geschickt. Das Schreiben muß ein Uriasbrief gewesen sein, denn der Komissaire ließ den verwunderten Duckmäuser in den Neuthurm führen und hier volle 23 Tage Betrachtungen über die Artigkeit und Zuneigung französischer Behörden gegen deutsche Deserteurs anstellen.

Nach dieser Frist ward unserm Helden eröffnet, bis auf weitere Ordre werde Niemand nach Algier angeworben, somit müßte er die Reise nach Afrika aufgeben; verstehe er jedoch ein Handwerk, so erhalte er einen für ganz Frankreich gültigen Paß, widrigenfalls nur einen Paß in die Schweiz oder über die Kehlerbrücke.

Weil er kein Gewerbe erlernt hatte, begnügte er sich seufzend mit einem Passe nach der Schweiz, wurde freigelassen, ging in den rothen Löwen und setzte sich etwas tiefsinnig hinter ein "Kännle" Bier.

Hier zieht er seinen Paß hervor, studirt vergeblich an dem französischen Geschreibsel herum, möchte es ums Leben gern verdeutschen, flucht im besten Deutsch leise vor sich hin, bis ein Herr, der in der Nähe sitzt und sich nicht schämt, ein deutsches Wort zu sprechen, welche Schaam bei manchem Philister der guten alten Reichsstadt Straßburg gefunden wird, ihm endlich aus der Noth hilft. Dieser Herr setzt einen Nasenklemmer auf die nach altdeutscher Sitte riechende Kupfernase, steckt dieselbe tief und gründlich in den Paß und eröffnet dem erschreckenden Hobisten, daß er mit diesem Passe nicht weiter als bis Basel komme, von dort aber nach Deutschland ausgeliefert werde, weil in dem Passe bemerkt wäre, er sei ein Deserteur.

Solch' ächtwälsche Hinterlist empört den aufrichtigen Duckmäuser ganz gewaltig; er beschließt im Zorn, sich den Weg nach Basel zu ersparen und gleich über die Kehlerbrücke zu spazieren, wo ein Häuflein alter Waffengefährten stets zu finden, doch der Herr bemerkt, es sei noch nicht aller Tage Abend und etwa um 20 Fränkchen ließe sich wohl auch noch ein anderer Paß auftreiben.

Der Duckmäuser geht den Handel ein, zahlt die 20 Franken in der Freude seines Herzens, macht aus dem alten Uriasbrief Fidibus und dämpft ein halbes Dutzend kölnische Pfeifen, während er die Rückkehr des Herrn mit dem neuen Passe erwartet. Erst als Abends die Lichter im rothen Löwen angezündet werden, geht unserm Helden auch ein Licht auf, doch ein ziemlich düsteres; er stolpert durch die Stadt und Wälle bis zum Denkmal des wackern Generals Defaix und weiß nicht, ob er sich in den "freien, deutschen Rhein" stürzen und dadurch allen Verfolgungen und Gefahren des Erdenpilgerlebens entgehen oder über die Brücke wandern und gute Miene zum bösen Spiel machen soll.

Nachdenklich setzt er sich auf einen Stein, schaut nach dem fernen Schwarzwalde hinüber und träumt melancholisch von Itanien, bis ihn ein kleiner Mann anredet und seinem Geschicke eine neue Wendung gibt; leider schlägt dieselbe abermals zum Unheile und diesmal zum größten alles erdenkbaren Unheiles aus.—

Bis hieher mag unsere Erzahlung gehen, den weitern Verlauf mag der Held derselben selbst erzählen, weil wir jetzt doch wissen können, wen wir vor uns haben und in das Zuchthaus zurückkehren müssen.

* * * * *

Die Nacht hat ihren sternbesäeten Schleier über die wunderliebliche Landschaft ausgebreitet, durch welche das Auge manches kranken Gefangenen, der sich an einem der Fenster des Krankensaales der warmen Sonnenstrahlen freute, sehnsüchtig und träumerisch hinschweifte.

Im Krankensaale, worin heute der Duckmäuser einzelne Abschnitte seiner Geschichte mit vielen Verbesserungen und Verzierungen einigen Mitgefangenen zum Besten gegeben, brennt nunmehr eine Laterne und vertheilt Licht und Schatten ohne alle Rücksicht auf Kranke und Hausordnungen ziemlich unzweckmäßig.

Von der Außenwelt vernimmt das Ohr nur noch den regelmäßigen Schritt der Hofwachen, zuweilen ein fern vorüberfliehendes Rollen der Kutschen oder die muntern Lieder der Fidelen, welche in der nächsten Brauerei des Lebens Unverstand mit und ohne Wehmuth genießen und wacker Bier dazu kneipen.

Im Krankensaale dagegen hat die Nacht manche Unterbrechung der tiefen Stille zu verdoppeln. Das Murmelthier schnarcht seinen kellertiefen Grundbaß, der Seeräuber versucht von Zeit zu Zeit mit einem ohrenzerreißenden Tenor einzufallen, der Exfourier flucht zuweilen leise zuweilen laut über die Störenfriede, welche ihn nicht einmal an seine Braune denken, geschweige einschlafen lassen, der Wirthssohn beneidet die tiefen, schweren Athemzüge einiger genesenden Nachbarn und wälzt sich ruhelos im Bette hin und her, die Auszehrenden hüsteln und ächzen, ein Fieberkranker phantasirt von einem Amtmanne mit krummer Nase und scharfen Klauen, der Patrik vom Hotzenwald droht von Zeit zu Zeit am Husten zu ersticken, der glückselige Donatle lacht im Traume laut auf, der brave unermüdliche Krankenwärter spazirt auf Socken aus und ein, denn in der nächsten Stube liegt Einer, dessen Laufpaß in die ewige Heimath beinahe unterschrieben ist und zum Ganzen gibt der Pendel der Schwarzwälderuhr den schwerfälligen, melancholischen Takt.

Der Duckmäuser schläft auch noch nicht, denn er muß dem Zuckerhannes, welchem er Hoffnung auf Genesung und Befreiung eingeredet hat, seine Geschichte vollends erzählen.

Dieser glaubt nicht, den Todeskeim aufgeblüht in der leidenden Brust zu tragen, sondern an Genesung und Befreiung und für letztere mindestens scheint dem Unerfahrenen kein Strohhalm, sondern eine Schiffsladung von Hoffnung vorhanden zu sein.

Ist nicht am ersten Montage des laufenden Monats als am üblichen Besuchtage die Emmerenz vom Hegäu herabgekommen und wie ein rettender Engel vor dem Drathgitterfenster des Flechtwaarenmagazins gestanden und hat dem ehemaligen Schatz Trost und Muth eingeredet? Erzählte sie nicht voll Freuden, der Fesenbauer sei ins Dörflein und zu ihr gekommen und habe merken lassen, er bereue die Sünden, welche er gegen die Brigitte begangen und das Unglück, welches er über den Hannesle gebracht? Hat besagter Fesenbauer nicht geschworen, er gäbe gerne seinen kleinen Finger, wenn er damit dem Hannesle aus dem Zuchthause verhelfen könnte? Hat ein reicher Bauer kein Gewicht beim Amt, bei der Regierung, den Landständen und beim Großherzog und wird das einmal rege Gewissen des Michel wieder verstummen? Wird dieser nicht Alles thun, um eine neue Untersuchung einzuleiten und wird für seinen Sohn dieselbe nicht gewaltige Verminderung der Strafzeit, baldige Begnadigung oder gar sofortige Freilassung zur Folge haben?

Also sprach die Emmerenz am Besuchtage, ebenso heute morgen wieder der Duckmäuser, welcher aufrichtig an die Möglichkeit der Befreiung, zweifelhaft jedoch an das Wiederaufkommen seines Freundes glaubt und wie sehr haben die hoffnungsreichen Reden der Beiden das kranke Herz des kranken Zuckerhannes erquickt!

Hoffnung und Freude sind für Kranke oft die wirksamsten Arzneien, der Zuckerhannes hat's erfahren; er kann vor Aufregung nicht schlafen und hört dem Duckmäuser zu, welcher ihm den Rest seiner Geschichte in die Ohren flüstert, nämlich seiner auswendigen Geschichte, welche mit dem Eintritte ins Zuchthaus schließt, während die inwendige noch nicht in den rechten Gang gekommen ist und erst in der Zelle zu Bruchsal dazu kommen wird.

Jetzt erzählt er vom rothen Löwen zu Straßburg, vom Steine beim Denkmal des Generals Defaix, wir spitzen die Ohren und hören weiter Folgendes erzählen:

"Wie ich so verlassen ohne Paß dahocke und recht betrübt an die Itania denke, von der mich sichtbare und unsichtbare Berge trennen, kommt ein klein, klein Männle auf mich zu und fragt gar sanft, was ich denn da mache?["]—"Ho Nichts!"—"Nichts? wenn der Mensch nichts macht so sündigt er!"—"Ja und wenn er Etwas macht, so kommt er in des Teufels Küche, wie ist da zu helfen?"—"Was haben Sie für eine Religion?"—"Ho, ich bin katholisch!"—"Katholisch? ... armer Mensch!"—"Ja, ein armer Teufel bin ich, doch nicht weil ich katholisch, sondern hier fremd bin!"—"Hier fremd und dort fremd, armer, armer Bruder!"—

Kurz, das Männlein fängt ein Gespräch mit mir an, ich merke, daß es sehr fromm ist, thue auch fromm, erfahre, er sei kein Straßburger, sondern habe blos einen kleinen Spazirgang gemacht, weil er vor lauter Liebe zum Lamme oft nicht mehr recht schnaufen könne, wohne mehrere Stunden oberhalb Straßburg, heiße Meister März und sei ein vom Herrn mit zeitlichen Gütern reichgesegneter Mann, der in diesen Zeiten babylonischer Verwirrung seinen Brüdern, welche die "Diener am Worte" und den Herrn Jesum Christum hoch hielten, gerne unter die Arme greife, aus zeitlichem Elend und dem ewigen Höllenpfuhl errette.

Natürlich stellte ich mich immer frömmer, Meister März entdeckte mir bald, er sei am 5. October 1831 Abends zwischen 5 und 6 Uhr in dem an zeitlichen Gütern und gottseligen Seelen so reichen Basel bei Mariot in den Stand der Gnade gekommen. So Etwas sollte mir passiren, ich könnte den Gnadenstand brauchen! meinte ich und wer mich beredete, nach Straßburg zurückzugehen, um zu übernachten und morgen mit ihm heimzufahren, der war mein Meister März.

Derselbe logirte bei einer gottseligen Wittwe in der Nähe des Kleberplatzes; ich übernachtete in einem Wirthshause... ich glaube, es hieß zum goldenen Apfel! ... und am andern Morgen holte mich Meister März ab und freute sich sehr, weil ich just in einer großen Bibel las, die der kleine Wicht mir schon am Abend nebst vielen abscheulich langweiligen Traktätlein verehrt hatte.

Er führte ein Wägelchen bei sich und ich sah auf den ersten Blick, daß er ein gutes Männlein sei gegen Gleichgesinnte und das Gute oder Schlimme an sich trug, alle Leute gleichgesinnt machen zu wollen. Die gottselige Wittwe hat ihm viele Bibeln und ganze Päcke erbaulicher Flugschriften mitgegeben, auf der Landstraße verschenkte er seine Bibeln an Handwerksbursche, Marktweiber, Bauern und Bettler und als ich beim Ausstreuen und Vertheilen der Traktätlein half, lächelte er gar lieblich... Stelle dir ein hellbraunes Männlein vor, mit zarten Löcklein vor jedem Ohre, das Köpfchen etwas zur Seite geneigt, die Augen den ganzen Tag voll Wasser und Freundlichkeit, mit bleichen Wangen, einer löschhornartigen Nase, fromm verzogenen und selig lächelndem Munde, im ganzen Gesichte kein Härlein außer etwa 10 bis 12, welche einen Backenbart vorstellen sollten, ganz einfache doch hübsche Kleider und du hast den Meister März, dessen feine zarte Händlein eher einem Schulmeisterlein, denn einem Schreiner anzugehören scheinen.

Er redete lauter gottselige Dinge von Zion, Babel, den Freuden des Lämmleins, von der Sündhaftigkeit des Menschengeschlechtes, vom Gnadenstand der Anhänger des "lieben, einfältigen Evangeliums," vom "treuen Gottesmanne" Martinus Luther, vom Antichrist und von der babylonischen Hure und ehe ich mit ihm heimkam, wußte ich schon, die Offenbarung Johannis werde von uns fleischlichgesinnten Papisten seit 18 Jahrhunderten nicht verstanden, doch er, der Meister März und andere gottselige Leute, bei denen der heilige Geist täglich sein Absteigequatier nehme, wüßten, daß das tausendjährige Reich und die Zerstörung des römischen Babel in ganz naher Aussicht ständen und daß der Teufel jeden am Schopfe nehmen werde, welcher es zuließ, daß die katholische Abgötterei "die Geister gedämpft" habe.

Er beredete mich unterwegs einen falschen Namen anzunehmen und mich für einen von den "römischen Geistlichen schwer verfolgten Freund der Diener am Worte" auszugeben, welcher wegen Verbreitung von Schriften der Anhänger des lieben einfältigen Evangeliums um sein Brod gekommen sei. Zunächst versprach er dagegen, mich in seinem Hause aufzunehmen, das Schreinergewerbe, zu welchem ich stets Freude hatte, lernen zu lassen und mit allem auszurüsten, was zu einem behäbigen und wohlanständigen Leben in Gottseligkeit gehört, wenn ich etwa als einen "Praedestinirten" mich erwiese!

Kannst Dir leicht denken, daß mich Meister März arg langweilte, doch habe ich mich stets nach den Leuten gerichtet, diesmal befand ich mich in der höchsten Noth, er versprach mir Alles, was ich brauche und der Wein sammt dem Likör, welchen er neben seinen Bibeln in der Truhe des Wagensitzes hatte und gegen Abend so wacker genoß, daß ich an den Compagnieschneider Feucht dachte, setzten mich so ins Feuer, daß ich schon auf dem Wege ein geistliches Lied von ihm erlernte, welches er abwechselnd unter Weinen und Lachen sang und dessen Melodie ich auf der Klarinette nachspielte. Meine Geschicklichkeit entzückte ihn dermaßen, daß er laut weinte, mir die Zügel um den Arm band, auf die Knie sank und mit gefalteten Händen die ersten Strophen seines Lieblingsliedes sang.

Es war gut, daß es Nacht war und uns Niemand begegnete, ich blies so rührend als möglich und er sang unter Thränen:

   Was ist ein Kreuz-Luft-Hühnelein?    Laßt's auch nur Kreuz-Luft-Putchen sein:    Ein Thierlein, das die Henne reucht,    Mit welcher sich das Lamm vergleicht    Dort bei Jerusalem! ...

... Auf dem Wege sprach Meister März in keinem Wirthshause ein, doch beinahe in jedem Dorfe saß eine gottselige "Schwester", welche mit ihm in die Nebenkammer ging, um dem Lamme für die glückliche Ankunft des Bruders zu danken und uns dann besser bewirthete, als es der Grünbaumwirth in Wanzenau bei allem Reichthum hätte thun können.

Spät in der Nacht kamen wir im Wohnorte und Hause des Meisters März an; eine Schaar andächtiger Frauen und gottseliger Männer sammt zwei jungen, äußerst bleich und fromm aussehenden "Dienern am Worte" waren in einem Hintergebäude des Hauses noch in Gebet und Betrachtungen versunken, Meister März stellte mich denselben vor und ich sah, wie große Augen alle machten und zusammenschauderten, als sie hörten, ich sei ein "Papist aus Dütschland."

Einige liebliche Mädlen und gottselige Wittwen versprachen, für mich, den in den Banden des Irrthums, der Ungnade und des Satans gefangenen Mitbruder inbrünstig zu bitten und ihre Liebe rührte mich dermaßen, daß ich helle Thränen vergoß!

Du weißt, Zuckerhannes, daß ich wohl der geschickteste Schreiner des Zuchthauses bin, ich habe als Gefangener dieses schöne Gewerbe in einer Reihe von Jahren vom Fundamente aus gelernt, doch den ersten Grund dazu legte ich bei Meister März.

Meister März arbeitete nicht selbst; er führte mit einem Gehülfen und Obergesellen das Geschäft und betete, machte Besuche und Reisen, hielt in der großen Werkstätte Versammlungen, gab mir Essen, Trinken, Kleider, ließ mich nicht als Lehrjungen, sondern als Bruder behandeln, betete stündlich um meinen Gnadenstand und suchte mich auf jede Weise zu überreden, der "römischen Abgötterei" zu entsagen.

Er hielt viel auf meinen gescheidten Kopf und meine frommen Gesinnungen und ich darf wohl behaupten, daß ich jetzt einer der reichsten Schreiner des Elsasses und leicht der Schwager meines Meisters wäre, wenn ich es nur über mich gebracht hätte, meinen Glauben abzuschwören!

Nach und nach erzählte ich ihm viele Streiche und Verirrungen meines Lebens, aber er ließ deßhalb nicht nach mit Zudringlichkeit und meinte, der Mensch sei unfähig ein gottgefälliges Werk zu vollbringen, die Werke des Menschen seien ohne Bedeutung und der Glaube allein mache selig, ich aber müsse noch zum Glauben und Gnadenstand gelangen, das habe ihm eine wunderbare Erscheinung schon in Straßburg angekündiget und er sei das Werkzeug, welches mich aus einem heidnischen Gefäße des Zornes zu einem christlichen Gefäße der Gnade mache.

Mein Meister hatte schon manche Seele für "das Wort" gewonnen, bei mir machte er sammt seiner arg verliebten Schwester große Versprechungen, kam doch nicht rasch genug zum Ziele und merkte, daß es mir nur darum zu thun sei, geschwind ein Schreiner zu werden und dann in die sündige Welt hinauszuwandern, in Paris statt in Zion Arbeit zu suchen! ... An der katholischen Religion liegt mir in der That wenig; man vergißt dergleichen Dinge in der Kaserne, wo Evangelische und Juden darüber spotten und im Zuchthause ist es ebenso, aber ich brachte es nicht über mich, meinen alten Glauben abzuschwören, wiewohl ich mit den Lutherischen in ihre Conventikel und Predigten ging, aus Klugheit und zur Unterhaltung die Schriften von Jung-Stilling und Anderen las, auch das alte Testament fast auswendig lernte und Mariotts wässerige Traktätlein fleißig vertheilte.

Daheim im Dörflein hat meine Mutter von den Lutheranern mir früh viel Arges erzählt; ich verabscheute dieselben beinahe, wie ich die Juden fürchtete, hielt sie für böse Geister, aus welchen einmal der Antichrist erzeugt werde und konnte mich von dem Aberglauben nicht losreißen, ein abgefallener Katholik sei ewig ein Kind der Hölle und des Teufels. Vieles, was ich im Hause meines Meisters sah und hörte, bestärkte mich im Aberglauben der Mutter; Hochmuth und Wollust spielen bei den Muckern eine wüste und unerträgliche Rolle und so oft ich auch versprach, meinen katholischen Glauben fahren zu lassen, wenn man mir noch ein wenig Frist lasse, ebenso oft trat ich zurück, wenn die Frist vorüber war.

Eines Abends, wo der Meister mich schon recht kühl und bissig behandelte, so daß ich gerne fortgelaufen wäre, wenn ich nur einen Paß und Geld gehabt hätte, spottete ich über die Frömmigkeit einer Betschwester, die ich bei einem Andern als ihrem Manne ertappte.

Am andern Morgen kommt der Mann der Betschwester, verflucht meine böse Zunge und babylonische Herzensverwirrung, der Meister März seufzt, verdreht die Augen und lispelt: ["]Benedict, du bist und bleibst ein abgöttischer Papist, entweder nimmst du noch heute meinen Glauben an oder gehst aus dem Hause, denn mein Gewissen duldet es nicht, mich mit einem Unmenschen deiner Art abzugeben, der eine fromme Schwester verläumdet!" Ich antworte patzig, das fromme Männlein wird ganz wüthend, verdammt mich in die unterste Hölle, ich gehe den Bündel zu schnüren und wenn Meister Märzens Schwester mir nicht gesagt hätte, mich augenblicklich aus dem Staube zu machen und ihrer angenehmen Nächstenliebe eingedenk zu bleiben, so würde mich der Gensdarm erwischt haben, denn dieser war keine zehn Schritte mehr vom Hause, als ich zur Hinterthüre hinausschlich.

Ohne Paß und Kleider, besaß ich nichts außer einem Fünflivre, den Mamsell März mir in der Eile zugesteckt hatte, lief gleich einem Feuerreiter Tag und Nacht und kam halbtod [halbtodt] wieder nach beinahe vierteljähriger Abwesenheit in Straßburg an.

Hier blieb ich über Nacht, spazirte bei Kehl über die Brücke und schlug den Weg nach meinem Heimathdörflein ein, um den Rest meines mütterlichen Vermögens oder doch einige Napoleons zu holen und mich damit in die Schweiz zu machen. Glaubst du es, mein lieber Zuckerhannes?

... Schläfst du? ... Nun, s'ist gleich aus; ich reiste zu meinem Vater auf ähnliche Weise, wie du, hungerte am Tage, lief bei Nacht und fand auch eine kühle, böse Aufnahme! Du weißt es! Alles im Dörflein ist todtenstill, wie ich hinkomme, nur einige Hofhunde bellten in die Nacht hinaus, zu Hause lag Alles wie der Vater im Schlafe; ich klopfe, er steht auf, schaut zum Fenster heraus, erkennt mich, rennt fort, um die Flinte zu holen und droht, mich elenden Spitzbuben über den Haufen zu schießen, wenn ich nicht augenblicklich fortgehe.

Die Verzweiflung macht mich rasend, der Teufel zeigt mir einen Bengel, der mitten im Hofe lag, ich packe denselben und schlage so wüthend auf die Thüre los, daß alle Geschwister und die Nachbarn wach werden und laut rufen.

Plötzlich öffnet der Vater die Thüre, drückt die Flinte auf mich ab, die Kugel streift aber blos die Achsel ["]... schau da, Zuckerhannes, dies Wundmal ist die ewige Erinnerung an jenen fürchterlichen Augenblick! ... ich haue in blinder, besinnungsloser Wuth mit dem langen, knorrigen Bengel in den dunkeln Hausgang hinein und ehe ich den dritten Schlag thue, packen mich des Liebhardts Knecht und der Hansjörg, der mit mir so lange auf dem Katzenbänklein gesessen, von hinten, der Hannesle stürzt mit dem Lichte und einem alten Säbel aus der Thüre und ... ich schaudere, wenn ich daran denke, du magst dir alles Andere selbst denken!" ... Schaudernd kehrt sich der Duckmäuser ab, schlüpft mit dem Kopfe unter den Teppich und es bleibt ungewiß, ob er weine oder schlafe.

Der altersgraue, finstere und allzuharte, doch sonst brave Jacob lag blutend damals in der Hausflur, der Kopf war ihm auf einer Seite ganz zerschmettert, er stöhnte und röchelte nur noch wenige Augenblicke und verschied, ehe irgend eine Hülfe kommen konnte.

Sein Sohn, der ehemalige Unterlehrer, Dorfhanswurst, Anführer der Altmodischen, Schweinehirt, Hobist und Schreiner ist ein Vatermörder geworden und sitzt als solcher jetzt schon lange Jahre im Zuchthause. Er ist gelassen, gleichmüthig, folgsam, arbeitsam, doch gebessert ist er nicht, schiebt die Schuld seines Unglückes nur auf Andere und wenn er auch zugibt, der Teufel habe ihn schlecht und verbrecherisch gemacht, so weiß er doch nicht, auf welche Weise er der Herrschaft des Teufels zu entrinnen vermöchte.

Der Duckmäuser läßt sich Etwas erzählen.

Der Duckmäuser liegt im Schlafsaale und flüstert zum Kameraden hinüber:

"Schau, es geht jetzt ins 10. Jahr—bis Peter und Paule wird's just zehn, daß mich die Gensdarmen geholt haben und darfst glauben, daß ich wenig Freuden erlebte und nur so mitmachte von einem Tag zum andern und war froh, wenn ich recht ermüdet im Schlafsaal lag. Der Zuckerhannes blieb der Erste und Letzte, mit Dem ich mich näher einließ und ihm meine wahre Geschichte erzählte. Er ist ein guter, armer Kerl, hat's auch im Zuchthaus besser gefunden als draußen und sie würden ihn schon wieder gekriegt haben, davor bin ich nicht bange! ... Ist Einer einmal da gewesen, so geht's das zweite Mal viel leichter bei den Rechtsverdrehern und bei denen, die sie schon in den Klauen gehabt haben! ... 'S ist gut, daß er tod ist!"

"Ja, weiß Gott, seufzt der Donat, 'n armer Teufel hockt geschwinder im Zuchthaus, als man eine Hand umkehrt. Bin jetzt das erste Mal da, aber ich hab' meine Sach in Amtslöchern und Correctionshäusern schon mitgemacht und es ist mir wunderlich gegangen, könnte ein Buch davon schreiben!"

"Ei, draußen kannst du doch Einem aus dem Wege gehen, der dir nicht gefällt oder ihm Eins hinter die Ohren schlagen, aber hier? ... Seit der Teufel den Spaniolen hereingebracht hat, ist's mit meiner Ruhe aus; wenn ich den dürren Halunken mit seinen falschen Augen, die eine halbe Stunde weit im Kopf drinnen liegen, nur ansehe, ist mir das Leben verleidet und ich zittere an allen Gliedern und er regiert Alles, leitet Alles, kann's mit den Aufsehern, daß es ein Schade ist. Fünf Jahre war ich nie im Arrest, jetzt komme ich alle Augenblicke hinein und Alles ob dem Spitzbuben!

"Der Spaniol ist ein Teufelskerl und ich meine immer, ich hätte ihn auch schon gesehen in Donaueschingen oder in der Neustadt ... nein es war in Lengkirch, wo er 3 oder 4 verschlossene Wagen mit fremden Thieren commandirte und auf die Freiburgermesse zog... Er mahnt mich an Einen, dem ich auch gerne mit der Holzaxt winkte!"

"Verdammt, ich kann heut nicht schlafen, 's geht mir jedesmal so, wenn ich Beize kochen muß, das Geschäft ist zu leicht für mich! brummte der Duckmäuser;—weißt Du was, Donat, erzähle mir deine Geschichte, ich erfahre dann wieder, wie's draußen bei ordentlichen Leuten zugeht und lerne Dich kennen!"

"Kann auch nicht schlafen, Du hast mir Deine Sache auch ausführlich erzählt, eine Ehre ist der andern werth! ... Wer hat heute Nacht die Wache?"

"Der alte Moritz, der sieht nichts und hört nichts und wenn er kommt, rieche ich ihn von weiten."

"Riechen? ich habe noch nichts gerochen! meinte der Donat."

"Hoho, warte nur, bis Du ein, zwei, drei, fünf Jährle hockst, dann wirst Du Schnaps oder Tabak auf hundert Schritte riechen durch allen Gestank hindurch! ... Fange nur ruhig an, wir stecken die Köpfe unter den Teppich und ich halte die Ohren zu Dir, wie der Pfarrer, wenn er Beichte hörte!"

"Ja, Du mußt mir aber mehr glauben als er, er glaubt Keinem mehr, weil die Meisten ihn anlügen, und die vor Allem, die Begnadigung wollen. Der Stoffel hat mir erst gestern gesagt, er habe im Beichtstuhle mehr Gutes als Böses gebeichtet und zwar so, daß bei seinen Gutthaten jedesmal ein kleines Häkchen war, daß sie halb und halb wie eine Sünde aussehen! ... Er spielt den heiligen Crispin, der den Reichen Leder stahl, um den Armen Stiefel zu machen; es war gut, daß dieser nicht im Badischen lebte, wo sie allgemach das Almosengeben bei drei Gulden Strafe verbieten, wenn man sein eigen Sach' herschenkt!"

"Nur zu, das gibt Rekruten fürs Zuchthaus! lachte der Duckmäuser. Wenn's Bettele verboten wird, wird das Stehlen erlaubter! ... Doch, fange an, kannst schon ein bischen laut reden, das Murmelthier schnarcht wie besessen, daß man sein eigen Wort kaum hört!"

"Das Beste ist, daß man Gedanken nicht einsperren kann, ich hocke da, doch meine Gedanken streifen den ganzen Tag herum, und am liebsten nach dem Unterland oder das Höllenthal hinauf gegen Lenzkirch, denn dort ist meine Heimath, nämlich in jener Gegend, die für so rauh und wüst verschrieen wird und mir doch hundert Mal besser gefällt, als der Breisgau mit allem Wein und Obst und Kesten und der großen, schönen Stadt Freiburg dazu. Ich sehe wahrhaftig mein niederes Strohdach und die langen braunen, hölzernen Wände, den Milchbrunnen, den Misthaufen beim Hause und die Halde worauf es still und heimelig steht und hinabschaut in das Thal mit den zerstreuten Häusern. Ringsum lauter Tannenwald und dunkle Höhen, statt Trauben Tannenzapfen, statt Aprikosen und Kesten, Schlehen und Elzbeeren und statt Welschkorn und Tabak einzelne Hafer- und Kartoffelfelder, die selten gut ausgeben. Aber wie schön ist's, wenn der haushohe Schnee schmilzt, die würzige Frühlingsluft aus den Tannenwäldern herüberweht und die blitzenden Bächlein durch die Matten eilen, mit ihrem würzigen Grün, den gelben, rothen und weißen Blumen! ... Holz, Vieh, Milch und Schmalz gibt's bei uns auf dem Walde und kunstfertige Leute dazu und in so mancher Strohhütte steckt mehr Geld und Gut und vielleicht auch Bravheit, als hier wohl in manchem Herrenhause."

"Wenn Du so anfängst, dann werden wir vor Morgen nicht fertig; rede nicht lang von der Heimath, sonst muß ich an meine denken, nein, die ist schön! ... Der Mensch ist halt auch wie das Vieh, er geräth am besten, wo er daheim ist und ist ihm dort am wohlsten, wenn's in Sibirien wäre!—O Gott!"—

"Sibirien? Ja, das badische Sibirien nennt man meine Gegend und noch mehr die rechts gegen den Schluchsen und Feldberg zu. Meinethalben, ich möchte doch mein Lebenlang gern als der ärmste Holzschläger oder Kohlenbrenner dort leben! Jetzt will ich erzählen, wie Du es wünschest, aber wie wünschest Du es? Ich kann halt nicht viel besser reden, als mir das Maul gewachsen ist und man kriegt so wunderliche Gedanken!"

"Thatsachen will ich, lauter Thatsachen!" flüsterte der Duckmäuser.

"Aha, Thatsachen! weiß was das ist, wer ins Zuchthaus soll, erfährts! Herrgott, wie haben sie mich mit den verdammten "Thatsachen" gequält, die Leuteschinder und am Ende doch wegen Etwas verurtheilt, was gar keine Thatsache ist! ... will also mit Dir reden, wie es der Asessor haben wollte, lauter Thatsachen! paß auf!"

Gerade wie der Zuckerhannes hatte ich auch keinen Vater, daß heißt, der Halunke wollte nichts von mir wissen. Meine Mutter war bei Lenzkirch daheim und diente in Freiburg in der Salzgasse und später in der Egelgasse. Sie soll ein hübsches "Mensch" gewesen sein und ich glaube es, denn ihre schwarzen Augen und Haare und ihr kurzer stämmiger Leib blieb, als die rothen Backen längst verschwunden und der Mund nicht viel mehr lächelte. Die Studenten, Offiziere und andere Herren waren ihr sehr auf den Fersen, sie wußte davon zu erzählen, aber sie wollte lange gar keinen Liebhaber und am Ende doch lieber Einen, der sich offen mit ihr sehen ließ, als so einen Vornehmen, der nur ins geheim lockt und schmeichelt und jede Gans weiß, wohinaus das Ding will. Am Ende bekam sie ein Unteroffizier am Bändel, der ihr ganze Packe Briefe und Gedichte schrieb, in der Dämmerung niemals im Hausgange fehlte, lauter Liebes, Gutes und Süßes gelobte und nicht ruhte, bis ich da war. Er gab um Heirathserlaubniß ein, sagte und schwur es wenigstens, doch war er noch kein Einständer und als das Regiment nach Carlsruhe kam, war meine Alte petschirt und heulte sich fast die Augen aus dem Kopf. Sie that mich zu meiner Großmutter im Haus auf der Halde, das ich Dir beschrieb und ich verlebte dort meine besten Tage. Die Zeit, wo ich den ganzen Tag eine Rotznase hatte und im bloßen Hemd herumklunkerte, ist die schönste gewesen und ich wollte nur, daß ich wieder ein "Hemmetklunker" wäre! ... Ich ging ins achte Jahr und hatte schon einigemal die Schule besucht, wenn der Weg nicht verschneit war und auch die Mutter oft gesehen, die mir jedesmal die Nase alle Augenblicke putzte und mir Gutseln oder Butterwecken brachte, was ich um mein Leben gern aß, da legte sich die Großmutter hin und starb. Ich durfte nicht mehr in der Hinterstube bleiben, wo ich wie im Himmel gelebt, denn die andern Leute auf der Halde hätten mich zwar behalten, allein die Mutter war unten im Dorfe verheirathet und nahm mich zu sich.

Der Gang von der Halde war der Gang in mein Unglück.

Meine Mutter hatte einen Wittwer geheirathet, der für einen Uhrenmacher in Lenzkirch arbeitete, jedoch nicht in Lenzkirch sondern daheim.

Dieser Wittwer besaß eine durstige Gurgel, einen Humor, wie ihn der Teufel nicht besser haben kann und 3 Kinder von der frühern Frau, die er unter den Boden gebracht hatte mit Schimpfen und Schlagen.

Er zeigte mir, was es heiße, einen Stiefvater zu besitzen und plagte mich sammt der Mutter um die Wette, prügelte seine eigenen Kinder dazu und wer von Allen geschimpft, geschlagen, gestoßen wurde und kaum mehr als ein Kreuzschnabel zu fressen bekam, der war ich ... Meine Mutter mußte es vom frühen Morgen bis tief in die Nacht hören, daß sie ein Soldatenmensch und ich ein Bankert sei und wenn der Stiefvater besoffen von Lenzkirch kam, gab es oft die ganze Nacht keine Ruhe.

Die Mutter schlug mich nie, aber tausend Mal sagte sie, um meinetwillen allein müsse sie leben wie ein Hund und es gereue sie, mich nicht in die Dreisam geworfen oder erwürgt zu haben, bevor ich recht auf der Welt war! Dafür mag der Teufel dem Unteroffizier danken!

Die Leute im Dorfe waren nicht so arg wie die Landleute des Zuckerhannes, ich bekam es besser und trieb mich die meiste Zeit in andern Häusern herum, wo ich zu essen genug bekam, weil man wußte, wie mich der Stiefvater behandelte und mich sammt der Mutter bedauerte, die sich tagaus tagein schinden und plagen mußte und das ganze Jahr keine gute Stunde dafür bekam. Der Pfarrer sah das Elend und sprach sie von dem wüsten Kerl weg, der aber konnte mit dem Hauswesen und den 3 Kindern nicht allein fertig werden und weil meine Mutter sich doch nicht ganz scheiden lassen konnte, ließ sie sich durch seine Bitten und Versprechungen bethören und zog wieder mit mir zu ihm. Bald fing der alte Tanz wieder an, meine Mutter bekam auch ein Kind und dann gleich noch eines und seitdem konnte auch sie mich nicht mehr leiden und ich irrte Tag und Nacht aus einem Hause ins andere, wo man mir einen Platz am Ofen gönnte und etwas Warmes gab. Solches war auch nicht überall der Fall, ich mußte auch von fremden Leuten bittere Dinge hören und Schläge hinnehmen, doch hatte ich meine bestimmten Häuser und suchte mich wohl daran zu machen durch Viehhüten oder Botengänge nach Lenzkirch oder in die Neustadt oder was man mich sonst hieß.

Ich besuchte auch die Schule und betete fleißig, denn oft genug sagte die Mutter "Donatle, bete und denke an Gott, du hast sonst Niemanden auf der Welt, ich kann Deine Mutter nicht sein, das siehst Du!"

Gottlob, daß sie unter dem Boden ist, meine Kette da brächte sie sonst hinab; sie ist schon lange todt und habe ihren Leichenzug nicht gesehen, Gott schenke ihr die ewige Ruhe und Glückseligkeit! Auf der Welt hat sie wenig Gutes gehabt und war doch keine böse Frau, nur zu gut für den schlechten Stiefvater!

Ich war bald 14 Jahre alt, da wurde unser Pfarrer versetzt und den Tag, wo der neue zum ersten Mal in die Schule kam, vergesse ich in meinem Leben nicht! Das fortwährende Schimpfiren und Verlästern der Geistlichen ist nicht schön und recht, es gibt gute Herren unter ihnen und der neue war Einer davon.

Er betrachtete mich genau, weil ich gar elend dreinsah und keinen Fetzen an mir trug, den ein Lumpenmann hätte nehmen mögen, fragte mich, wer und woher und dies und das und heißt mich am andern Tage ... es war just ein Donnerstag und wir hatten "Vacanz"... in den Pfarrhof kommen.

Kannst Dir denken, daß ich den Tag kaum abwarten konnte und hoffte, Etwas zu kriegen. Als ich zu ihm hineintrat, fragt er mich, ob ich den Weg nach Bonndorf wisse, ich sage: ja; dann fragt er, ob ich einen Brief an den Herrn Stadtpfarrer in Bonndorf besorgen wolle und ich sage: gern! Da mußte ich mich in ein anderes Zimmer setzen, die Köchin brachte mir Etwas zu essen und ein Glas Wein, daß ich meinte, jetzt auch einmal ein großer Herr zu sein. Nachher gab mir der Pfarrer noch einen Sechser und meinte, ich solle in Bonndorf etwas essen, doch ich hatte gegessen, einen Sechser in meinem Leben noch nicht gehabt und der Wein gab mir Kraft und Muth, daß ich gar nicht spürte, was für ein Wind von Sankt Blasien herpiff [herpfiff] und daß ich baarfuß herumzottelte. Ich flog wahrhaftig, denn in Bonndorf glaubte ich wieder Etwas zu bekommen, bekam auch einen Zwölfer und einen Brief retour. Als ich den Brief abgab, fragt der Herr, ob ich meinen Sechser gebraucht habe, ich zeigte ihm den Fetzen Papier, den ich zwischen Lenzkirch und Bonndorf gefunden, worin ich mein Geld eingewickelt hatte und streckte es hin, damit er es wieder nehme. Doch ließ er mir nicht nur das Geld, sondern schenkte mir auch einen Rock, ein paar Hosen und bezahlte den Schneider, der mir eine prächtige Montur daraus zuwege machte; kurz, der Pfarrer wurde mein Vater, ihm zu Liebe lernte ich besser in der Schule und es war ein großes Unglück, daß der gute Herr sehr bald aus der Gegend fortkam, denn er hat mir oft gesagt, ich müßte eine gute Profession lernen und wenn dieses geschehen wäre, läge ich nicht in einer Kette hier!

Kann's nicht beschreiben, wie gut der Mann gegen mich elendes Kind gewesen ist, Gott wirds ihm entgelten und ich will froh sein, wenn er nichts von mir erfährt!

Ich möchte noch Vieles sagen, lauter Thatsachen, Duckmäuser, könnte die halbe Nacht allein vom Pfarrer erzählen und thäte es lieber als das Andere, denn der Weg, den ich jetzt betrat, war kein guter. Aus der Schule entlassen, trieb ich mich einige Jahre in der Gegend herum, und trieb bald Dieses, bald Jenes, um leben zu können und den Stiefvater nicht um Etwas ansprechen zu müssen. Es ging mir gerade, wie den Hasen des Fürsten von Donn'schingen im Winter, nämlich es war Winter und ich hatte nichts zu beißen und zu nagen, da kamen ein Mann und eine Frau aus einem Zinken nicht weit von meinem Orte—ich traf sie in der Sonne zu Neustadt, nein, es war in der Post, ich sehe noch immer den dicken Posthalter mit der großen rothen Nase, wie er mit dem Schoppen herwatschelt und jedesmal sagt: "Gesegne's Gott, 's ist ächtes Breisgauergewächs!"—Also die Beiden brachten mir's zu und sagten nach längerem Hin- und Hergerede: "Weißt du was, Donatle? 'S ist Winter, hast Uebel Zeit, dein Stiefvater ist ein Lump, du hast erfahren genug wie er uns anfeindet, aber du bist ein änstelliger [anstelliger] Bursche, kein Mensch will sich Deiner erbarmen, komm zu uns, bis es besser wird. Du arbeitest, was es zu arbeiten gibt, viel ist's jedenfalls nicht und wenn Du auch Nichts kriegst, hast Du doch zu essen und ein Obdach!"

Das kannst Du glauben, daß ich mich nicht lange besann, sondern einschlug; es war besser als Holzmachen oder Schneeschaufeln oder Leiternmachen, was ich schon thun mußte. Ich ging auf der Stelle mit dem Glasjakob und seiner alten Fränz, mit der ich ein Stück biblische Geschichte durch machte, bloß daß die Sache einen unbiblischen Ausgang nahm.

Die Fränz hatte 48 Jahre auf dem Buckel, graue Haare und Runzeln genug, keine drei ganze Zähne mehr und eine Nase wie ein Ulmerkopf, kurz es war ein altes, wüstes, ungattiges Thier und hatte außer dem ältesten Sohne, der 2 Jahre älter als ich war und längst mit dem Reff auf dem Buckel als Glashändler im Unterland hausirte, noch 5 Kinder und die beste Seele von der Welt zum Manne.

Sie konnte recht gut meine Mutter sein, doch bald machte sie es wie Putiphars Frau und weil ich nicht der Joseph, sondern der Donat bin, hing sie mir bald am Halse und ich wurde bis über die Ohren in sie verliebt.

Du magst es glauben oder nicht, so ein armer Tropf wie ich kommt nicht leicht zu einem Weibsbilde und hat doch auch sein Fleisch wie Andere, die Fränz war die Erste, mit der ich zu thun bekam. Sie wurde ganz und gar hirnverrückt und wüthend, und ich ein vollkommener Narr! ... Item sie schafft Rath, beredet ihren guten blinden Jakob, ihr einen Heimathschein ausfertigen zu lassen, lügt ihm vor, sie wolle ihre Freundschaft besuchen und in ihrer Heimath eine kleine Erbschaft holen, die sie gemacht habe, der Mann ist voller Freuden, sie geht, in Lenzkirch finden wir uns und reisen nicht gegen Bonndorf sondern durch das Höllenthal nach Freiburg und wutsch dich! saßen wir über dem Rhein, arbeiteten in einer Fabrik in Mühlhausen drüben und lebten wie Vögel im Hanfsaamen!

Nach einigen Monaten hatte ich das Elsaß und die Fabrik und die Fränz genug und wollte sie mir vom Halse schaffen. Aber sie hängte sich an mich wie eine Klette, als sie den Butzen merkte und ich verließ sie bei Nacht und Nebel. 'S freut mich noch, wenn ich mir vorstelle, wie sie am Morgen aufwachte, nach mir griff und nichts fand als das leere Nest, was mag Die für Augen gemacht, geschimpft und geflucht haben!—Ich hatte mich mit Kleidern gehörig ausstaffirt, trug ein wälsches Hemd oder eine Blouse, wie mans dort drüben nennt und ziemlich Geld in der Tasche, denn haushälterisch war die Fränz stets gewesen, das muß ich ihr nachsagen! Ich glaube wahrhaftig, daß ihre Verfluchungen mich verfolgten, denn geliebt hat sie den Donat, sonst würde sie nicht Mann und Kinder verlassen und mir angehangen haben!

Also ich laufe einige Tage, da begegnet mir be- [bei] Karlsruhe drunten ein Mann, fragt woher, wohin und was und da er hört, ich suche einen Dienst, gleichviel was für einen, angagirt er mich als Knecht, das heißt, ich mußte immer Fische nach Karlsruhe schleppen und Fischhäuser hüten. Mir gefiel Alles außer dem frühen Aufstehen, aber die Herrlichkeit dauerte nur kurze Zeit.

Muß ich just an des Großherzogs Geburtstag zu einem Wirth nach Karlsruhe und ihm sagen, er möge zu meinem Herrn fahren und die Fische holen, die bestellt worden seien; dieser läßt den Knecht einspannen und der Mathäubesle, also hieß der Knecht, ein fuchsrother Kerl voll Sommerflecken im Gesichte, der am Titisee daheim war, meint: Landsmann, fahr mit! ... Wir sitzen auf dem Wagenbrett, der Mathäubesle will zufahren, da fängt ein ganz verfluchtes Kanoniren an, der Gaul wird scheu, der Mathäubesle kann's nicht mehr halten, springt über die Leitern hinab, ich will unten durch, bleibe hängen und das wüthende Roß schleppt das Wägele sammt mir einige hundert Schritte weit, wo endlich einige Dragoner stehen und ihm den Weg versperren.

Kannst Dir denken, wie ich zugerichtet war; halbtodt wurde ich in ein fürnehmes Spital getragen. Keinen Fleck am ganzen Leib gabs, der mir nicht wehe that, ich war nur Eine Wunde und Ein Pflaster, lag viele Wochen elendiglich darnieder und wäre wohl nicht davon gekommen, wenn die Karlsruher Aerzte mich armen Kerl nicht so fleißig und sorgfältig besucht und für mich gesorgt hätten, als ob ich nicht der Donatle vom Schwarzwald, sondern ein Prinz wäre.

Die halbe Kost fing just an, mir recht zu schmecken, da wurde ich aus dem Spital entlassen und durfte nicht mehr zum Fischhändler, sondern wurde heimgewiesen mit dem Zeugniß, daß ich arbeitsunfähig sei und mich zuerst erholen müsse. Eines Theils war es mir nicht recht, denn der Fischhändler hatte ein Prachtsweib und dieses war zu mir in den ersten Tagen in die Kammer gekommen und hatte Dinge geredet, die mir klärlich zeigten, ein junger, starker Schwarzwälder sei ihr weit lieber als so ein alter, abgelebter Stockfisch, der ihr Mann hieß. Sie hätte mich gut gehalten, die Arbeit war ohnehin nicht weit her und große Lust zum Arbeiten hat mich mein Leben nie geplagt, wenn es nicht sein mußte. Anderseits gefiel mir aber auch das Herumziehen und als ich beim Sternen die Steig hinausging und mich wieder von meinen Bergen umschlossen sah, freute es mich gewaltig, doch dachte ich wieder ans Fortgehen nach einigen Wochen und die Sache kam so, daß ich bald gern ging von wegen der Fränz.

"Wie ist's denn der alten Schachtel gegangen?" fragt der Duckmäuser begierig.

"Besser als sie's verdiente!["] ... Nachdem ich sie verlassen, zog sie einige Tage im Breisgau herum, wurde mit dem längst abgelaufenen Heimathsschein erwischt, heimtransportirt und zunächst zur Abkühlung 8 Tage in Schatten gesetzt. Dann wurde der Jacob in die Neustadt citirt, befragt, ob er sein entlaufenes Weib wieder wolle, er sagte Ja und sie ging mit ihm heim. Da sie alle Schuld auf mich geschoben hatte, bekam ich bei der Heimkunft auch meinen Theil und mußte 14 Tage sitzen. Zum Jacob wollte und durfte ich nicht mehr, wollte auch nichts mehr von der Fränz wissen. Geld hatte ich keines, Schaffen wollte ich nicht so schwer, essen und trinken hält Leib und Seele zusammen und um Etwas zu bekommen, langte ich zu, wo war, anfangs mit erschrockenem Herzen, bald kecker. Die Mutter war todt, der Stiefvater warf mich aus dem Hause, ein Handwerk konnte ich nicht, Taglöhnern kostet Armschmalz, ich zog in der Gegend herum, wurde auf dem Michaelimarkt in der Neustadt arretirt und auf 2 Jahre zu den Blaukitteln nach Bruchsal geschickt. Dies war schlimm, doch schlimmer war's, als ich nach 16 Monaten begnadiget wurde und mit Laufpaß heim mußte. Ein paar Zwilchhosen, ein Wamms von Sommerzeug, ein grobes Hemd, welches mir die Strafanstalt gab nebst einem paar Schuhen und einer Kappe, die ich einmal einem Besoffenen vom Schädel gerissen, war nebst 42 Kreuzern Alles, was ich auf Erden besaß, wie ich heimkam.

Wie konnte ich in solchem Aufzuge Arbeit suchen, mich vor den Leuten sehen lassen oder auch nur in die Kirche gehen? Die Fränz, kein Mensch wollte Etwas von mir wissen und doch war mir die Lust am Stehlen vergangen. Es gehört Spitzbubenglück dazu, ich hatte keine Fiduz und keine Courage mehr, um gleich wieder zuzugreifen. Ich ging hinüber in die Neustadt, trank mit den letzten 12 Kreuzern Muth und begab mich gerade zu auf das Amt, um zu melden: "ich wolle nicht mehr stehlen, aber ich müsse es, wenn ich keinen Heimathschein und keine Kleider sammt einigen Batzen bekäme, um anderswo Arbeit zu suchen; im Grunde wär's mir lieber hier, aber niemand wolle mich beschäftigen." Ein Herr vom Amte zog mitleidig den Geldbeutel, der Amtmann gab mir einen Rock, denn ich heulte wie ein Schloßhund und um Martini darf man auf dem Swarzwalde [Schwarzwalde] kein Zwilchwamms und sonst nichts tragen, wenn man nicht erfrieren will. Ein Schreiben an den Bürgermeister verschaffte mir Alles, was ich brauchte, sogar mehr, nämlich Grobheiten, weil ich nicht zuerst zum Bürgermeister, sondern gleich vor die rechte Schmiede gegangen war. Ich kannte den Vogt schon, er war ein unmenschlicher "Packer," der ja wußte, woran ich war und doch kein Zeichen that, als ob er mir helfen wolle.

Mit dem Heimathschein und einigen Batzen Geld zog ich ab, verkaufte in Freiburg den Rock des Amtmanns, weil ich ihn doch nicht ohne gehörige Hosen tragen und auch nicht zurecht machen lassen konnte und zog jämmerlich bis hinab nach Ettlingen, denn dort war Arbeit genug zu finden, weil eben die große Spinnerei gebaut wurde. Weil meine Papiere richtig waren, kümmerte sich die Polizei nicht um meinen Anzug und leeren Geldbeutel, denn Arbeit hatte ich auf der Stelle. Eine Wohnung zu finden, war keine Kleinigkeit, ich wurde an vielen Orten abgewiesen und wie eben die Armen am liebsten den Armen helfen, fand ich zuletzt bei blutarmen Leuten auch eine Wohnung. Kost konnten sie mir nicht geben, wollte auch keine, denn Kleider waren vor Allem nöthig; Kleider kosten Geld und mein Taglohn war nicht gar groß. Ja, der Donat kann arbeiten und hungern, wenn er muß; drei geschlagene Monate sah ich kein Stücklein Fleisch und keinen Tropfen Wein, sondern erhielt mich fast nur bei Brod und Milch, schlief dabei recht gut und konnte das schönste Weibsbild ansehen, als ob ich ein Klotz geworden wäre! ... Nach drei Monaten hatte ich aber nicht nur Kleider, sondern auch das ganze Wohlwollen der Werkmeister und insbesondere das der Tochter meiner Hausleute, ohne daß ich letzteres wußte, weil sie nie ein Bröselein davon verlauten ließ, wenn sie aus ihrem Dienst von Karlsruhe auf Besuch herüberkam. Als die Fabrik so weit fertig und Maschinen eingerichtet waren, saß ich einmal recht bekümmert nach 12 Uhr bei einem der letzten Sandhaufen in der Sonne und dachte an die Zukunft, da kommt auf einmal der Director der Spinnerei auf mich los, ein braver Herr, der mich oft im Auge gehabt, jetzt aber just fast das erstemal mit mir redete und sagte: "Donat, weil Er als Fremd so lang und fleißig hier gearbeit hat, will ick Ihn in die Spinnerei nehmen als Lehrlink. In 3 Mond kann Er die Sack, kriegt täglich 36 Kreuzer. Wenn Er keine dumme Deutsch ist, bekommt Er dann ein Maschin und verdient schön Geld! Was sagt er zu der Sack?"

Kannst Dir einbilden, Duckmäuser, daß ich da stand wie aus dem Himmel gefallen und zehnmal in Einem Brumm "Ja" sagte; ich muß roth und recht einfältig dreingesehen haben, denn der Herr lachte und meinte:

"Nehm' er nix für ungut, ich bin ein Franzos und sprecke etwas heroisch, bin hitzig, aber ick fresse keine Deutsch und meine es nit so böse!"

Der Herr Director wurde mein zweiter Schutzengel, wie der Pfarrer mein erster gewesen; sein Auge blieb stets auf mich gerichtet, er gab mir viele Ermahnungen und hielt mich von Vielem ab, denn der Teufel juckte wieder hollops in mir. Die Spinnerei wollte mir nicht gefallen, die Lehrmeister waren lauter Franzosen und neidisch, einen Deutschen zu lehren. Der Herr Director machte, daß ich als Zuschläger in die Schmiede kam, wo ich einen andern Director und täglich einen Gulden erhielt. Konnte es nicht lange aushalten, bekam Blutspeien und wurde fremd. Eben stand ich in meiner Kammer, um das Bündele zu schnüren, da ließ mich der alte Director kommen und machte mich herunter, weil ich so mir nichts dir nichts davonlaufen wollte, ohne ihm ein Brösele zu sagen und fuhr mich dann an:

"Gestern hab' ick die Mann, der an das laufende Maschin war, entlassen. Er liebt die Sauf und soll nit unglücklick werden. Will Er sick besser halten, als der Vorgänger, so thu' ick Ihn an seine Stell. Er bekam taglik einen Gulden zwölf Kreuzer, Ihm geb' ick acht und vierzig Kreuzer täglik, aber nock eine Gehilf, will Er?"

Kannst denken, wie froh ich war und es kam noch besser, denn die Käth, also hieß die Tochter der Hausleute, kam nach Hause, weil sie krank gewesen war und den Dienst bei der Herrschaft verloren hatte, bei der sie 6 Jahre in Einem Zug gedient hatte. Sie hatte die "Durchschlechten" gehabt, war noch sehr schwach, doch ein braveres Mädle wächst im ganzen Unterland nicht; ich wurde in sie ganz anders verliebt als in die Fränz, betrachtete die Käth wie eine Heilige, sie und der Herr Director haben mich vor Vielem bewahrt! —Vier Monate später führt der Satan den rothen Mathäubesle auch nach Ettlingen und dieser leichtsinnige Passagir wurde mein Freund, weil er mein Landsmann war, zog mich zum Saufen und Spielen, so oft er konnte und war mit den Weibsleuten nicht heikel! ... Untreu wurde ich der Käth nicht oft, aber nach 6 Monaten verfehlten wir uns und ich wäre ein schlechter Kerl, wenn ich sagte, sie sei schuld daran gewesen. Sie hat mich oft genug davor gewarnt und mir die Leviten gelesen, aber die Beste hat schwache Stunden und ich war in diesem Punkte kein Held wie Du, wenn's wahr ist!

Als die Eltern die Sache merkten, sollte ich auf einmal aus dem Hause und ging auch, weil ich das Heulen und Schimpfiren nicht mehr sehen konnte. Alle Sonntage traf ich mit der Käth in Busenbach zusammen, doch die Eltern waren ihr auf den Socken und wollten auch dies nicht mehr leiden.

Eines schönen Morgens muß ich vor Amt, der Asessor schnauzt und bellt mich an, ich müsse binnen 3 Tagen die Fabrik und den ganzen Amtsbezirk verlassen, wo nicht, so müßte mich der Gensd'arme holen. Ganz vertattert frage ich warum und da sagt er mir, ich hätte ein Mädchen mit einem Kind und sei auch schon in Bruchsal gesessen.

"Ja, das ist wahr, sage ich, aber darf ein Mensch, der seine Strafe erstanden und sich ehrlich und redlich ernähren will, nirgends mehr arbeiten?"—"Er kann arbeiten, wo Er will, aber in diesem Amtsbezirk ist's mit Ihm Mathäi am Letzten!"—Jetzt sage ich, der Asessor soll mir in den Heimathschein schreiben, weßhalb ich nicht mehr hier arbeiten dürfte, er aber sagt, ich habe es gehört, was zu thun sei und soll mich packen!

Ich besann mich auf dem Heimwege und blieb in der Fabrik.

Acht Tage später werde ich richtig auf die Wachtstube gerufen, sind da 2 Gensd'arme, führen mich vor Amt und der Asessor sagt, ich müsse jetzt 24 Stunden ins Loch und wenn ich in 8 Tagen nicht fort sei, lasse er mich heimtransportiren.

Bei der Rückkehr in die Fabrik nahm mich der Herr Director ins Verhör, wo ich gewesen sei und weil ich für ihn durchs Feuer gegangen wäre, entdecke ich ihm Alles haarklein und erfuhr wieder, was das für ein braver Mann war. Er spricht mir Muth ein, meint, wenn es Jedem der 1400 Menschen, die in der Fabrik arbeiteten, an der Stirne geschrieben stünde, was er schon gethan habe, müßte er Manchen fortschicken. Ich soll ihm und der Käth folgen und brav für mein Kind sorgen. Die acht Tage verstrichen und kein Mensch dachte daran, mich auf den Wald zu jagen.

Gehe ich an einem Sonntage Mittag von Busenbach nach Ettlingen, die Käth ist bei mir und hat unser Kind auf dem Arm, kommt uns just der Asessor mit 2 Herren entgegen, stellt mich auf dem Wege, thut aber ganz leutselig, erzählt Alles den andern Herren und sagt zu mir: "Er wisse, daß ich immer Kostgeld für mein Kind zahle, habe auch ein gutes Lob von den Herrn in der Fabrik, solle nur brav bleiben und für mein Kind sorgen und so fortmachen!"

Solche Rede gefiel mir sehr wohl und wenn ich alles überlege, muß ich sagen, daß ich mein Glück selbst mit Füßen getreten habe und ein Narr gewesen bin, mehr auf den rothen Mathäubesle, als auf den Herrn Director und andere Leute gehört zu haben, die es gut mit mir meinten. Ich hatte eine neue Heimath gefunden und wenn ich gescheidter gewesen wäre, würde ich darnach gestrebt haben, die Käth zu heirathen, die längst wieder in einer Küche zu Karlsruhe stand. Für mein Kind zahlte ich immer redlich das Kostgeld, aber statt bei meinem schönen Verdienst zu sparen, zog ich mit dem rothen Kaiben und Fabrikmenschern herum und habe mehr als Eine Nacht ganz durchgesoffen und gespielt und allgemach Schulden bekommen.

Wenn das Fabrikglöckle zur Arbeit rief, war ich oft voller Schlaf und halbbesoffen dazu und hätte einmal leicht bei meiner Maschine das Leben verloren, wenn nicht der Herr Director mich im letzten Augenblicke gepackt und irgendwo hingelegt hätte, um den Rausch auszuschlafen. Die Käth kam an Sonntagen, so oft sie konnte, hielt mich vom Saufen ab, wir Beide sollten nur Einen Schoppen trinken, gab mir die besten Vermahnungen, ich plärrte oft vor Rührung und fluchte oft wie ein Türke, denn ein Hitzkopf bin ich, Duckmäuser! ... He, schläfst Du?"

"Warum nicht gar, doch mach's kurz, in der Stadt draußen brummelt die Lumpenglocke und bis halb Fünfe ist's dann nimmer so lang!"

"Auch gut, wills kurz verlesen!["] ... Mein Mädchen predigte umsonst, der Herr Director stellte mir Himmel und Hölle vor, aber der rothe Mathäubesle und Andere bekamen immer mehr Gewalt über mich, ich triebs immer ärger und ärger und wurde endlich entlassen. Die Käth weinte sich schier die Augen aus dem Kopf, die Eltern schimpften kannibalisch, aber jetzt war Hopfen und Malz verloren, der Asessor schnitt ein böses Gesicht, that fuchsteufelswild und ich zottelte eben wieder in den Schwarzwald hinauf.

Daheim bekam ich Arbeit beim Fürsten als Holzschläger und hielt's ein Vierteljahr mit dem Waldleben recht gut aus, obwohl die Arbeit ganz anders war als in der Fabrik, wo eigentlich der Arbeiter nur Befehlerles spielt bei der Maschine. In meinem Ort lobten mich die Leute sehr, weil ich so lange fort war, gut gethan und rechtes G'häs mitgebracht habe und als ich das Saufen wieder anfing, hätte mich ein Vorfall belehren können, daß ein armer Tropf schon deßhalb nicht versaufen sollte, was er auf und anbringt, weil man gleich glaubt, er habe das Geld dazu gestohlen.

Kommt eines Abends—es war just beim Nachtessen und ich spedirte die Kartoffel Nro. Dreißig ins Unterquatier!—kommt so ein Gensd'arm, schaut mich an, fragt wer und was, sieht meine Uhr an der Wand und nimmt sie weg, muß ihm mein Trüchle öffnen; er nimmt einen Rock, zwei paar Hosen, ein paar nagelneue Stiefel, drei Hemder, einen Hut, Schirm, endlich einen Stutzen und zuletzt mein Geld, es waren 18 Gulden 12 Kreuzer—und die Hausleute hattens in Verwahrung, weil ich das Trüchle nicht gut schließen konnte. Auch der Donat selbst gefiel ihm so, daß ich im Amtsgefängnisse übernachtete und zwar 6 mal. Man hatte dem Accisor unseres Ortes 50 Gulden gestohlen und 100 dabei liegen lassen und ich stand im Verdachte, wieder "gekratzt" zu haben. Aber ich konnte nachweisen, woher all' meine arretirten Sachen waren, es stellte sich heraus, daß der eigene Schwager des Accisors die 50 Gulden weggekratzt habe—es war auch ein Lediger, der gern ein Mäßlein lupfte, wie ich und ein Spezel von mir, ein völlig g'scheidter Kerl und nicht so schlecht, wie der rothe Mathäubesle, der doch nie im Zuchthaus war!—kurz, ich wurde nach sechs Tagen wieder frei, der Amtmann sagte gleich, ich hätte beim Accisor nicht gestohlen, denn ich würde die 100 Gulden auch eingesackt haben und ich glaube, er hätte Recht gehabt, wenn mir nicht die rechte Spitzbubencourage überhaupt mangelte.

Auf dem Heimwege—am Tage Mariä Geburt wars!—traf ich ein Weibsbild, das ich schon früher gekannt hatte und nicht viele Flausen machte. Diese Apollon war viel jünger und netter als die Fränz, dafür aber schlimmer, wollte überall sein, wo es lustig zuging, vertrieb mir die Lust zur Arbeit, machte mich leichtsinnig und allgemach ging alles Geld fort, ich verkaufte alle meine Sachen, vergaß die Käth sammt meinem Kinde ganz und gar!

Höre Duckmäuser, Du hast Recht, es ist nicht das Aergste, daß Du den Alten umbrachtest, ich begreife, daß die Hannette oder Hindania oder wie das wälsche Mensch hieß, Dir weit mehr Gedanken macht!

Die Käth kam aus dem Unterland herauf, um mich zu besuchen, es wurde mir gesagt und ich ging so lange fort, bis ich glaubte, daß sie die Höllensteige wieder hinab sei.

Sie hinterließ mir bei der Adlerwirthin Wünsche für mein Glück und was ich suche, das werde ich schon finden, soll nur das Kostgeld für das arme Kind nicht ganz vergessen, sie bringe es nicht auf und ich kennte ja die Armuth ihrer Eltern!—Will's mir doch das Herz zersprengen, wenn ich jetzt in meinen Ketten an die Käth denke! ... Wie verlassen war ich an Vater und Mutter, wie oft und viel habe ich deßhalb schon geplärrt und jetzt mache ich's gerade wie der schlechte Unteroffizier!—Gottlob, daß der Vater der Käthe keiner ist, wie mein versoffener Stiefvater, der jetzt von seinen Buben in den alten Tagen gehauen wird trotz einem Tanzbären!— Käthe's Kind hat einen guten Großvater, er trug es immer auf den Armen herum, ohne daß er mich je leiden konnte und habe ihm doch mein Lebenlang nicht ein Augvoll Böses gethan! ... Ich fand bald, was ich suchte, nämlich das Zuchthaus, wohin mich eine That brachte, zu welcher ich von der erzliederlichen Apollon in der Besoffenheit beredet wurde. Wurde wegen Raub verurtheilt, Gott weiß, daß ich nie an Raub dachte, obwohl ich vielleicht bald wieder zum Stehlen gebracht worden wäre. Man hat mir nicht geglaubt, doch Du wirst mir glauben, Duckmäuser, denn wozu sollte ich hier lügen, wo Stehlen und Rauben fast Ehrensache sind? Verurtheilt bin ich, kann nichts daran ändern und denke eben, ich hab' die schwere Strafe an der Käth verdient und an meinem Kind, an denen ich schlecht genug handelte... Wegen Raub bin ich verurtheilt, doch höre, wie Alles zuging, pure Thatsachen!

Am 13. Juni heuer, es war an einem Sonntagmorgen und wunderschönes Wetter, beredet mich die Apollon sie zu begleiten, sie wolle nach Aha 'nauf, um eine alte Kamerädin zu besuchen. Wir gehen; der Himmel wölbte sich wie ein seidenes Sonnendach über die Berge, alle Matten prangten mit Millionen Blumen, der Titisee glänzte wie ein Metallspiegel, die alten braunen Hütten mit ihren Strohdächern sahen aus, wie großmächtige Aschenhaufen, wo die Buben und Mädle, der neumodischen steinernen kalten Paläste Johannisfeuer angezündet hatten, die Luft wehte mild und frisch aus den noch dampfenden Thälern am Feldberge, man hörte nichts als den Klang der Glocken, der durch die Tannenwälder zitterte, zuweilen einen Vogel oder einen Schuß oder einen Peitschenknall und hätte die Gegend für ausgestorben halten können, wenn nicht die stämmigen Mädle mit den gelben Strohhüten und altfränkischen Juppen mit ihren Burschen und das Herrenvolk aus Lenzkirch auf der Straße hin- und hergewandelt und aus allen Kirchen die Anhöhen hinauf und ins Thal hinab heimgegangen wären. Ich rauche gemüthlich das Pfeifle, betrachte Alles und sage endlich zu der Apel, die in Einem Zug fortschwätzt, ohne daß ich auf sie hörte: "Apel, ich glaubte, es ginge in eine Kirche; mir ist's, als ob meine Mutter auferstanden wäre, dort zwischen den Weißtannen immer herüberschaute und sagte: "Donatle, denk an Gott und bete, hast Niemanden auf der Welt!"["]

Die Apel lacht laut auf und sagt: Hab's schon gemerkt, daß ein halber Narr neben mir wandelt. Du weißt, daß ich geschworen habe, erst wieder in d'Kilch zu gehen, wenn ich die Granatenhalsschnur habe, nach der du mir das Maul schon hundertmal wässerig gemacht hast. Gehe meinethalben in die Kilch oder zu der bucklichen Hanne, du Tropf und laß mich mit Frieden, hast mich doch nicht gerne!

"Apel sage ich—du kriegst die Halsschnur, sobald ich Geld habe. Aber wir hätten nach der Kirche auch noch den Weg nach Aha gefunden!"

Jetzt wird sie ernstlich böse, geht auf die andere Straßenseite, sagt: "Geh' in die Schweiz und werde Kapuziner, du Lalle! Ist da draußen nicht auch die Kilch? Bin ich schlechter als die Andern, die den ganzen Tag den Rosenkranz drillen? Na, na, die wüste "Unterländersau" steckt dir im Kopf, hast die Apel satt und willst anderes Futter, du schlechter, ehrloser Kerl!"

Sie sagt kein Wort mehr, ich habe nicht übel Lust, ihr von wegen der "Unterländersau" den Hals zuzuschnüren, daß ihr die Lälle zum bösen Rachen heraushängt, aber sie springt voraus, nachher reuts mich wieder und mache gutes Wetter. Ich sah wohl, daß die Apel mein Unglück sei, doch ich habe Niemanden auf der Welt und ein Weibsbild muß ich haben!—Wir laufen und laufen wieder selbander und kommen bald zum Rößle, wo es die Steig hinabgeht und links über die sumpfigen Matten durch Hinterzarten den Wald hinein, bergauf bergab nach Aha 'nauf. Sie wollte haben, daß ich mit ihr in den Sternen hinabginge und dort Forellen bezahlte, denn die Forellen der Posthalterin sind im ganzen Land berühmt und das Herrenvolk, das mit dem Eilwagen fährt, frißt im Sternen Forellen und sauft Markgräfler dazu, daß ihm der Ranzen zerspringen möchte. Die Apel that gar gern wie Herrenmenschen thun, war auch in der Hoffnung, wo man den Weibern nichts abschlagen soll, aber ich ging dennoch nicht in den Sternen, der Teufle führte mich in das Rößle ob der Steig und die Apel blieb nicht draußen und lief nicht allein weiter, wie sie gedroht hatte.

Wir fressen einen Kalbsbraten, 's war ein Stück so groß wie ein Roßkopf, dazu ein Scheffel Salat; der Wein ist ganz gut, die Apel und ich bürsten, daß es eine Art hat, obwohl wir nicht mehr einen Brabanter im Vermögen besitzen.

Auf einmal geht die Apel hinaus, steht vor dem Rößle, hält die Hand über die Augen, stiert immer auf den Weg, der von Hinterzarten durch die Matten führt, kommt herein und thut wie ein Narr, daß ich bezahle und mit ihr fortgehe.

"Komm, Donat, geschwind, wir gehen nicht nach Aha, es thut's ein andermal auch, wollen zurück gegen Lenzkirch!" drängt sie. Ganz verwundert zieht sie mich an der Lafette vorbei, wo der Wirth gerade aus dem Fenster schaut und wahrscheinlich ob unsern rothen Gesichtern lacht. Hinter dem Bären schlagen wir die Straße nach Lenzkirch ein, im nächsten Wäldchen steht sie still und sagt gar freundlich:

"Donat, jetzt will ich den größten Beweis von Liebe, den du mir geben kannst und wenn du's nicht thust, adje Parthie!"

Ich hätte damals dem Teufel den Schwanz ausgerissen, wenn die liebe Apel gewunken hätte und schwöre ihr Alles zu thun, außer Stehlen und Umbringen.

"Komm ein bischen hinter die Tannen, wir wollen passen. Es ist hoher Mittag, weit und breit kein Mensch, doch kommt in einigen Minuten ein Maidle von Hinterzarten, das mich schwer erzürnt hat am Georgentag, wo ich auch nach Aha ging und in Hinterzarten einkehrte. Sie hat mir vor einer Stube voll Leut alle erdenklichen Schandnamen gesagt und gemacht, daß ich fort mußte. Die packst du an, schleppst sie in den Wald, im Nothfalle bin ich auch da, sie kennt dich nicht, aber mich, deßhalb komme ich nur im Nothfalle. Ist gar stolz auf ihre Larve; du sollst sie recht demüthigen, das übermüthige Ding; es kommt nichts heraus und zu nehmen brauchst du ihr weiter nichts! ... Hat sie ihren Theil, so lassen wir sie wieder springen, willst du, Herzensdonätle?["]

Ich war stark benebelt, die Sache kam mir recht spaßhaft vor, richtig da kommt das Mädle und sieht aus, wie der Tag im Vergleich zu der Apel. Ich schlich hinter ihm her, die Apel blieb abseits im Walde, das Herz klopfte mir, daß ich fast keinen Athem mehr bekam, die Apel winkt immer wie besessen, endlich fasse ich ein Herz, packe das Maidle und zerre es den Straßengraben hinab in den Wald. Es schrie wie ein Dachmarder, wehrte sich aus allen Kräften, ich riß ihm unversehens eine Granatenschnur mit einem goldnen Kreuze weg, was später im Grase gefunden wurde und warf es zu Boden!—Ihr vermaledeites Geschrei führte zwei Bauernbursche her, die von Lenzkirch die Höhe rasch heraufgestiegen waren. Diese halfen dem Maidle, prügelten mich kreuzlahm, banden mir dann die Hände mit meinen eigenen Hosenträgern und schleppten mich nach Lenzkirch!"—Das ist meine Geschichte und jetzt urtheile du, ob ich einen Raub begangen habe und gerecht oder ungerecht leiden muß! Ich erzählte Alles haarklein, wie es gegangen war, doch mußte halt ein Räuber sein, da half Alles nichts mehr. Mich reut's bis auf's Blut, daß ich nur ein Brösele gestanden habe."

"Nein, bist kein Räuber, armer Tschole, bist halt auch ein Unglückskind!— Was hätte es dem Maidle geschadet, wenn du zum Ziele gekommen wärest? ... Aber mit der Apel, wie gings da?" fragt der Benedict verächtlich und spöttisch zugleich.

"Ja, die Apel, die Apel! Diese wurde nicht entdeckt und war vor mir in der Neustadt, um mich bei Amt anzugeben. Sie beschwur, daß ich sie bereden wollte, an der Sache Theil zu nehmen; sie habe solches nicht über s'Gewissen gebracht, mich nicht abhalten können, zumal in ihren Umständen und mich deßhalb angezeigt. Ich sei ein schändlicher Kerl und wenn sie nicht gewesen wäre, würde ich schon mehr als hundert Weibsbilder unglücklich gemacht haben. Ist solche Falschheit nicht himmelschreiend? ... Ich weiß woher das kommt!"

"Ei, die Apel trug eben keine Lust, nach Bruchsal zu kommen" meinte der Duckmäuser.

"Wohl, doch der Hauptgrund ist, weil das liederliche Weibsbild wieder mit einem alten Schatz liebäugelte, der fast der zweite Spaniol war."

"War der Donatle, so lange ich Geld und Sachen zu verkaufen hatte, im Rößle blieben mir noch 10 Batzen übrig, 5 davon gab ich ihr und sie wußte, daß meine Herrlichkeit ein Ende hatte und ich das Hemd vom Leibe verkaufen mußte! Der Kilian von Prechthalen, ein Wittmann, mit dem sie einmal einige Jahre im Lande herumgezogen, hatte einen Brief geschickt und ihr angeboten, mit ihm zu hausen. Die Apollon sagte mir selbst, sie sei entschlossen, ins Prechthal zu wandern, sobald sie ihr Kind der Gemeinde abgeliefert habe. Geben konnte ich nichts mehr, drum verließ sie mich. O die Menschen sind falsch, grundfalsch, Duckmäuser, es gibt keine Ehrlichkeit mehr auf der Welt und der Ehrlichste wird am meisten angeschmiert! Falsch wie Galgenholz hat die Apel, der ich Alles anhing, an mir gehandelt! ... Es möge ihr in der Hölle zehntausend Jahr auf der Seele brennen!"

"Wie lang bist du denn mit der Apel umgegangen?" fragte der Benedict. "Hoh, sieben Monate mindestens zottelte ich aus einem Wirthshaus und einem Orte in den andern."

"Und arbeitetest nicht?"

"Der Fürst wollte keinen Holzschläger meiner Art lautete der Bericht des Försters. Dieser konnte mich anfangs leiden, doch wurde ich bei ihm angeschwärzt, daß ihm die Augen überliefen. Unsereins soll eben kein Freudele haben und wird gleich Alles krumm genommen!" seufzt der Donatle.

"Hast mir auch schon erzählt, wie du den Bauern Schinken aus dem Kamin und Schmalzhäfen aus dem Trog geholt hast, mich wunderts nur, daß du soviel auf deine Ehrlichkeit gibst!" ... lächelte der Vatermörder. "Oh du Daps, entgegnet der Donatle, vertragen sich solche "G'späß" nicht mit der Ehrlichkeit? Dann wären alle Leute Spitzbuben! Was schadet so ein Beinle oder Häsele einem Packer oder Holzhändler oder Wirth? Zudem hat die Apel das Meiste geholt, sie konnte es mit den Weibern und noch mehr mit den Knechten und theilte Alles redlich mit mir!"

"Sauberes Leben das, du ehrlicher Donatle!" meint der Benedict.

"Spotte du nur über mein Unglück, hast's auch nicht besser gemacht! ... Bin eben schief in die Welt gerutscht, die Fränz, der rothe, verdammte Mathäubesle und die Apel, lauter Leute zehnmal nichtsnutziger als ich sind eben an meinem ganzen Unglück Schuld! ... Hab erst am vorigen Sonntage daran gedacht. Ich las in der Kirche, wie sich Ludwig der kleine Auswanderer von einem Schmetterling und Kukuk verführen ließ und im Walde verirrte und dachte gleich, Fränz und Apel und die Fabrikthierer im Unterland seien meine Schmetterlinge, der rothe Mathäubesle mit seinen wüsten Reden und Liedlein mein Kukuk gewesen, die Amtsleute aber meine Sperber und Weihe und so ist's! ... Hätte ich dein Vermögen und deine Mädlen, deine Mutter und den Meister März dazu gehabt, dann wär' der Donatle nicht neben dir, weißt du's? Ich bin kein Spitzbube, aber du bist Einer und ein Mörder dazu!" ... flüsterte der zornig werdende schuldlose Donat. Mit einer sehr unzierlichen Redensart kehrt sich der Duckmäuser um und beginnt zu schnarchen.

Der Schwarzwälder brummt noch einige Redensarten, sieht, daß der Patrik mit hellen, offenen Augen zu ihm hinüberstarrt und den Kautabak lustig von einem Backen in den andern wirft, von Zeit zu Zeit in eine Düte spuckend, die er im Schreinermagazin gefunden haben mag. "Iech ha der's gs'ait, ma cha nüt mitem Duckmüser ha, s'isch e Chalb wia der Amtma vu Instetten!" sagt der Patrik, dessen scharfe Ohren Alles gehört hatten.

Der Patrik ist nach Geburt und Art ein "Hotzenwälder" neuern Schlages, bei dem außerordentlich viel Ungeschlachtheit und ungezähmte Leidenschaft sich mit Mutterwitz vermählen, während von biederer Frömmigkeit und Rechtschaffenheit der ehrwürdigen Altvordern bei ihm blutwenig verspürt wird. Pauperismus und Sittenverwilderung fanden sammt der Aufklärung den Weg auch in die Thäler der ehemaligen Grafschaft Hauenstein, welche in neuester Zeit das Calabrien des badischen Oberlandes zu werden droht; mindestens steht eine Diebsbande dieser Gegend nach der andern vor den Geschwornen in Freiburg, an Brand, Mord und Todtschlag hat es schon früher nicht gemangelt und mit der uralten, schönen malerischen Tracht scheint auch die uralte Einfachheit des Lebens, der Sitte und die fromme Gesinnung täglich mehr zu verschwinden.

Der Patrik stolperte aus seinen Bergen in das wohlhabende fruchtbare Hügelland des Kleckgaues, diente an verschiedenen Orten, am längsten beim Posthalter in Instetten, wo er als Hausknecht sich unmäßig in den guten Rothen verliebte und zuletzt fortgejagt werden mußte, weil er soff, daß er manchmal einen Güterwagen für eine Baßgeige hielt und mit dem theuern Hafer umging, als ob er vom Himmel herabregne. Er lungerte dann einige Zeit im "Züribieth" herum, trieb Alles, was der Brief vermochte und kam zuletzt mit den Landjägern in eine so schiefe Stellung, daß er gerathen fand, sein Glück wiederum "im Dütschland" zu probiren. Leider jedoch ereilte diesen Sohn Teuts, dem die Treue zum Rothen nicht nur aus den Augen blitzte, sondern auch aus der Kupfernase schimmerte und die Liebe zur Trägheit unsäglich tief im Herzen saß, nicht das Glück, sondern das Unglück und jetzt erzählt er dem Donatle, was er im Zuchthause schon hundertmal erzählt hat, nämlich die "wahrhaftige und kurze" Geschichte seiner "unsäglichen Schuldlosigkeit."

Rauh und eckig wie die tosenden Waldbäche und Felsen seiner Heimath ist Patriks Sprache; man glaubt eine Sägemühle krächzen zu hören und ein Pommer oder Mecklenburger würde keine Silbe davon verstehen, wenn er nicht etwa Hebels allemannische Gedichte an springenden und singenden Theeabenden mit wüthenden Beifall radebrechte; dabei flucht der Patrik trotz dem derbsten Hochbootsmann und braucht Bilder, vor denen selbst der Idyllendichter Voß von Heidelberg bis Eutin fortgaloppirt wäre.

In wie vielen schattenreichen Gebäuden der gute Hotze schon herumwanderte, ehe er in den grauen Kittel schlüpfte, verschweigt er dem Donatle klüglich; es ist spät, er macht die Sache kurz und sein vom Brummbaß des Murmelthieres beschütztes Geflüster ließe sich etwa übersetzen wie folgt:

"Man hätte mich auf den Grund schlagen sollen neun Monate vor meinem Geburtstage, nämlich in der Gestalt meines Vaters, der die Dummheit beging, einen Kerl auf die Welt zu setzen, welchem das Unglück wie der eigene Schatten folgt. Die Mutter hat's mir oft prophezeit, ich sei für das Kreuz geboren und habe ein grausiges Kreuz auf dem Hirnschädel gehabt und im Meerfräulein zu Laufenburg hat einmal ein Käshändler mit dem Vater gewettet, daß ich noch lange vor ihm am Galgen oder im Zuchthause stürbe ob schuldig oder unschuldig, denn die Constellation der Gestirne—davon versteht ein Kalb deiner Art freilich nichts!—sei bei meiner Geburt die schlimmste von allen erdenkbaren Constellationen gewesen. Bin jetzt 27 Jahre und 13 Herbstmonate auf der Welt und weiß, daß der Teufel morgen allen Leuten die Füße abschlüge, wenn ich heute Schuster würde, drum ist mir auch alles Eins und der Vater hat mich nichts lernen lassen ... Hör' nur Einen Spuk, Donatle, dann hast genug und wirst dich nicht mehr verwundern, weßhalb ich auch hier alle Schick ins "schwarze Loch" komme. Sitze also im Engel zu Lottstetten und versaufe den letzten Rappen, damit er mir nicht aus dem Sack fällt und schlendere dann wohlgemuth auf der Straße nach Instetten ... der Fußweg über die Wiesen war so schmierig wie das fünfte Element im Polakenland!—weiter und denke an meinen alten Schatz, mit der ich in der Weihnachtsnacht hinter der Klosterkirche von Rheinau zum erstenmal zusammentraf. Ganz in Gedanken versunken laufe ich den Berg hinan, merke gar nicht, daß ich einem leeren Güterwagen begegnete, bis ich hinter mir rufen hörte. Hört ein gescheidter Mensch in einer Gegend, wo auf der einen Seite Wald und weit und breit kein Mensch zu sehen ist, hinter sich Halt brüllen, so schaut er sich nicht um und springt, daß ihm die Schrittstecken wackeln. Wiewohl ich nun der dümmste Gedanke meines Vaters bin, war ich doch gescheidt genug, diesmal zu springen und erreiche das Höchste ganz athemlos, weil mein Verfolger immer fort brüllt und auch springt. Doch was geschieht? Mir entgegen kommt gerade ein Gensd'arme, der mich im Verdachte hatte, daß ich ihm einmal in Instetten im Finstern Eins aufs Dach gab ... es war Einer, der mich früher ins Bürgerstüble brachte und von dort in den Thurm von wegen einer Trudel, der ich Nachts in die Kammer gestiegen bin! Unser Gensd'arme sieht mich kaum, nimmt er's Gewehr von der Achsel, macht am Hangriemen herum und schreit ebenfalls Halt!— Außer den beiden Haltschreiern sah ich weit und breit nur mich, denke an die Prophezeiung meiner Mutter selig, springe über die Straße links in die Felder und sehe im Umschauen, daß der verdammte Grünrock mir nichts dir nichts auf mich anlegt, als ob ich ein Hase wäre. Ganz verwundert bleibe ich stehen, denke: Patrik, aha, die Constellation ist wieder da! Der Gensd'arme kommt und brüllt: Halt Spitzbube, Ihr seid arretirt. Gleich darauf keucht ein schwäbischer Fuhrmann, den ich auch nicht leiden mochte, weil er nie in der Post zu Instetten, sondern im Engel zu Lottstetten einstellte, auf mich los und schreit ebenfalls: Hab' ich dich Spitzbube, liederlicher!

"Hört, Ihr Hagelsketzer, ich bin kein Spitzbube!" sage ich mit der größten Mäßigung und war mir schon nicht wohl dabei, weil ich meinen Heimathschein in Bülach drüben liegen gelassen hatte.

"Erzspitzbube, Halunke!" antworten die Beiden ganz besessen, sind keine drei Schritte mehr vom Leibe und während ich vor Erstaunen die Hände über dem Kopfe zusammenschlage, klirrt eine Kette, ich reiße die Augen auf und was meinst, Donat, was mir Unglücksmenschen passirt war? Im Vorbeistreifen am Güterwagen blieb eine Wagenkette an mir hängen und vor lauter Gedanken an die Rheinauerei und später vor Angst und Schrecken hatte ich den Butzen gar nicht bemerkt. Es war eine schöne schwere Kette und habe nachher alle Sterne vom Himmel herabgeflucht, weil der Kaib von Fuhrmann nicht schlief, während sonst Güterfuhrleute oft von einem Wirthshaus zum andern fahren, ohne ein Auge aufzumachen. Dieser heillose Streich war noch das Geringste; der heimtückische Schwabe hatte auch noch seine Brieftasche und die silberbeschlagene Tabakspfeife in die Tasche meines Manchesterkittels gesteckt, während ich sinnend an ihm vorüberstreifte. Der Gensd'arme und der Schwabe konnten mich nicht leiden, 's war offenbar ein abgekartetes Spiel, um mich ins Elend zu bringen, ich zeigte mich bereit, dies hundertfach zu beschwören, doch der Amtmann half den Beiden und ich, armer, armer Tropf, der ich gehofft hatte, im Adler zu Instetten"—

"Jetzt ist's genug, ihr Waschweiber, ich will meine Ruhe, ich bin nicht im Zuchthaus, um euer Sumsen zu hören!" ... schrie das Murmelthier mit zornrothem Antlitz, stand im Hemde im Hintergrund des Saales gleich dem Rachegeist der Hausordnung und trommelte wüthend auf dem zusammengeschrumpften Schmeerbauche herum.

"Ob Ihr auf der Stelle in Euer Nest geht? Ob ich kommen soll? Wartet nur, das wird Euch eingetränkt! Die Ruhe auf solche Weise stören, Nachts um Zwölfe krakehlen, als ob Ihr der Gockler in diesem Saale wäret?!["]

Ob dieser Philippika streckte Mancher den Kopf in die Höhe, der Aufseher, der alte Moritz stand mit rothem Kopfe unter dem Guckfenster, sein grauer Schnurrbart richtete sich in die Höhe, wie die Stacheln eines Stachelschweines, das seinen Feind erschießen will. Das erschrockene Murmelthier, ein wahres Bierfaß auf zwei wandelnden ungeschälten Stecken rannte mit einem Harrassprunge in das Bett, die Bretter brachen zusammen und jammervoll saß der Edle auf den Trümmern seines Glückes, nachdem er dreimal von oben nach unten gekugelt!

"Herr Moritz entschuldigen, nicht mein College da war der Ruhestörer, sondern die dort hinten, vor Allem der Duckmäuser, der nicht eine Minute schweigt und all meine Warnungen verachtet, weil er mich nicht als legitimirten Aufseher des Schlafsaales anerkennt. Er hat den Donat zum Plaudern verführt und dann den Patrik! ... Offenheit ist meine Sache, der Wahrheit die Ehre, an Zeugen wird's nicht fehlen! ... Es wird ruhig sein, ich garantire Ihnen, mein Herr!" Diese Rede des Spaniolen besänftigt den alten Moritz, der sich mit der ernsten Mahnung ans Strafbuch in den Gang zurückzieht.

"Oh, wäre ich in einer Zelle, der Kerl wird sonst noch kalt durch mich!" murmelt der Duckmäuser und knirscht mit den Zähnen.

"Der Spaniol ist ärger als die Apel, der Teufel soll ihm heute Nacht noch das Genick brechen!" sagt der Donat leise vor sich hin.

"Siehst du, Donat, die Constellation? Morgen gehts wieder ins schwarze Loch mit Hungerkost und Gänsewein, Alles von wegen der Strohlshagelsconstellation!" ... "O Vater, du Hornvieh, ich möchte dich noch unterm Boden auf den Grund schlagen, du bist schuld an Allem!"... seufzt der Patrik und kehrt sich auf die andere Seite.

"Wann, o wann hört der Lärm und Gestank dieser Marterhöhle für mich auf!" flüstert Martin der Wirthssohn leise vor sich hin und läßt einen tiefen Seufzer fahren, während die Augen trostlos durch die vergitterten Scheiben in die sternenleere, schwarze, traurige Regennacht hinausstarren.

Von jetzt an vernimmt man nur noch das Schnarchen des Murmelthieres aus dem Abgrunde der zerbrochenen Bettlade sammt dem Geschnarche eines halben Dutzends Anderer, die schwer gearbeitet oder den Schnupfen haben. Einige reden im Schlafe, weinen, fluchen, schlagen um sich und der schwere, schwüle Dunst dieses Saales tragt wohl dazu bei, auch die Traumwelt der Gefangenen mit wilden, düstern Gestalten und Bildern zu bevölkern. Aus jenem Verschlag im Hintergrunde, dem von Zeit zu Zeit Einer zuschleicht, wehen Moderdüfte über die Schläfer.

Bruchsal.

Wer auf der Eisenbahn zwischen der altberühmten Musenstadt Heidelberg und dem schönen Karlsruhe fährt, wird selten ermangeln, bei der Station Bruchsal nach einem großen Bau hinüberzuschauen, welcher gleichzeitig an die Pracht und an das Elend unseres Jahrhunderts mahnt.

Er sieht einige freundliche Häuser durch einen baumlosen Garten geschieden, in gleichen Abständen hinter einander stehend, an eine hohe graue Ringmauer sich anlehnend, die mit Thürmen besetzt ist, zwischen denen Schildwachen auf und abgehen. Vom Thore führt ein mit Schieferplatten gedecktes Gebäude einem Thurme zu, von dessen hohen Zinnen der Blick weithin durch die Rheinebene bis Mainz schweifen mag und von diesem Thurme mit seinen im Sonnenglanz blitzenden großen Fensterscheiben strahlen vier lange, aus röthlichen Sandstein errichtete Gebäude aus, alle gleich hoch, alle mit derselben Anzahl länglicher, vergitterter Fenster und Stockwerke versehen. Das Ganze erinnert an eine mittelalterliche Burg oder noch eher an die aus dem Revolutionskrater des Jahres 1789 verjüngt erstandene Bastille, welche aus dem Völkerbienenstock und Wespennest Paris in das stille, idillischschöne Rheinthal wanderte. Es lehnt sich an einen niedern Höhenzug, von welchem Weinberge, Obstbäume, Felder und Matten starr hinabschauen in das fremdartige, geheimnißvolle Leben, welches sich in den Höfen still und einförmig hin und her bewegt.

Diese mit großen Kosten, aber auch für Jahrhunderte errichtete Masse von Gebäuden, gleichsam den Anfang einer neuen und großartigen Vorstadt Bruchsals abgebend, bildet ein Ganzes, dessen Beschreibung uns um so mehr überzeugte, daß wir ein zu Stein gewordenes Abbild der Idee der Zweckmäßigkeit vor uns haben, je mehr jene ins Einzelnste einginge.

Hier ist wohl der einzige Platz in Deutschland. wo die Einzelnhaft mit jener Folgerichtigkeit durchgeführt wird, welche die Härten des amerikanischen Systems vermeidet, ohne den Grundgedanken der vollkommenen Trennung der Gefangenen zu beeinträchtigen.

Es ist ein Wunderbau und ein großer, fruchtbarer Gedanke in ihm lebendig geworden, der Gedanke, die Gesellschaft nicht nur vor ihren Feinden zu bewahren, sondern diese oft weit mehr unglücklichen als verbrecherischen Feinde zu beständigen Freunden der Menschheit und Gottheit zu machen.

Die ersten unvollkommenen Anfänge eines derartigen Baues entstanden in der Quäkerstadt jenseits des Meeres; die Ersten, welche das einzigrichtige Mittel ergriffen, um die für die Gesellschaft und die Verbrecher gleich großen Gefahren des gemeinschaftlichen Zusammenlebens der Sträflinge abzuwenden, waren Männer, welche noch heute zu den Edelsten unseres Geschlechts gezählt werden und deren Ruhm in einem bessern Jahrhundert den zweideutigen Ruhm der meisten Kriegshelden so hoch überfliegen wird, als der völkerbeglückende Geist christlicher Liebe über der finstern Gewaltthätigkeit thierischer Rohheit und Selbstsucht steht.

Noch niemals gab es eine große Erfindung, niemals blitzte ein ins Völkerleben eingreifender neuer Gedanke auf, wogegen sich nicht zahllose Widersacher erhoben hätten. Jede neue Erfindung und Einrichtung ist eine Kriegserklärung gegen diejenigen, welchen dadurch ins Handwerk gegriffen wird, deren Nutzen, Eitelkeit, Denkfaulheit, bequeme Gewohnheiten bedroht erscheinen. Ungefährlich werden die Liebhaber des alten Schlendrians, je mehr die Zeit eine neue Erfindung oder Einrichtung bewährt. Je weniger Bürgschaften für solche Bewährung vorliegen, desto schwankender, zweifelhafter, unentschiedener werden dann auch diejenigen sich verhalten, deren Besonnenheit und weitschauender Blick sich nicht damit verträgt, das schadhafte Alte mit ungeprüftem Neuen zu vertauschen, insbesondere wenn das Alte noch verbesserlich erscheint und das Neue nur mit großen Opfern und Gefahren eingeführt zu werden vermag.

In Amerika ist die Verwerfung gemeinsamer Haft längst entschieden und der Streit dreht sich dort nur noch um die Frage, ob die scheinbare und halbe Trennung der Gefangenen durch das sogenannte Schweigsystem oder die wirkliche und vollständige durch das System absoluter Vereinzelung räthlicher und fruchtbringender sei, eine Frage, welche auffallend erscheinen würde, wenn man nicht wüßte, daß die Erfahrung viele Bedenken, Vorurtheile und Gefahren der einsamen Haft wirklich oder scheinbar bestätigte.

Einerseits wurden die Forderungen und Erwartungen zu hoch gespannt, anderseits die Leistungen zu gering befunden, weil eben die Lösung der Frage der einsamen Haft nur durch Versuche allmählig geschehen und dabei nicht leicht vermieden werden kann, daß verkehrte Maßregeln und untaugliche Leute den Vielen Waffen in die Hand geben, die das Kind gerne mit dem Bade ausschütten.

England und Frankreich mit andern Ländern, in Deutschland Preußen voran scheinen von der Unverbesserlichkeit der gemeinsamen Haft längst überzeugt; jenes sendet seine Verbrecher mit altgewohntem Krämergeiste baldmöglichst nach Australien, um jene einst so glücklichen Eilande mit dem Gifte europäischer Verdorbenheit zu beglücken und sich selbst das zweibeinige Ungeziefer weit vom Leibe zu schaffen; die Franzosen ergriffen den Gedanken der einsamen Haft mit gewohnter Lebendigkeit und führten ihn an manchen Orten ins Leben, doch einerseits würde die allgemeine Einführung der Zellenhaft viele Millionen verschlingen und anderseits tobte die federnmordende Feldschlacht zwischen Liebhabern des Schweigsystems und der Zelle, wobei sich die Anhänger des Alten und Bestehenden vergnüglich die Hände rieben und sich hinter das Flicken machten.

In Preußen zunächst, wo die Regierung auch im Gefängnißwesen Großes leistet und wacker für Vereine für entlassene Gefangene kämpfte, hat der edle Julius insbesondere eifrig gewirkt für einsame Haft. Es wurden Zellengefängnisse nach englischem Muster gebaut, die folgerichtige Durchführung der einsamen Haft leider auch nach englischem Muster aufgegeben. Einzelne in andern Ländern redeten und schrieben Vieles von bisher unentdeckten Verbesserungen der gemeinsamen und noch weit mehr von der abscheulichen Kostspieligkeit und der menschenmörderischen Abscheulichkeit der Einzelhaft.

In allen Ländern Europas erhoben sich die edelsten und gelehrtesten Männer für seltener auch gegen die Einrichtung, gegen deren Einführung der Kostenpunkt die einleuchtendste und beliebteste Einwendung blieb.

Daß in einer so wichtigen Frage nicht nur die Vernunft, sondern manchmal auch die Leidenschaft im Humanitätsmantel das Wort ergriff, viel Sinnloses, Unwahres und Lächerliches zu Tage gefördert, Mücken zu Elephanten gemacht und die altberühmten Hochschulen des Lasters, nämlich die alten Zuchthäuser als wahre Tugendschulen angerühmt wurden, versteht sich von selbst und mehr als Einer brütete ein sogenanntes "System" aus, das auf den Gedanken hinauslief: "wenn alle Gefängnißbeamte meine Erfahrung und meinen Geist hätten, um meine Klassen unfehlbar durchzuführen, dann wäre aller Noth ein Ende gemacht!" Hätten doch diese "Systematiker" ins eigene oder ins nächste beste Eheleben hineingeschaut, wo die Gewohnheit des Umganges gegen Schattenseiten der Gatten und Kinder abstumpft, dann bedacht, daß ihre Pfleglinge Leute voll Irrthümer, Fehler, Leidenschaften und Laster, das vom Gesetz erzwungene Beisammenleben ein vielköpfiges, leidenvolles und verdrießliches, jedes gute Beispiel von vornherein ein zweideutiges sei, sie würden endlich doch den eigentlichen Grundfehler aller gemeinsamen Haft, die unabwendbare mehr oder minder völlige Abstumpfung gegen Recht, Sitte und Religion gemerkt und endlich eingesehen haben, daß die Besserung nicht aus Tabellen der Rückfälligen bewiesen werde, für schlechte Gesellschaft kein Kräutlein gewachsen sei und ein schlechter Kerl der Gesellschaft schweren Schaden bringen könne, ohne deßhalb wiederum den Männern des Rechts in die Haare zu gerathen.

Nicht zweideutige Listen von Rückfälligen, sondern getreue und gewissenhafte Berichte über das Leben und Treiben aller Entlassenen möchten entscheiden, ob die Besserung in gemeinsamer Haft kein Unding und in einsamer kein schöner Traum gutmüthiger Menschenfreunde sei! ...

In Preußen wie in Baden sind die Strafanstalten, in welchen gemeinsame Haft besteht, wohl so gut eingerichtet und verwaltet, als in Baiern oder anderswo, in manchen Dingen vielleicht noch weit besser, obgleich kein großes Geschrei damit gemacht wird—doch die uralten Erbschäden jener Haftart lassen sich nie und nimmermehr beseitigen. Was unser Baden insbesondere betrifft, so lese man den vortrefflichen Commissionsbericht Welkers, die Verhandlungen in den Kammern der Landstände, die Schriften der Herren Mittermaier, v. Jagemann, Diez und Anderer, um sich zu überzeugen, daß die badische Regierung sich ein Verdienst um die deutschen Lande, um die Menschheit und bei Gott erwarb, als sie das Zellengefängniß in Bruchsal erbaute und einrichtete, welches jetzt über 5 Jahre Gefangene beherbergt und die einsame Haft, wie dieselbe in Deutschland sich durchführen läßt, unter den mißlichsten Umständen zu Ehren bringt.

Bestände die Besserung darin, daß die Gefangenen sich nicht beim Uebertreten der Hausordnung erwischen lassen und fleißig arbeiten, dann wäre es unnöthig gewesen, ein kostbares Zellengefängniß nach dem Muster von Pentonville aufzubauen, weil Folgsamkeit und Fleiß bei der überwiegenden Mehrzahl der Gefangenen jeder nicht ganz unmenschlich und hirnlos geleiteten andern Anstalt angetroffen werden.

Der großartige Bau zu Bruchsal hat großartige Summen gekostet, die Unterhaltung der Anstalt bleibt kostspieliger als diejenige eines andern Zuchthauses, wiewohl der Gewerbebetrieb in einer Weise blüht, wie nirgends, deßhalb wird die Frage entstehen, ob die Früchte solcher Opfer werth seien?

Die Thatsache, daß es Rückfällige gibt, möchte verleiten, die Frage mit Nein zu beantworten und vom Versuchen mit der einsamen Haft abschrecken, allein nicht die Thatsache an sich, sondern die Ursachen derselben werden entscheiden und je weniger einerseits diese Ursachen in einem notwendigen Zusammenhange mit dem Grundsatze des Einzelsystems stehen, je unläugbarer anderseits die erfreulichen Folgen des Systems vorwiegen, desto mehr wird man obige Frage mit Ja beantworten müssen.

Weßhalb?

Kehren wir zu unsern Geschichten zurück.

Ein kalter, nebliger Herbstmorgen schaut über das Rheinthal, die Thurmuhren von Bruchsal schlagen halb fünf Uhr und lange Reihen erleuchteter Fensterchen leuchten in die nächtliche Gegend hinaus und erregen wehmüthige Gefühle dem Menschenfreunde, der die dunkeln Umrisse des Zellengefängnisses bei der Wanderung aus Bruchsal gen Ubstadt erkennt oder den langgedehnten Ruf der Schildwachen vernimmt, der klagend von der hohen Ringmauer herabtönt. Hinter jedem dieser vergitterten Fenster lebt ein menschliches Wesen, ein Lebendigbegrabener und büßt viele Monde, viele Jahre, vielleicht sein ganzes Leben lang eine That, der Du Dich vielleicht unter gleichen oder auch nur ähnlichen Lebensverhältnissen ebenfalls schuldig gemacht hättest. Er lebt einsam und wie viel liegt in dem Worte einsam!

Auch Du liebst zuweilen die Einsamkeit, hast wohl Zimmermanns schönes Buch über dieselbe gelesen, doch vor gezwungener beständiger Einsamkeit schauderst Du zurück, denn Du weißt ohne den Hugo Grotius jemals gelesen zu haben, der Mensch sei keineswegs für ertödtende Einsamkeit, sondern für die Gesellschaft geboren, er werde nicht durch Vereinzelung sondern durch Mithülfe seiner Nebenmenschen Mensch.

Kurzsichtiges Wohlwollen macht Dich geneigt, den Gegnern der einsamen Haft beizustimmen, wenn dieselben predigen, solche Haftart sei "unseres Jahrhunderts und der Menschheit unwürdig!"

Für Jeden, der niemals selbst gefangen war, bleibt es schwer, sich in die Lage eines Gefangenen und vor Allem eines Zellengefangenen vollständig hineinzudenken; in dieser Schwierigkeit finden wir den vornehmsten Grund, weßhalb es zahlreiche Gegner der Einzelhaft gibt und weßhalb manche Wortführer derselben mit den aberwitzigsten Behauptungen und krassesten Vorurtheilen Anklang bei hochgebildeten, religiösgesinnten und einflußreichen Leuten, geschweige beim gewöhnlichen Volke finden.

Die Durchführung der einsamen Haft ist eine Aufgabe, deren Lösung nur allmählig geschehen und je nach den Eigenthümlichkeiten eines Landes und Volkes sich mehr oder minder eigenthümlich gestalten wird.

Sklavische Nachahmung ausländischer Gefängnisse mögen in Verbindung mit der sorglosen Wahl der Beamten und Aufseher der guten Sache der Einzelhaft bisher wohl den meisten Eintrag gethan und in Preußen vielleicht den hauptsächlichsten Anlaß zur Verpfuschung des Systems abgegeben haben.

Das Zellengefängniß zu Bruchsal wurde bekanntlich nach dem Muster von Pentonville erbaut und eingerichtet, doch sahen wir mit eigenen Augen, wie sehr alle gemachten und reifenden Erfahrungen benutzt und allmählige Verbesserungen eingeführt wurden, welche namhafte Verschiedenheiten zwischen dem englischen Muster und dem deutschen Abbilde begründen.

Der Duckmäuser lebt seit 4 Monden in einer Zelle, sein Haß gegen den Spaniolen führte den Anlaß zur Versetzung dieses langjährigen Gefangenen herbei; mit düstern Ahnungen sah er die eiserne Thür der Bruchsaler "Bastille" hinter sich schließen, doch seine Ahnungen haben sich diesmal nicht erfüllt, vielmehr hat die einsame Haft einen Schimmer von Glück über das Stillleben dieses Unglücklichen verbreitet. ...

Schlag halb 5 Uhr erwachte er aus einem erquickenden Schlafe, sprang aus dem Bette, dessen Seegrasmatratze ihm trotz der Härte ganz anders mundet, als das ebenfalls harte und bald zerriebene Stroh seiner altgewohnten Lagerstätte.

Während er sich bemüht, Kopfpolster, Leintücher und Teppich in die vorgeschriebene Ordnung zu legen, vernimmt er den Wiederhall der Wasserkrüge, welche der Hausschänzer draußen auf dem Gange auf die steinernen Platten stellt, das sich stets wiederholende Rauschen des Brunnens, die Schritte des Aufsehers, der eine Zelle nach der andern aufschließt.

Jetzt öffnet sich die Thüre von Nro. 110, der Aufseher tritt mit der Lampe herein, zündet das Licht an, welches auf dem eichenen Tische steht, ergreift die vordere Stange des in starken Riemen hängenden Bettes, schließt dasselbe an die Wand, wodurch der Raum der Zelle um ein Namhaftes vergrößert wird und entfernt sich mit dem Wasserkruge des Gefangenen.

Dieser schließt zunächst den aus 2 Tafeln bestehenden Tisch—die vordere dieser Tafeln ist mit schwarzem Firniß überzogen und man sieht darauf die Figuren des pythagoräischen Lehrsatzes sammt den halbverwischten Zahlen einer Rechnung—ebenfalls an die Wand, thut Gleiches mit dem Bänkchen, welches ziemlich unzweckmäßig unsern Benedict zwingt, dem durch das Fenster herabdringenden Lichte den Rücken zu kehren und während er einige Augenblicke in den sternenlosen Nebelmorgen hinausblickt, benützen wir die Zeit, um uns ein bischen in diesem Raume umzuschauen.

Die Zelle ist hoch und bildet ein längliches Viereck, dessen gewölbte Decke gut geweißelt, dessen Wände mit hellem Grün angestrichen sind und dem Bewohner gestatten, 8-9 Schritte in die Länge und 4 in die Breite zu thun, wenn es denselben beliebt, in gerader Richtung zu gehen anstatt durch die schräge den Weg zu verlängern. Rechts von der Thüre ist das Bett an die Wand angeklappt, weiter hinten befindet sich ein Kleiderrechen, dort hängt am Nagel ein langer Stock, vermittelst dessen der Gefangene in den Stand gesetzt wird, den obern Flügel seines Fensters beliebig zu öffnen. Die Fensterscheiben sind gut verbleit, die obern hell und rein, die untern hie und da von geripptem oder geblendetem Glase.

Ein Schrank steht auf der entgegengesetzten Seite links von der starken, rothbraun angestrichenen Thüre, an der sich ein Glockenzug, oben die eingeklammerte Nummer der Zelle, unten eine Vorrichtung befindet, welche Jedem gestattet, die ganze Zelle von Außen zu überschauen, während der Gefangene nichts davon bemerkt, sich folglich in jedem Augenblicke beobachtet glauben darf. Der Schalter in der Thüre bleibt geschlossen, wenn der Aufseher nicht etwa Essen und Trinken oder Werkzeuge hereingibt und die Thüre selbst kann nur von Außen geöffnet werden. Oben auf dem genannten Schranke stehen Schreibmaterialien und Bücher, im obersten Gesimse desselben der Wasserkrug, an welchem gleichfalls die Zellennummer hängt, unten ein kleiner Verschlag, in welchem die Eßgeräthe sammt dem Brode verschlossen werden, unten dran steht eine blecherne Waschschüssel; Seife und Kamm liegen neben Aufputzlumpen und zur Seite hängt ein Kehrwisch sammt Schäufelchen. Hinter dem aufgeklappten Tische und Bänkchen steht eine Hobelbank und der übrige Theil der Zelle wird durch Bretter, Klötze, Werkzeuge und angefangene Arbeiten aller Art ausgefüllt. Erwähnen wir noch, daß die Hausordnung an der Wand durch einen grünen Lichtschirm theilweise bedeckt wird und unter derselben ein biblischer Kalender sammt einem Stundenplan für Schule und Kirche hängt, so haben wir so ziemlich alle Gegenstände beschrieben, die sich im Bereiche des Duckmäusers befinden, wenn wir die mit Draht eng übersponnenen Oeffnungen für frische und erwärmte Luft nicht vergessen, welch' letztere Oeffnung durch einen Schieber von Eisenblech beliebig geöffnet und geschlossen werden kann.

Numero Hundertzehn, wie der Vatermörder fortan heißen soll, hat sich gewaschen, vielleicht ein leises Gebet dazu gemurmelt und hängt das Handtuch an den Rechen, als der Aufseher den Schalter öffnet und den gefüllten Wasserkrug hereingibt. Jetzt wird die bekannte Stimme eines Obermeisters im Gange hörbar, der Gefangene spitzt die Ohren und ergreift einen Hobel oder eine Säge oder den Polierlumpen, um an seine Arbeit zu gehen.

Um 6 Uhr rufen die Schildwachen auf der Ringmauer abermals ihr eintöniges Wer da; draußen wird es heller und heller, die Spatzen jagen sich bereits aus ihren Nestern, zwitschern vor dem Fenster ihren Morgengruß herein; das Oeffnen schwerer Thüren, das Fahren eines Wagens, die Frühmeßglocken gewähren dem Ohre des Gefangenen hinreichende Beschäftigung, abgesehen vom Geräusche der Arbeit, den Schritten des über dem Kopfe weggehenden Mitgefangenen, dem Lärm im Gange, dem zeitweiligen Geschelle, welches die Gefangenen eines andern Flügels oder Stockwerkes in den Spazierhof einladet.

Abermals öffnet sich der Schalter, der Aufseher reicht ein halbes Laiblein gutgebackenen, schmackhaften Brodes herein, Nro. 110 langt aus dem Verschlage ein stumpfes Messer sammt Salzbüchse, beginnt zu essen und während er kaut, löscht er die Lampe aus, in welcher eine Mischung von entwässertem Spiritus und Terpentin den Brennstoff bildet, betrachtet den Kalender und streicht ruhig den gestrigen Tag durch—der lebenslänglich Verurtheilte träumt von dereinstiger Befreiung und hat seine Gefängnißtage zählen gelernt, er glaubt, daß ihn jeder Strich im Kalender der schon 10 Jahre entbehrten Freiheit näher bringe:

   Die Welt wird alt und wieder jung!    Der Mensch hofft immer Verbesserung!

Jetzt läutet's auch hier in den Hof. Nro. 110 schließt den Schieber der Luftheizung, öffnet das Fenster, zieht den Zwilchkittel an über das wollene Unterwammes, ergreift die blecherne Nummer ob der Thüre, hängt dieselbe in ein Knopfloch und setzt eine blauwollene Mütze auf, deren mit 2 Augenlöchern verzierter Schild herabgelassen werden muß und den größten Theil des Gesichtes bedeckt, so daß kein Gefangener das Angesicht des Andern zu sehen im Stande ist. Diese Mütze macht unstreitig einen peinlichen Eindruck auf fremde Besucher und in der ersten Zeit auch auf den Gefangenen, doch ist letzterer bald daran gewöhnt und während der Schaden nicht zu finden ist, welchen diese Mütze bringt, läßt sich ihr Nutzen desto besser absehen und wozu ohne Noth Etwas beseitigen, was für den Grundsatz der vollkommenen Trennung der Gefangenen wesentlich ist? Man hat zwar noch niemals erlebt, daß die Leute einander durch ihr bloßes flüchtiges Anschauen mit ihren Fehlern anstecken und läßt sich nicht läugnen, daß ein Zellenbewohner den vor ihm Hergehenden möglicherweise trotz der Maske am Gange und den Umrissen der Gestalt erkennt, allein Dreierlei läßt sich ebenfalls nicht läugnen, nämlich daß erstens die Maske jedenfalls dazu beiträgt, Anknüpfung von Bekanntschaften zu erschweren, ferner den Gefangenen vor den Blicken neugieriger Besucher der Anstalt beschützt und endlich den großen Vortheil bietet, daß er nach der Entlassung nicht leicht Zuchthausbrüder trifft, welche ihn erkennen und in unangenehme oder gefährliche Lagen versetzen.

Zudem trägt der Gefangene die vielbeschrieene Maske, die von Dickens überschwänglicher Einbildungskraft seltsam genug ein "Grabhemd" genannt wird, nur auf dem Wege in Hof, Badzellen, Schule oder Kirche, somit selten länger als einige Minuten.

Jetzt öffnet sich die Thüre von Nro. 110, Nro. 109 ist bereits 10-15 Schritte voraus und 110 folgt ihm in der Art, daß der Abstand vom Hintermann 111 ebensoviele Schritte beträgt.

Lauernd steht der Aufseher des dritten Stockwerkes an einem Platze, von wo aus ihm nicht die leiseste Bewegung der in den Spazierhof gehenden Bewohner des ersten Stockwerkes zu entgehen vermag und wenn Einer seine Schritte nicht gehörig beschleunigt oder gar Lust zum Umherschauen zeigt, verweist ihn die Stimme des Aufpassers augenblicklich in die Schranken der Hausordnung.

Nro. 110 eilt durch den Gang die Treppe hinab in den Hof. Eine frische Morgenluft weht von den Hügeln herüber, dessen Bäume mit ihren vielfarbigen Blättern, dessen Weinberge und blumenlose Wiesen ihn an die Herbstmorgen auf dem Lande mahnen. Krächzend eilen einige Raben dem Walde zu, er hört das Krähen einiger Hähne in der Nachbarschaft, das unaufhörliche Gezänke zahlreicher Vögel im Hofe und auf dem Dache. Die Bäume, Sträucher und Blumen, die Holzstöße und Faßdaubenpyramiden im Hofe dieses Flügels— dieser ganze Anblick gewährt einen Schimmer von Freiheit.

Schon ist Nro. 110 in das runde Häuschen eingetreten, von welchem die zahlreichen, etwa 10´ hohen Mauern der Spazierhöfe ausstrahlen, welche vielleicht mit einer versteinerten Sonnenblume verglichen werden können, deren meiste Blätter in regelmäßigen Zwischenräumen herausgerissen wurden.

Nro. 110 eilt in den bereits offenstehenden, für ihn bestimmten Spazierhof, dessen eine Mauer mit einem ziemlich langen Regendache von Eisen, dessen beide Mauern an ihrer Mündung durch ein hohes eisernes Gitter verbunden sind und dessen Boden mit gelblichem Sande aufgefüllt ist.

Eifrig eilt er zwischen dem Gitter und dem geschlossenen Thürchen hin und her, schaut zuweilen nach den Wolken, die grau und schwerfällig gegen Westen ziehen, nach der Schildwache, die in ihren Mantel gehüllt still und stumm von der Ringmauer herabschaut, um den visitirenden Korporal oder die Ablösung zu erwarten oder nach dem Zellenflügel, dessen Fenster im matten Scheine des über die Berge schauenden Morgenrothes schimmern oder er verfolgt den trägen Gang der Spinne, eines andern Insectes, welches an der Mauer herumkriecht.

Oben in seinem Häuschen hört er den Aufseher hin- und hergehen, der alle Spazierhöfe und Spaziergänger mit Einem Blicke oder Einer Wendung überschaut, hört die eiligen Schritte der Nebenmänner und diese Art von Mittheilung ist wohl die einzige, welche in den Spazierhöfen stattfindet.

Die Wände zu verschreiben, Zettel in den nächsten Hof zu werfen, ein Duett im Husten anzustimmen sind Dinge, welche so wenig ungeahndet bleiben, als wenn Einer von seinem Zellenfenster in den Hof herabschaut.

Jetzt wird geschellt, die halbe Stunde des Spazierganges ist vorüber, in derselben Ordnung, wie die Gefangenen gekommen, gehen sie auch wieder in ihre Zellen zurück.

Nro. 110 hat Fenster und Thüre offengelassen, die Zelle ist vollständig gelüftet, er schlägt die Thüre zu und geht daran, den Boden zu reinigen, der aus Ziegelplatten besteht. Durch das viele Gehen löst sich von diesen Ziegelplatten ein feiner Staub ab, der jedoch nur dann sehr ungesund werden mag, wenn der Zellenbewohner ein unreinlicher Bursche ist, was bei den Falkenblicken des Obermeisters und Aufsehers nicht wohl angeht.

Unser Gefangener reinigt die Zelle, schließt das Fenster, öffnet den Schieber der Luftheitzungsöffnung aus welcher eine wohlthuende Wärme herausströmt und geht dann wieder an seine Arbeit.

Abermaliges Schellen, das Zuschlagen der Schalter der Zellenthüren verkündiget die Austheilung der Morgensuppe; Nro. 110 rüstet sein Schüsselchen, der Aufseher öffnet den Schalter, füllt dasselbe und schlägt rasch wieder zu, um weiter zu gehen.

Der Zellenbewohner ißt und arbeitet dann mehrere Stunden; von Zeit zu Zeit tritt ein Werkmeister oder Aufseher herein und bleibt einige Augenblicke, um Etwas anzuordnen oder nachzuschauen.

Um 10 Uhr öffnet sich die Thüre, der Director mit seinem freundlichen, wohlwollenden Gesichte tritt herein.

Jene Art von Besuchen, wie sie in England gang und gäbe sind, wo der Aufseher die Thüre aufreißt, der Beamte sein stereotypes: "is all right?" herabschnurrt und sofort weiter geht, wenn der Gefangene nicht ein besonderes Anliegen vorzubringen hat—solche Besuche, welche lediglich einer polizeilichen Controlle entsprechen, sind für den Gefangenen fast werthlos, für den Beamten sehr bequem, in Bruchsal glücklicher Weise unbekannt.

Besuche der Beamten tragen hier den Charakter einer Wohlthat an sich, sind ein mächtiges Mittel der Erholung, geistigen Anregung, Bildung, Versöhnung mit der Strenge des Schicksals und der Gesetze, der Besserung. Täglich in viele Zellen eilen, welche die verschiedenartigsten Menschen beherbergen, die verschiedenartigsten Gemüthsstimmungen antreffen, sich Lunge und Leber herausreden, aus verschiedenartig erwärmten Zellen in die eisige Zugluft der Gänge hinaustreten, Gerüche aller Art und Staub ebenfalls einathmen—es ist ein Geschäft, das im Laufe weniger Jahre die Gesundheit des kräftigsten Mannes erschüttert, ein Geschäft, welchem sich schwerlich Einer unterzöge, der nicht eine bedeutende Portion ursprünglicher Menschenliebe im Herzen hat.

Was bei andern Gefangenen selten oder nie der Fall sein wird, ist bei Zellenbewohnern der Fall: die ins Einzelnste gehende Controlle jedes Einzelnen, das Lesen seiner Untersuchungsakten, Briefe und Besuche unter vier Augen gewähren dem einsichtsvollen Beamten eine mehr oder minder vollständige Kenntniß jedes einzelnen Gefangenen.

Dieser müßte ein Heuchler erster Größe sein, wenn er mondenlang, jahrelang eine falsche Rolle spielen, sich nicht unwillkürlich in seinen Reden, Geberden, Handlungen als derjenige zeigen sollte, welcher er wirklich ist. Er wird offen, vertraulich, manchmal bis zur Unverschämtheit offen und vertraulich gegen die Beamten aus dem ganz einfachen und einleuchtenden Grunde, weil er keine andere Gesellschaft hat. Wo Sträflinge beisammen leben, kann der Beamte sich nicht leicht mit Einzelnen besonders abgeben, muß Einen wie den Andern behandeln und der Gefangene findet gar keinen Grund, weßhalb er einem Beamten Blicke in sein Innerstes gestatten, sich dadurch in den Augen desselben herabsetzen sollte, zumal das natürliche Interesse ihn auffordert, nur seine Lichtseiten leuchten zu lassen, um sich Wohlwollen zu erwerben. So gewöhnlich Verstellung und Heuchelei in gemeinsamer Haft sind, so leicht eine mehr oder minder falsche Rolle hier mit Glück gespielt werden mag, weil der in der Heuchelei liegende Zwang nur ein sehr vorübergehender ist—so selten mag in Zellengefängnissen in die Länge und mit Glück geheuchelt werden. Es wird für den Zellenbewohner zur psychologischen und moralischen Nothwendigkeit, sich so zu geben, wie er ist und dieses setzt die Beamten in Stand, Jeden nach seiner eigenthümlichen Art und Weise zu behandeln. Je mehr aber Einer nach seiner Art und Weise behandelt wird, desto mehr wird er uns seine Zuneigung und sein Vertrauen zeigen.

Durch nachläßige, taktlose oder unmenschliche Behandlung der Zellenbewohner von Seite der Beamten und Angestellten mag wohl die gute Wirkung des Einzelsystems sich häufig genug in das Gegentheil verkehrt haben und man bürdete dem System die Schuld untauglicher Angestellten und Beamten auf, nicht zu vergessen des Wahnes, man bedürfe keiner besondern Bildung, um als Beamter unter Sträflingen zu wirken, könne jeden Schreiber und Tabellenheld dazu brauchen ... Ein geistreicher und berühmter Rechtsgelehrter sagte uns vor einiger Zeit, die einsame Haft sei eine "Pferdekur;" wir stellen Solches keineswegs in Abrede, meinen jedoch, bei Menschen, welche mehr oder weniger Thierisches und Unterthierisches an sich tragen, schade eine Pferdekur wenig und der Schmerz derselben werde um so erträglicher und fruchtbringender, heilsamer, je geschickter der Arzt sei!

Der Duckmäuser ist heute verstimmt, der Morgen ist so trüb und unfreundlich, Wind und Wetter, die verschiedenen Zeiten des Tages und der Nacht, des Jahres, manchmal auch der Wechsel des Mondes üben einen so großen Einfluß auf das Gemüth Einsamlebender aus!

Er thut heute, was er als alter Gefangener selten oder niemals zu thun pflegt, fängt nämlich an, nachdem er eine kleine Abhandlung über eingelegte Schreinerarbeit zum Besten gegeben, über die lange Dauer seiner Gefangenschaft zu reden und von der Wahrscheinlichkeit, daß er wohl hier sterben müsse.

Die Hausordnung gibt jedem andern Gefangenen Hoffnung auf Berücksichtigung von Gnadengesuchen, wenn die Hälfte der zuerkannten Strafe überstanden ist —doch was geht dies einen Gefangenen an, dessen Todesstrafe in lebenswieriges Gefängniß umgewandelt wurde? Für ihn ist die Zelle in der That ein Sarg, er ist ein Lebendigbegrabener und dennoch bleibt er ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft, denkt lieber an die Erde als an den Himmel und findet in den Besprechungen dieses einen Ersatz für die Entbehrung der Genüsse, welche jedem Bettler zu Gebote stehen.

Die Einsamkeit vermehrt den Alpdruck des vernichtenden Wortes: "lebenswierige Gefangenschaft", er hat die Bedeutung dieses schauerlichen Wortes erst in neuerer Zeit recht fühlen gelernt!

Was soll der Director thun? Dem Unglücklichen den Schein jeder Hoffnung nehmen und die düstere Stimmung desselben vermehren? Nein, er redet von der Möglichkeit dereinstiger Befreiung, von Auswanderung nach Amerika und scheidet aus der Zelle, einen Glücklichen hinter sich zurückzulassen.

Numero Hundertzehn schaut ihm gerührt nach; ist dieser auch nicht im Stande, ihn dereinst zu befreien, so wünscht er doch, dieses thun zu können; Theilnahme und Wohlwollen eines Freien und Glücklichen sind aber für den Gefangenen unschätzbare Güter und die Hoffnung stirbt erst mit ihm.

Er steht vor dem Kalender, trägt nicht übel Lust, den heutigen Tag roth anzustreichen, doch läßt er es bleiben und greift frischer und muthiger als je nach seinem Hobel und je näher die Einbildungskraft das Jahr der Befreiung herbeizaubert, desto ärger hobelt er darauf los!

Abermaliges Schellen, Aufschließen der Zellenthüren, Herausmarschiren vieler Gefangenen. Es ist eilf Uhr, heute wird Religionsunterricht für Katholiken ertheilt, die Religionsstunde der Evangelischen ist bereits vorüber. Bald kommt die Reihe des Marsches an Numero 110; noch einige eilige Hobelstöße, dann rüstet er sich wieder aus, wie zum Gange in den Hof, jetzt öffnet sich die Thüre abermals und 110 eilt 109 nach durch den Gang, viele scharfbewachte Stiegen hinauf in die Kirche.

Die amphitheatralisch gebaute Kirche des Zellengefängnisses zu Bruchsal zu beschreiben, wäre zu weitläufig; es genügt zu wissen, daß jeder Gefangene seinen besondern Verschlag hat, eine Art Miniaturzelle, welche ihm das Sitzen, Knieen und Stehen gestattet und so eingerichtet ist, daß Keiner den Andern, Jeder den Altar, die Kanzel, den Priester, einzelne Aufseher zu sehen vermag, denen keine seiner Bewegungen entgeht.

Numero 110 hängt die Zellennummer an ihrem bestimmten Platze auf und bald erscheint der Geistliche auf der Kanzel, um den Religionsunterricht zu beginnen.

Derselbe pflegt gewöhnlich in einer Reihe zusammenhängender Vorträge dieses oder jenes Buch des neuen Testamentes zu erklären, doch seit einiger Zeit belehrt er über die heiligen Sakramente der Buße und des Abendmahles und macht den klaren, schönen Vortrag durch das Einmischen von Stellen aus den Werken namhafter Gottesgelehrten noch anziehender, nicht ohne die Einwendungen und Angriffe der hauptsächlichsten Gegner der katholischen Lehre zu berühren und mit jener eindringlichen Ruhe abzuweisen, welche die Frucht eigener tiefer Ueberzeugung ist.

Heute behandelt er insbesondere die wahrhafte, wirkliche und wesentliche Gegenwart Christi im Abendmahle, eine Lehre, welche Allen, die die Liebe nicht vollkommen verstehen oder die Wirkungen dieses hochheiligen Sakramentes nicht an sich selbst empfunden haben, unbegreiflich, sinnlos, ja als eine Herabsetzung und Entwürdigung Gottes erscheint, während die Andern den Triumpf der Religion in ihr vollendet sehen.

"Will gar nicht verlangen, daß Gott mit mir Eins und ich selbst dadurch gottähnlich werde, dürfte ich nur menschenähnlich sein und beim Straßenbasche als der ärmste Taglöhner leben! ... Um mich hat sich Gott niemals bekümmert, Seine Liebe und der Fluch meines Lebens reimen sich nicht zusammen! ... Wenn der Pfarrer wieder kommt, soll er eine harte Nuß zum Aufbeißen haben!" ... denkt der Benedict, während der Geistliche verschwindet, die Verschläge nach einander wiederum geöffnet werden und er die Schneckenstiegen hinab in den Gang und in seine Zelle marschirt.

Der Geistliche eines Zellengefängnisses hat besondere Vortheile vor andern Gefängnißgeistlichen. Erstens kann er die ganze Religionsstunde seinem Vortrage widmen und den Stoff desselben verdoppeln und verdreifachen; zweitens kommt er zu jedem einzelnen Gefangenen, spricht mit diesem unter vier Augen und kann sich vom Eindrucke überzeugen, welchen sein Vortrag machte, denselben wiederholen, ergänzen, vertheidigen, bei Neueingetretenen mit Früherm vermitteln; drittens endlich ist er keinen Verdächtigungen und Verleumdungen ausgesetzt, während der Sträfling so wenig von Hohn und Spott als von falscher Schaam weiß, dazu Zeit und Gelegenheit besitzt, Etwas für seine religiöse Ausbildung zu thun und zudem die Gedanken, welche sich ihm während der Religionsstunde aufdrängten, in der Einsamkeit nicht anhaltend zu verscheuchen vermag.

Bei Leuten, welche nur für kurze Zeit verurtheilt sind, mögen Gleichgültigkeit oder Leichtsinn die Oberhand behalten, bei Solchen, welchen die Liederlichkeit und Gottverlassenheit zur zweiten Natur geworden, mag die Religion der Liebe manchmal als Religion des Schreckens wirken und mancher alte Sträfling mag bleiben, was er längst geworden oder stets gewesen ist.

Von der Stadt herüber läuten die Mittagsglocken, die ablösende Wachmannschaft eilt gemessenen Schrittes über die Ringmauer. Schon beim Gang aus der Kirche stieg ein vielversprechender Duft aus der Küche des Mittelgebäudes, jetzt ertönt ein mehrstimmiges Schellen, dann das Klirren der Eßkessel und Schöpflöffel und der eilige Schritt der Aufseher, welche sich in der Küche sammeln, um die Portionen für ihre Pflegbefohlenen abzuholen. Heute ist kein Fleischtag.

Jeden andern Tag prangt ein winziges Stücklein Fleisch in der zinnernen Schüssel, ein Spatz vermöchte es bequem im Schnabel fortzutragen und doch bleibt Etwas immer besser als Nichts.

"Suppe!" Der Benedict hebt sein Schüsselchen unter den Schalter, der Aufseher schöpft ihm seine Portion aus dem Kessel, schlägt den Schalter zu und geht weiter.

Die Suppe, eine gute schmackhafte Reissuppe, ist noch sehr heiß, aber sie muß schnell gegessen werden, denn der Aufseher wird gleich mit der Hauptspeise da sein.

Heißes Essen schadet den Zähnen, Zuwarten kann dem Magen schaden, unter zwei Uebeln wählt ein gescheidter Mensch das kleinere, deßhalb ißt der Benedict die heiße Suppe.

"Hersch!—Hersch!" rufts im Gange.

"O jerum!" jammert unser Esser und weiß weßhalb. Der "Hersch" ist nichts anderes als Hirsebrei, eine im badischen Unterlande gewöhnliche Speise der Armen, im Zuchthause zu Freiburg wie überhaupt im Oberlande unbekannt und der Benedict mag nun einmal den fatalen "Hersch" nicht.

"Hersch!" ruft der Aufseher vor dem Schalter und bald ist das Schüsselchen gefüllt. Auch diese Speise ist noch heiß, allein sie hat keinen Nachfolger mehr und was der Benedict morgen nicht thun wird, weil er morgen Knödel bekommt, vor denen übrigens ein guter Baier das Kreuz machte, das thut er heute, stellt nämlich das Schüsselchen auf den Schrank, um den Brei kalt werden zu lassen und später zu essen.

Bevor die Anstalt Bruchsal die Kost für Gefangene, Kranke und Aufseher selbst bereitete, war sie für die erstere manchmal herzlich schlecht und zudem bekam der Zellengefangene Ursache, besonders nach den schönen Brodlaiben Freiburgs zu seufzen.

Dort wird jetzt die Kost und hier noch immer das Brod von der Anstalt unmittelbar bereitet, in beiden Fällen profitirt der Staat sammt den Gefangenen.

Wie mancher Kostgeber ist schon durch augenlose Gefängnißsuppen reich geworden, wie unzuverlässig ist die strengste Controlle, wenn Beamte und Angestellte nicht zuverlässig und gewissenhaft sind!—

Numero 110 klappt den Tisch an die Wand, das Vorderblatt desselben ist eine schwarz lakirte Schultafel, er greift zur Kreide, vertieft sich in den pythagoräischen Lehrsatz und berechnet alsdann, wieviel Kubikzoll die Commode enthalten werde, welche unter seiner kunstfertigen Hand entstehen soll.

Todtenstille herrscht minutenlang ringsum, die meisten Aufseher sind den Beamten zum Essen nachgeeilt, aber wenn Jemand im Mittelbau eine Schüssel fallen läßt oder sich nur herzhaft schnäuzt, können es sämmtliche Bewohner der vier großen Flügel und die Nächsten so deutlich als die Fernsten vernehmen. Wenn der Spruch: Wände haben Ohren—irgendwo gültig und die Allwissenheit der Beamten irgendwo mehr als Redensart ist, so wird dies sicher in einem Zellengefängnisse der Fall sein. Auf ihren Bureaus vernehmen die Beamten jedes laute Wort und jedes auffallende Geräusch, selbst wenn es von den äußersten Enden der Zellenflügel ausgeht.

Jetzt scheinen selbst die sonst so geschwätzigen, zänkischen Spatzen Siesta zu halten, selten flattert einer vor dem Gitterfenster von Numero 110 vorüber und noch seltener sitzt einer vor dem Fenster, um sein graues Röcklein zu putzen oder dem Gefangenen einen bessern Appetit zuzuzwitschern.

Letzteres ist auch nicht nöthig, denn obwohl der Duckmäuser den Hirsebrei nicht liebt, so haßt er doch den Hunger noch weit mehr, folglich hat der Brei bereits das Ziel seiner Bestimmung erreicht.

Die Zellenbewohner haben ihre Ruhestunde, dieselbe wird ihnen nicht zur Stunde des Verderbnisses, sondern sie lesen, schreiben, rechnen, zeichnen, machen freiwillig an ihrer Arbeit fort, wenn dieselbe kein Geräusch verursacht, oder gehen acht Schritte vorwärts und acht rückwärts und wer in einem der Höfe steht, mag auch manches langgedehnte Gähnen, zuweilen ein schweres Aufseufzen, ein lautes Selbstgespräch, vielleicht einen Versuch, zu singen oder zu pfeifen, gleich darauf das Aufgehen einer Thüre, das anklagende Gebrumme eines zweibeinigen Stückes der fleischgewordenen Hausordnung und dazwischen das Hohngelächter des vorüberrauschenden Eisenbahnzuges zu Ohren bekommen.

Der Benedict hat den Magen mit "Hersch", den Verstand mit Zahlen und geometrischen Figuren angefüllt, doch sein Gemüth blieb unbefriediget und was der Director mit seinem Besuche gut machte, hat der Pfarrer mit seinem Vortrage verdorben und besonders Eine Aeußerung desselben ist tief in Benedicts Seele gedrungen und fällt ihm stets von Neuem bei, er mag anfangen was er will:

"Wer unwürdig meinen Leib ißt und mein Blut trinkt, der ißt und trinkt sich selbst das Gericht!"

Wie oft nahte er sich aus Gewohnheit, um seines Rufes willen oder um die Worte der Mutter zu erfüllen, dem Tische des Herrn!

In der Kaserne hatte er sich allgemach von diesem Gebrauche emancipirt, er wurde ihm lästig, das Aufgeben desselben brachte ihm eher Ansehen als Schaden, bei Meister März faßte er vollends einen Ekel gegen die demüthige Aufgeblasenheit und den weinerlichen Ingrimm der "Diener am Worte" und deren Lämmlein, aber im Zuchthause hatte er sich regelmäßig zum Beichten und Communiciren verstanden, um nicht in den obern Regionen in Mißcredit zu kommen.

Den Spruch, welchen der Geistliche heute vorbrachte, hörte er schon früher hundertmal, doch niemals schlug er ihm so in die Seele, er greift nach seiner Bibel und wundert sich selbst, weßhalb ein einziger Vers ihn so unheimlich auf einmal berühren und zu beschäftigen vermöge.

Er blättert und sinnt, bis die Schritte der Aufseher wiederum im Gange wiederhallen und die Gangschelle verkündiget, daß er den zweiten Theil des Tages mit dem zweiten Spaziergange beginnen müsse.

Rasch und mißmuthig läuft er längs den Mauern seines Spazierhofes hin und wieder. Er hatte sich schon manchen Tag mit gleichgültiger Ruhe in der Zelle befunden, weil es ihm gelang, sich in die Ueberzeugung hineinzubannen, er sei ein Todter, besitze keinen Anspruch mehr auf das Leben und bleibe ein wandelnder Schatten mit vermodertem Herzen, so lange es einer Macht gefalle, die er nicht kannte und von der er nichts forderte.

Alte Gefangene huldigen gewöhnlich bewußt oder unbewußt solchem Fatalismus, ihr Herz und ihr Benehmen strafen denselben oft Lügen, doch im Ganzen scheint er ihnen ihr trauriges Loos erträglicher zu machen, wofür die Hauptursache freilich darin zu suchen sein möchte, daß das Mitansehen des Unglückes Anderer, die Zerstreuungen der Gesellschaft, die Verbindung, in welcher sie durch dieselbe bei dem täglichen Wechsel der Gefängnißbevölkerung mit der Außenwelt bleiben, ihre eigene Verinnerlichung hindert.

Der Benedict hat dem Himmel den Scheidebrief des Glückes geschrieben, als er die Thüre der Strafanstalt zum erstenmal hinter sich schließen hörte; er war ein lebenslänglich Verurtheilter, alles Fühlen, Denken, Wollen und Streben seiner Person sollte fortan für die Welt verloren sein, blos sein Leichnam dereinst noch einmal dieselbe Straße wandern, durch welche er gerade gekommen.

Er hegte nur Einen Wunsch: Ruhe und forderte diese Ruhe vom Tode, glaubte auch, derselbe werde sie ihm gewähren.

Die Jahre hatten ihn gegen die Leiden der Gefangenschaft und gegen das Leben überhaupt abgestumpft, er glaubte dem Tode um einen starken Schritt näher zu kommen, wenn er in die Zelle versetzt würde und—hatte sich getäuscht.

Im Gegentheil lebte der Mensch von ehemals in ihm wieder auf, das versteinert geglaubte Herz begann von Neuem zu hämmern und zu pochen, das Kind und der Jüngling, der verirrte Halbmann und der elende Sträfling hielten aufregende Gespräche in ihm, durch die Freuden- und Sturmglocken der Erinnerung tönten leise zuweilen andere, fremdgewordene Glockentöne und die Möglichkeiten, welche hätten eintreffen können, wenn er diese oder jene Handlung vollbracht oder unterlassen hätte, bot allgemach dem Duckmäuser Stoff zu langen, schwermüthigen Betrachtungen.

Er hatte geglaubt, von Gott gänzlich verlassen und verstoßen zu sein und vom Tode doch jedenfalls Ruhe fordern zu dürfen, eher als viele minder schwer Verurtheilte.

Weßhalb?

Ei, er war freilich als Vatermörder verurtheilt und menschliche Richter waren nicht im Stande, ihn milder zu verurtheilen, als sie dies gethan hatten. Er vermochte die Richter nicht anzuklagen, doch klagte er Gott desto herber an und zwar deßhalb, weil Gott seine Gesinnungen kennen mußte und Miturheber seines Unglückes zu sein schien. Trug denn Benedict jemals den leisesten Vorsatz im Herzen, das gräßliche, todeswürdige Verbrechen des Vatermordes zu begehen? Nein, niemals einen Augenblick, nach der That schauderte er vor sich selbst zurück und begriff nicht, wie er dazu gekommen!—Tödtete er seinen Vater im Affect? Auch dies war wiederum nicht zur Hälfte wahr und Gott mußte wissen, daß er zwar im Schrecken mit einem mächtigen Prügel in den dunkeln Hausgang hineinschlug, jedoch nicht, um den Vater zu treffen, sondern lediglich, um ihm die Flinte wegzuschlagen und ihn vom Kindermord abzuhalten. Wußte er nicht, daß eine Doppelflinte ob dem Bette des Vaters hing und mußte er nicht glauben, daß dem ersten Schusse ein zweiter folgen werde? Selbst die Richter erfuhren genug von Jacobs harter, leidenschaftlicher Gemütsart, von seinem Hasse gegen den Hobisten und vergaßen nicht, die Flinte sammt dem Schuß ernstlich in Erwägung zu ziehen, sonst wäre Benedict unfehlbar um den Kopf kürzer gemacht worden.

Viele andere Umstände ließen sich nur dadurch erklären, daß man dieselben dem blinden Zufalle oder—dem allwissenden Gott in die Schuhe schob und dieser Gott sollte ein allliebender und allbarmherziger sein? Gegen tausend Andere wohl, gegen mich war er ein Tyrann! sagte der Benedict hundertmal, wenn der Schmerz ob dem verlornen Lebensglücke zuweilen gewaltig in ihm aufzuckte und die Trauergeschichte vom weißen Federbusch bestärkte ihn in der Meinung, ein von Gott Verstoßener oder zum Unglücke Erkorner zu sein.

In der Zelle erwachten mit den Jugenderinnerungen auch die Erinnerungen an das vielfache Kreuz und Elend, welches er den Eltern bereitete und er gelangte zur Einsicht, ein Kind, welches seinen Eltern großen Kummer verursache, dadurch ihre Freude am Leben zerstöre und sie vor der Zeit ins Grab stürze, sei eigentlich auch ein Elternmörder und der Tod der Eltern eigentlich auch ein gewaltsamer.

Von diesem Standpunkte aus fühlte er sich des Mordes beider Eltern schuldig.

Allein gibt es nicht Kinder seiner Art genug und keine Seele denkt daran, sie deßhalb ins Zuchthaus zu stecken?

Er begriff sein Schicksal so wenig als die heimlichen Qualen seines Herzens, hoffte vom Tode Ruhe, gegen diese Hoffnung erhob sich fortwährend die Religion und heute wurden Hoffnung und Ruhe durch die Worte:

"Wer meinen Leib unwürdig ißt und mein Blut unwürdig trinkt, der ißt und trinkt sich selbst das Gericht!" abermals heftig erschüttert.

Wenn diese Worte keine leere Drohung enthielten, wäre ich nicht schon hienieden ein gerecht Gerichteter? Wenn der Tod das, was in mir lebt, nicht zerstörte, wie würde es mit mir im Jenseits aussehen? Hienieden vieljähriges Kerkerleiden bis zum Tode, dort endlose, ewige Qual, schauderhafter Gedanke!

Diese Fragen beschäftigen den Spaziergänger, in die Zelle zurückgekehrt, schneidet er ellenlange Hobelspäne, arbeitet darauf los, daß große Tropfen von seiner Stirne rinnen, wird wirklich seiner wunderlichen Grillen Herr und ist im Stande, beinahe zu lächeln, wie er die Gangschelle zur Schule rufen hört. Eilig schlüpft er in den grauen Kittel, greift nach Mütze und Nummer, Schiefertafel und Schreibzeug und kaum öffnet der Aufseher die Thüre, so ist er bereits dem Mittelbau nahe und klimmt die Wendeltreppen hinan.

Er darf eilen, denn der Gang ist ziemlich leer, die meisten seiner Nachbarn mögen einer andern der 6 Klassen angehören, mit welchen sich zwei Lehrer beschäftigen oder auch das 36ste Lebensjahr zurückgelegt haben, in welchem Falle sie zur Altersklasse gezählt werden, die einigemal wöchentlich in der Kirche versammelt und durch Vorlesen aus einem gewählten Buche für den Schulunterricht einigermaßen entschädiget wird.

Das "Grabhemd" auf dem Kopfe tritt Numero 110 in die Schulstube und in seinen besondern Verschlag, hängt die Nummer auf, läßt sich einschließen, setzt sich und harrt mit stiller Sehnsucht, bis der Aufseher commandirt:

"Kappen herunter!"

In demselben Augenblicke wird der Oberlehrer den hohen Catheder besteigen, die Schüler seiner obersten Klasse werden ihn freundlich begrüßen, er wird den Gruß freundlich erwiedern, die Nummern herablesen und den Unterricht beginnen.

Wie in der Kirche sieht auch in der Schule kein Gefangener den Andern, dagegen Jeder den Lehrer, die Aufseher, Rechentafel, Landkarten u.s.w. Freilich hört hier Jeder die Stimme der aufgerufenen Nummern und mag aus der Mundart den Seehasen vom Pfälzer, den Schwarzwälder vom Odenwälder, das Stadtkind vom Dorflümmel leicht unterscheiden, ja der Benedict hat sogar in der vorigen Stunde die Stimme des Exfouriers und des Spaniolen vernommen, erkannt und im Gedächtnisse behalten, jener sei Nro. 349 und dieser Nro. 27, aber was kann solche Entdeckung nützen oder schaden? Nro. 110 weiß nicht genau, wo Nro. 349 in der Schulstube oder in welcher Zelle er sitzt, was er treibt und wenn er es auch wüßte, ja wenn beide Nachbarn wären und es ihnen gelänge sich Zeichen gegenseitigen Erkennens zu geben—Gefühle und Gedanken tauschen sie innerhalb dieser Anstalt nicht aus, der erste Versuch dazu würde auch zum letzten und müßte von großem Glücke begleitet sein, um erst nach dem Gelingen entdeckt zu werden, in jenem Austausche aber liegt die Hauptgefahr der Sträflingsgesellschaft.

Mag Einer sich dem Nachbarn auch durch Trommeln an die dicke Wand bemerkbar machen, lange dauert solches Trommeln gewiß nicht, auch ist noch niemals gehört worden, daß dadurch die Abschreckung oder Besserung eines Gefangenen beeinträchtiget wurde und die Versuche, mit einander zu reden, haben völlig ein Ende, seitdem die Oeffnungen der Luftkanäle vergittert wurden.

Der Wachtstubenwitze reißende und halbgelehrte Spöttereien über alles Hohe und Heilige zu Markt tragende Exfourier, der sozialdemocratische, selbstsüchtige Spaniol vermöchten dem Benedict nur noch zu schaden, weil er mit Beiden einst zusammenlebte und ein treues Gedächtniß besitzt— jedenfalls ist die Schule des Zellengefängisses der letzte Ort, wo die Hausordnung oder gar Religion und Sittlichkeit irgendwie Gefahr zu laufen vermöchten.

Der achteckige, thurmartige Mittelbau, von welchem die vier Flügel ausstrahlen, erscheint uns überhaupt als ein Sinnbild der Ordnung, welche nicht nur im Zellengefängnisse zu Bruchsal, sondern im großen Zuchthause der Welt herrschend sein sollte.

Im untersten Raume findet sich die Küche, ob derselben Stuben der Werkmeister, Oberaufseher, noch höher die Zimmer der Beamten, welche allgemach zu den Schullokalen emporsteigen, zu oberst aber steht die Kirche, während die bewaffnete Macht draußen an den Ringmauern, den äußersten Gränzen des Reiches verweilt und die Gehüteten nicht beständig an das Mißtrauen der Regierenden mahnt.—

Bereits steht der Oberlehrer auf dem Catheder, kritisirt die eingelieferten Aufsätze und läßt zwei derselben laut vorlesen.

Beide sind ziemlich lang gerathen, man erkennt bald, daß die Verfasser ihren Kopf beisammen hatten und beide zeigen einen Reichthum der Gedanken, einen dichterischen Schwung der Sprache, die wir bei Zellengefangenen ebenso häufig als auffallend finden.

Der erste Aufsatz ist von Nro. 62 und behandelt die Frage, weßhalb der Reichthum nicht nothwendig zum Glücke gehöre, den zweiten hat Nro. 205 geliefert, dieser sucht den Begriff vom Glück und Unglück festzustellen und findet, daß es für einen Menschen, der Religion nicht nur besitze, sondern religiös sei, kein eigentliches Unglück gebe, somit in der religiösen Durchdrungenheit das Geheimniß des wahren Glückes zu suchen sei. Nro. 62 ist ein blutarmer und, wie sich dies bei seinem Gewerbe fast von selbst verstehen soll, fast immer betrunkener Postillon gewesen, der so wenig daran dachte, durch seinen Jähzorn jemals in ein Zuchthaus zu gerathen, als daran, in diesem bitterbösen Hause ein meisterhafter Schuster und ein Mensch zu werden, der Geschriebenes und Gedrucktes geläufig lesen und noch viel Schönes und Nützliches dazu lerne. Nro. 205 ist ein ehemaliger Soldat, der mit seinen Schulmeistern ein besonderes Schicksal hatte. Der erste derselben war ein alter, braver Mann, der die weitschichtige Gelehrsamkeit der neuen Schulmeister nicht mehr faßte und alle Neuerungen, gute und schlimme, haßte. Dafür wurde auch er gehaßt, verfolgt und verspottet. Wie die Alten sangen, so zwitscherten die Jungen und als der Mann starb, kam ein junger Lehrer, der sich ganz nach dem Willen der Mehrheit seiner Schüler richtete und deßhalb die halbe Zeit keinen Unterricht gab oder die Stunden mit Geschichtlein tödtete. Nro. 205 war als einer der stärksten und größten Buben im Anfeinden des alten mit im Verherrlichen des neuen Lehrers ein Anführer gewesen und wurde aus der Schule entlassen, ohne daß ihn ein schwerer Schulsack drückte. Erst im Zuchthause hat er den Schaden erkannt und verbessert.

Nro. 62 wie 205 saß früher in gemeinsamer Haft, beide preisen sich glücklich, von ihrer alten Kameradschaft erlöst zu sein und wenn ihnen irgend ein Gelehrter vom Glücke der Sträflingsgesellschaft vorpredigte, würden sie es in ihrer Einfalt für Scherz oder Spott halten; beide gehören zu den fleißigsten und besten Schülern, während sie gleichzeitig zu den fleißigsten und besten Arbeitern gehören, von den Werkmeistern noch niemals wegen Saumseligkeit oder gar wegen Nichtfertigung des ganzen Tagwerkes verklagt wurden. Nachdem das Vorlesen der Aufsätze beendiget, kommen die Rechnungsaufgaben an die Reihe.

Der Duckmäuser hat den Cubikinhalt eines cylindrischen Gefäßes berechnet, welches doppelt so hoch als weit ist und ganz gefüllt 2 Pfund Wasser aufnimmt.

Nro. 70 löste die Frage richtig, wie groß eine Seite eines Würfels von Gold sei, welcher 24 Loth wiege.

Dagegen brachte 401 die folgende Rechnung nicht ganz ins Reine, nämlich: "Ein Brunnentrog aus Sandstein hat die Form einer Halbkugel, deren ganzer Durchmesser 4'3" beträgt, wahrend die Steinmasse selbst 4" dick ist. Wieviel (badische) Maaß Wasser faßt dieser Trog und welchen Cubikinhalt hat die Steinmasse?"

Nro. 401 beging bei der Lösung der zweiten Frage einen Fehler, die meisten Mitschüler stimmen in ihrer Lösung überein und diese ist auch die richtige. Jener entdeckt und entschuldigt seinen Irrthum, seine Stimme und Rede zeigt, er sei dem Weinen nahe, um diesen alten Weiner zu trösten, darf er die Lösung der letzten der heutigen Aufgaben nennen und liest mit ruhigere Stimme:

"Nach der Angabe v. Humboldt's soll eine der ägyptischen Pyramiden 800' Höhe und an der Grundfläche, welche ein Quadrat ist, ebensoviel Breite haben. Wieviel Cubikfuß beträgt der Inhalt und wieviel Zentner etwa das Gewicht dieser Pyramide, wenn man obiges Maaß als badisches betrachtet und das spezifische Gewicht des Marmors, aus welchem sie bestehen soll, zu 2,736 annimmt?"

Die Lösung, welche Nro. 401 gibt, ist richtig, fünf Hauptrechner bezeugen es, der Oberlehrer thut dasselbe und beginnt dann eine kleine Prüfung über die Lehre der drei Arten von Hebeln, gewöhnlichen und festen Rollen und Flaschenzügen.

Nro. 349 hat diesen Mittag für sich in der Zelle berechnet, ein Rammklotz von 60 Zentnern, der etwa bei Wasserbauten angewendet würde, und 15' hoch herabfalle, wirke mit der Kraft von 18,000 Zentnern, welche nur Einen Schuh fallen. Der etwas hartköpfige Nro. 334 erbittet und erhält eine Erklärung des "Rades an der Welle" und der Benedict erläutert schließlich den Potenzflaschenzug.

Dann geht der vortreffliche Oberlehrer, welcher mit Pestalozzi Bibel und Kalender für die wichtigsten Urkunden des Menschengeschlechtes hält, daran, den Sonntagsbuchstaben zu erklären, durch den sich der Wochentag eines geschichtlichen Ereignisses sicher bestimmen läßt und ist noch nicht fertig, wie die Glocke ertönt und anzeigt die Lieblingsstunde vieler Zellenbewohner sei wiederum vorüber. Der Lehrer verschwindet, die Schüler setzen das "Grabhemd" wiederum auf, die Aufseher öffnen einen Verschlag nach dem Andern in der Ordnung, daß kein Gefangener dem Andern auf dem Fuße folgt oder gar entgegenläuft, Einer nach dem Andern steuert der Thüre zu, welche in seinen Flügel führt und nach wenigen Minuten steht Nro. 110 wiederum vor der Hobelbank.

Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Schule.

Die Sträflingsschule des Zellengefängnisses zu Bruchsal erregt besonders die Aufmerksamkeit und Bewunderung der Besucher, weil die Sträflinge einen Grad von intellectueller Bildung und Bildungsfähigkeit entwickeln, den man in den besteingerichteten Gefängnissen anderer Art vergeblich suchen würde.

Die Regierung verdient sich den Dank der Menschheit, indem dieselbe Vieles für die Anstalt überhaupt und deren Schule insbesondere thut, tüchtige Lehrer, indem dieselben unermüdlich und im engen Vereine mit den Geistlichen beider Confessionen dahin arbeiten, aus unwissenden und rohen oder halbgebildeten und eingebildeten Gefangenen Menschen und Christen zu machen und vor geistiger Verdumpfung zu bewahren.

Die Schüler dagegen empfinden auch das ganze Gewicht der Wohlthaten, welche ihnen durch Unterricht gespendet werden und beweisen es durch ihre Anhänglichkeit für die Geistlichen und Lehrer, durch ihren Eifer für die Schule und vor Allem durch die Fortschritte.

Wer nur immer anerkennt, daß in der Bildung an und für sich eine Macht liege, welche die schwer zerstörbare Selbstsucht des Menschen mindestens verfeinern, ihm soviel Klugheit, Ehrgefühl und Selbstbeherrschung gewähre, um nicht leicht ein Verbrechen zu begehen, der wird sich entschieden für eine Sträflingsschule der Art aussprechen, wie dieselbe hier besteht und blüht.

Wir kennen auch keinen Fall, daß ein Gefangener, welcher diese Schule längere Zeit besuchte, wiederum rückfällig geworden wäre und wenn in dieser Anstalt vorherrschend jugendliche Verbrecher untergebracht und ihres Unterrichtes theilhaftig gemacht würden, so würde die Erfahrung lehren, daß die Zahl der Rückfälle sich ansehnlich verminderte.

Aber leidet der Gewerbsbetrieb nicht durch die Schule Noth?

Die beste Antwort liegt in der Thatsache, daß der Gewerbsbetrieb des Zellengefängnisses trotz mißlicher Zeitverhältnisse und eigenthümlicher Hindereisse [Hindernisse] mehr blüht, als der jeder andern Strafanstalt des Landes und daß die Blüthe des Gewerbsbetriebes zunächst vom Fleiße und der Geschicklichkeit der Sträflinge abhänge, wird wohl kein Gegner der einsamen Haft läugnen.

Der Zellenbewohner besucht nicht mehr Unterrichtsstunden als andere Sträflinge, dagegen ist es richtig, daß er Besuche vom Lehrer in der Zelle und bei dieser Gelegenheit besondern Unterricht erhält. Doch Besuche muß er überhaupt eine bestimmte Anzahl empfangen, wenn er nicht zu Grunde gehen soll und daß kein Besuchender, folglich auch kein Lehrer zu lange bei Einem verweile, dafür ist schon durch die Vorschrift gesorgt, daß jeder Beamte täglich eine verhältnißmäßig große Anzahl von Besuchen abzustatten hat.

Das Geheimniß der überraschenden Fortschritte, welche viele Zellenbewohner in Schulkenntnissen machen, liegt hauptsächlich in ihrer eigenthümlichen Lage. Die Einsamkeit verinnerlicht den Menschen, der Mangel an Gesellschaft treibt ihn, sich in arbeitsfreien Stunden selbst zu unterhalten und weil ihm Gelegenheit für schlechte Unterhaltung abgeschnitten, dagegen Gelegenheit zur guten reichlich geboten ist, so greift er eben nach letzterer.

Die Ruhestunden, die arbeitsfreien Tage, manche schlaflose Stunde der Nacht, in welcher das Denken eine Zerstreuung und Wohlthat zugleich wird, werden zumeist der Schule gewidmet und gerade der verhältnißmäßige Mangel an Eindrücken, welche er von der Außenwelt empfängt, stärkt sein Gedächtniß wunderbar für Alles, was in der Schule vorkommt, welche er besucht oder in den Büchern, welche er gelesen.

Sind wir überzeugt, der Gewerbsbetrieb würde wenig oder nichts gewinnen, wenn man die Schulen gesellschaftlich lebender Gefangenen wiederum aufhöbe, so sind wir noch weit mehr davon überzeugt, daß er in Zellengefängnissen bedeutend Noth litte. Gar viele Handwerker bedürfen einiger Kenntnisse im Zeichnen, in Mathematik und Geometrie, Chemie und andern Wissenschaften und je mehr sie davon erringen, desto besser ist es für ihr Gewerbe. Ferner ließe sich möglicherweise das vollständige Fertigen eines Tagwerkes durch Hungerkuren erzwingen, lange jedoch ginge dies nicht an und zum Fertigen guter und vortrefflicher Arbeit gehört eben auch im Zuchthause ein Arbeiter, der gut oder vortrefflich arbeiten kann und—will. Die Schule wird von Sträflingen als eine Wohlthat und Belohnung allgemein anerkannt, ihre Beeinträchtigung oder gar ihre Beseitigung würde gerade bei den Talentvollen den guten Willen zur Arbeit beeinträchtigen oder beseitigen oder derselbe müßte auf eine Weise angeregt werden, welche mehr kostete als die Schule.

Aber werden die Spitzbuben durch die Bildung, welche sie empfangen, nicht gerade raffinirter und führt die Schule nicht zur Halbwisserei?

Den ersten Theil dieses Einwurfes würden wir gar nicht beantworten, wenn er nicht schon von mehr als einer Seite gemacht worden wäre.

Wir haben einen Tag in einem gemeinsamen Zuchthause zugebracht und vermieden, pikante Spitzbubenhistörchen aufzuzeichnen, wenn man nicht etwa die maaßlose und keineswegs seltene Unverschämtheit des Patrik vom Hotzenwalde pikant finden will.

In gemeinsamer Haft geben die Meister der Greiferkunde Privatcollegien aus ungewaschenen Mäulern, die Blüthe des Gaunerthums erfreut sich dort einigen Ansehens und fruchtbarer Wirksamkeit, allein keine Sträflingsschule irgend einer Art befaßt sich mittelbar oder gar unmittelbar mit Ausbildung der Spitzbüberei. Freilich lehrt die Physik und noch mehr die Chemie Manches, was sich ein Langfingeriger für die Zukunft hinter die Ohren schreiben könnte, aber jedem Lehrer wird man soviel Verstand und Besonnenheit zutrauen, daß er seinen Stoff zu wählen versteht.

Erheblicher ist die Halbwisserei.

Unter Halbwisserei verstehen wir das religionslose Wissen, somit ziemlich dasselbe, was schon Plato darunter verstanden und worüber er als einer unheilbringenden Erbärmlichkeit geklagt hat. Vom Vorwurfe der Halbwisserei sind bei uns jedenfalls die Sträflingsschulen freizusprechen, denn Geistliche und Lehrer gehen einträchtig zusammen, Einer arbeitet dem Andern in die Hände, die Schule ist nicht nur ein Mittel allgemeiner Bildung, sondern auch allgemeiner religiöser Erhebung.

Eine bereits auf einige tausend Bände angewachsene Bibliothek, deren Bücher vor Allem mit Rücksicht auf löbliche Tendenzen gewählt und mit Rücksicht auf die verschiedenen Confessionen unter die Gefangenen vertheilt werden, unterstützt mächtig die Bemühungen der geistlichen und weltlichen Beamten.

Die sichtbaren Wunder der Natur, die weltbeherrschenden Gesetze der Physik, die einfachen, erhabenen und allbeherrschenden Gesetze der Bewegung der Weltkörper, lauter Dinge, welche jedem Schulknaben, geschweige einem Erwachsenen klar und deutlich gemacht werden können, wie sehr sind diese geeignet, den Menschen zum Herrn und Vater dieser Gesetze zu erheben? Und Abrisse aus der Geschichte, in welcher Gott den lohnenden Vater oder rächenden Amtmann spielt, eine Unthat unter dem Gewichte ihrer Folgen den Schuldigen und die Mitschuldigen begräbt, ohne vorher nach Stammbaum oder Taufschein zu fragen, wie sehr sind diese geeignet, den Verbrecher zum Nachdenken über das eigene Schicksal zu bringen? Jedenfalls mehr als die eigens für Gefangene und Verbrecher geschriebenen Bücher, unter denen wir und viele Andere außer dem von Suringar wenig Erträgliches und Ersprießliches entdeckten. Sträflinge sind schwer vom Glauben abzubringen, daß man die kleinen Spitzbuben fange, die großen dagegen laufen lasse, wissen recht gut, wie es mit dem Werthe Vieler steht, welche frank und frei herumlaufen und ebenso, daß sie keine unartigen Kindlein sind, denen man Religion und Jesusliebe als Brei einreichen könnte, deßhalb geben sie auch nichts auf Bücher, die aus gutmeinenden, aber unklugen oder unerfahrenen Federn zur angeblichen Erbauung von Gefangenen geflossen sind. Im Gegentheil werden Schriften dieser Art Religionslosigkeit und Verstockung eher vermehren als vermindern und besonders in gemeinsamer Haft nicht lange ungerupft bleiben.

Sie [Die] Schule vor Allem erweitert den geistigen Gesichtshorizont und je mehr sich dieser erweitert, desto kleiner fühlt sich der Mensch überhaupt, der Verbrecher insbesondere und wiederum desto größer, weil der Herr und Meister der Welt sich mit ihm abgibt.

Weßhalb eine ungewöhnliche Ausdehnung des Unterrichtes bei Zellenbewohnern?

Vom Buchstabenmalen und Zahlen zusammenzählen steigert sich Alles bis zum Auflösen von Gleichungen, Berechnungen des Kreises und Lösungen von Aufgaben, welche einige physikalische, chemische und sogar astronomische Einsichten voraussetzen. Weil Zellenbewohner aus innerm Antriebe gerne lernen und im Lernen so ziemlich ihre einzige Erholung finden, deshalb schreiten Viele auch rasch und sicher fort und sollen sie dafür mit Stillstand bestraft werden, für den sich nirgends ein Grund auftreiben ließe?

Weßhalb sollen Schwerverurtheilte, deren jugendliches Alter vielmaligen Schulbesuch gesetzlich sanctionirt, ohne ihre Schuld und noch mehr wider ihren Willen in den Mitteln des Fortschreitens zur Bildung und Besserung verkürzt werden? Die in der That ganz vortreffliche Hausordnung von Bruchsal ermuntert und belohnt sogar den Schulfleiß, erkennt in der Schule überhaupt ein mächtiges Mittel gegen geistige Verknüpfung und Versumpfung und daß es in ihr nicht gar zu hochgelehrt hergehe, dafür ist schon gesorgt, weil die meisten Sträflinge einen ziemlich armseligen und manche gar keinen Schulsack in die Zelle bringen.

Die Lehrer haben mit dem ABCschützen und Dummen überflüssig genug zu thun und sollen sie nun auch mit den weiter Fortgeschrittenen und Talentvollen dazu verurtheilt werden, Papageienrollen zu spielen und in diesem Jahre durchaus dasselbe zu schreien, was sie im vorigen Jahre geschrieen?

Wenn ein entlassener Zellenbewohner ungefähr weiß, was jeder ordentliche Realschüler zu wissen vermag, so weiß er noch lange nicht zuviel und wird durch das Gewicht seines Wissens schwerlich in den Pfuhl des Lasters und der Verbrechen hinabgedrückt!—

Während wir diesen etwas langgerathenen Gedankenspaziergang machten, arbeitete Nro. 110 in seiner Zelle rüstig fort und zuweilen tritt ein Werkmeister oder Aufseher herein, nicht sowohl um die Arbeit zu besichtigen, denn der Benedict arbeitet zu vortrefflich, als daß viele Besichtigung nöthig wäre, sondern um Etwas zu fragen oder die Leimpfanne zu bringen.

Der Fleiß der Gefangenen wird in der Zelle leichter und besser controllirt, als in jedem Sträflingssaale und zwar auf eine Weise, daß der Zellenbewohner nichts davon weiß. Der Controllirende tritt zur Thüre, hebt einen kleinen Schieber in die Höhe und überschaut mit Einem Blicke die ganze Zelle, wahrend Nro. 110 vergeblich sich abmühen würde, durch dasselbe Fensterchen auf den Gang hinauszusehen. Nicht Eine Minute des Tages oder der Nacht ist er sicher, unbeobachtet zu sein und das Peinliche dieser Lage wird gerade dadurch gemildert für den Bessern und geschärft für den Schlechtern, weil er niemals Gewißheit davon hat.

Ein gefangener Taglöhner hat sein Zellenleben in ergötzlichen Reimen beschrieben, von denen einige charactristische hier ein Plätzlein finden mögen:

   —Einmal ist der Obermeister kommen:    "Du willst nicht sputen hab' ich vernommen?    Hättest große machen sollen    Dich soll gleich der Kukuk holen!"—    "Ich will lieber machen kleine    Das ist die Rede, die ich meine!"—    "Du hast hier kein Recht,    Seist du Meister oder Knecht,    Mußt jetzt thun, was ich Dir sag'    Oder hast gehabt zu Mittag,    Und zu Nacht wirst auch nichts kriegen,    Kannst noch in den Turm hinabfliegen!    Dort kannst Du sitzen oder stehen    Und wie es Dir noch sonst wird gehen.    Dann thut man Dich in den Zwangstuhl schnallen    Das wird Dir auch nicht gut gefallen!"    Ich sah auf mein Spulrad hin    Und dachte: "wenn nur dieser Mann wieder ging!"    Aber er ließ sich nicht vertreiben    Und ließ auch das Dräuen nicht bleiben.    "Wenn ich noch eine einzige Klage hör',    Dann komme ich wieder zu Dir hieher!"    Das ist sein letztes Wort,    Dann ist er fort.    Ich dacht: Nun ist er doch einmal gangen,    Das war ja mein einzig Verlangen!    Hab mich wieder zum Rad gesetzt    Und gespult, daß ich hab' geschwitzt.    Hörte ich nur laufen im Gang,    So glaubte ich: jetzt kommt der saure Mann!—    Einmal hab' ich gesungen,    Da kam er gleich gesprungen:    "Hör' ich dies noch einmal hier,    Dann gibt man nicht zu essen Dir!"    Darauf sah ich ihn im Hof in seinem grauen Rock    Und eilte was ich konnte in den zweiten Stock,    Mache die Thüre eilends zu,    Daß ich hab' vor diesem Manne Ruh.    Er hat mir schon zu schwer gedräut,    Ihn zu sehen, ist mir keine Freud'!    Allein ich hab' vor ihm recht Respekt,    Doch bin ich gern von ihm weit weg;    Doch hat er mir noch nichts zu leid gethan    Er kann doch sein ein guter Mann!

In diesem Augenblicke öffnet sich die Thüre von Nro. 110 und einer der beiden Obermeister steht vor Benedict. Er ist nicht mehr der alte Dräuer, über welchen der Taglöhner klagte, sondern ein ganz freundlicher ordentlicher Mann, der mit Blicken mehr ausrichtet als Andere mit vielem Lärm. Die Arme über die Brust gekreuzt, den rechten Fuß vorgestellt steht er ganz ruhig da und redet mit unserm Schreiner vom Wetter und den Rheinschnaken, diesen Moskitos der Rheinebene, deren Stich eben keine angenehme Empfindungen, wohl aber kleine Beulen erzeugt und die den Weg durch alle Kleider und die dicksten Teppiche hindurch zu finden wissen, während ihr Gesumme in Schlaf lullt.

Tabaksqualm verscheucht diese kleinen, blutgierigen Ungeheuer, aber der Gefangene darf nicht rauchen und muß sich begnügen, die Schnaken todzuschlagen [todtzuschlagen], wenn sie angefüllt von Blut träge an den Wänden sitzen und nicht weit zu fliegen vermögen. Wahrend der Obermeister den Ankläger der Schnaken anhört, überschaut er mit einigen Seitenblicken Alles und wenn Etwas am unrechten Nagel hängt, nicht vorschriftsmäßig aufgestellt oder hingelegt ist, darf der Zellenbewohner einer Ermahnung gewiß sein, wenn aber gar irgend ein Verstoß gegen die Reinlichkeit aufzutreiben ist, dann bleibt eine Zurechtweisung nicht aus.

Wieviel Schweiß und Aerger haben die kleinen Ziegelplatten des Zellenbodens den Benedict schon gekostet, den feinen, ungesunden Staub abgerechnet, der sich von denselben ablößt!

Jetzt versteht er sein Geschäft besser, der Obermeister vermag nichts zu entdecken, was der Reinlichkeit widerspräche, denn es fehlt zwar nicht an Sägspänen, Hobelspänen, Gerüchen des Holzes und der Politur, zumal das obere Fenster geschlossen ist, aber in welcher Schreinerwerkstätte der Welt fehlt es an diesen Dingen? Oder wo gibt es irgend eine Schusterboutique, aus welcher der Geruch von Leder und Pech verbannt ist oder einen Webstuhl, in dessen Nähe es nicht von Zeit zu Zeit nach Schlichte riecht?

Arme und reiche Handwerker sind an solche Dinge gewöhnt, die sich nicht vermeiden lassen, Gewohnheit stumpft gegen den schlimmen Einfluß derselben ab, weßhalb soll und wie soll der Zellenbewohner dagegen geschützt werden?

Tadeln ist in allen Dingen leicht, Verbessern häufig schwer.

Frische Luft und Reinlichkeit sind für die Gesundheit des Gefangenen wichtige Artikel, in Bruchsal ist in dieser Hinsicht das Möglichste geleistet, die Ziegelplatten der Zellenböden möchten freilich nicht viel taugen, aber sie sind nun einmal da, lassen sich nicht über Nacht wegbringen und leicht ohne große Kosten durch etwas Besseres ersetzen, dagegen läßt sich die Reinlichkeit jedes Einzelnen leicht controlliren.

Der Oberaufseher wünscht freundlich guten Abend und eilt zu Nro. 109 hinüber. Ein Herbsttag geht rasch vorüber, ehe man sichs versieht, ist die Dämmerung da. Die verschiedenen Zeiten des Jahres und Tages, die Wechsel der Witterung üben auf den Menschen Einfluß aus und wenn dieser Einfluß bei vielen Zellenbewohnern noch bemerkbarer wird als bei andern Gefangenen, so rührt dies wohl daher, weil ihr äußeres Leben ein ziemlich armes und einförmiges ist. Ein kurzer, trüber Herbsttag stimmte den Benedikt trübe und melancholisch, der Abend brachte ihm gar schwermüthige Gedanken. Er dachte an das Abendläuten, Lichteranzünden und an die Heimgärten im fernen Dörflein und war froh, als der Aufseher den Schalter öffnete, um den Wasserkrug zum letztenmal für heute in Empfang zu nehmen und das Licht anzuzünden.

Er griff wiederum zum Hobel, um die Grillen durch Arbeit zu verscheuchen, doch wollte es ihm nicht recht gelingen und zuweilen tief aufseufzend blickte er durch die Gitter zum dunkeln, sternenleeren Nachthimmel empor.

Abermals öffnet sich die Thüre und der Arzt tritt herein.

Dieser muß nicht nur seine Kranken, sondern auch alle Gesunden fleißig besuchen und fast noch mehr Seelenarzt als Leibesarzt sein.

Weil die Einzelhaft eine neue und aus fernen Landen zu uns gekommenne [gekommene] Einrichtung ist, welche je nach Clima, Lebensweise und Charakter eines Volkes Verschiedenheiten der Durchführung erheischt, über deren Art und Zweckmäßigkeit lediglich die Erfahrung allmählige Belehrung zu geben vermag, muß besonders auch der Gefängnißvorstand ein denkender und mit vielseitiger Bildung ausgerüsteter Mann und nicht etwa ein alter ausgedienter Soldat sein, wie dies manchmal in England stattfindet. Gediente Soldaten geben gute Oberaufseher und Aufseher; wo die Ordre anfängt, hört gemeiniglich ihr Denken auf, je nach der Ordre hauen sie den Gefangenen ebenso bereitwillig in Krautstücke als sie denselben noch als menschenähnliches Wesen passiren lassen und so vortrefflich solche Eigenschaft untergeordneten Werkzeugen ansteht, so mißliche Folgen würde sie nach sich ziehen, wenn der Vorstand einer Besserungsanstalt ein abdecretirter Schnurrbart wäre, der Menschen jeder Art als Maschinen betrachtete und bald im Vollgefühle seiner Unwissenheit und Ohnmacht Fünfe gerad sein ließe oder blind und brutal in Alles hineinblitzte und hineindonnerte, was nicht ganz nach seinem Kopfe ginge.

Weil Menschen und die allseitigen Wirkungen von Einrichtungen bis ins Kleinste studirt, Alles auf bestimmte Zwecke gerichtet und alle Zwecke Einem großen Zwecke untergeordnet werden müssen, deßhalb muß der Vorstand ein organisirender Kopf und weil ein Arzt jedenfalls am meisten Gelegenheit besitzt, sich theoretische und praktische Kenntnisse über den Menschen und das Volk, Krankheiten des Leibes und der Seele und unserer gesellschaftlichen Zustände zu erwerben, endlich weil Zellenbewohner in mancher Beziehung Ausnahmsmenschen werden und Einem Arzte sehr viel zu schaffen machen, wenn auch der Krankenstand ganz unbedeutend bleibt, deßhalb möchte es gut und zweckmäßig sein, wenn auch der Gefängnißvorstand ein Arzt ist.

Die Verhältnisse eines Zellengefängnisses drängen von selbst darauf hin, daß entweder der Doctor vielfach zum thatsächlichen Vorstande und der Vorstand zu seinem Figuranten würde oder daß Beide sich in die Haare gerieten, wobei der Staat und die Gefangenen am Schlechtesten bestünden, wenn der Vorstand ein alter Soldat oder ein einseitiger Fachmensch überhaupt wäre.

Ein ehemaliger Offizier, der ein bischen vom Rechnungsfache verstünde, möchte sich zum Vorstande einer Anstalt mit gemeinsamer Haft vortrefflich eignen, schwerlich dagegen zum Leiter eines Zellengefängnisses.

Nro. 110 gehört zu jenen vielen Zellenbewohnern, welche ihren leiblichen Zuständen große, oft arg übertriebene Aufmerksamkeit zuwenden und denen ein bischen Mattigkeit in den Gliedern oder Reißen im Kopfe leicht Gedanken an schwere Krankheiten und das gefürchtete Brett der Anatomie erregte. Sie plagen und quälen den armen Doctor mit ihren Einfällen und Fragen und wenn er nicht darauf einzugehen Grund findet oder gar darob lächelt, dann halten sie ihn für einen halben Unmenschen, geht er darauf ein, für einen ganzen Dummkopf und macht er die Sache mit einem Thee oder einer Arznei statt mit Krankenkost ab, für einen vollendeten Tyrannen.

Heute weiß der gute Benedict sehr viel von Magenknurren zu erzählen und weil der Doctor ihn mit den violetten Knödeln tröstet, welche morgen aufgetischt werden, wird er melancholisch und redet von Todesahnungen, welche ihm jener wiederum auszureden sucht.

Kaum ist der Arzt fort, so tritt der Aufseher herein und lößt das Bett von der Wand ab. Unser Gefangener arbeitet noch einige Zeit und bringt es über das Tagwerk hinaus, dann läutet es wiederum in allen Flügeln auf einmal, wiederum klirren die Eßkessel, wiederum eilen die Aufseher der Küche zu, Benedict hört, wie sein Aufseher von Zelle zu Zelle geht, die Schalter zuschlägt und gute Nacht wünscht, bald fliegt auch sein Schalter auf, sein Schüsselchen wird gefüllt, der Schalter fährt zu und Benedict betrachtet wehmüthigen Blickes die Königin der Zuchthaussuppen, eine braune, ihm gar fad vorkommende "Wasserschnalle."

Doch—in der Kaserne bekam er Abends gewöhnlich Nichts, jetzt ist er hungrig, dort drinnen im braunen Schränklein findet er Salz, er salzt und ißt die Suppe. Nicht lange darnach tritt der Werkmeister zum letztenmal für heute herein, er nimmt die schneidenden Instrumente aus der Zelle weg, der Korb mit Hobelspänen wird in den Gang hinausgestellt, man sagt sich gute Nacht. Bald verhallen die Schritte der forteilenden Werkmeister und Aufseher draußen im Gange, alsdann herrscht Todtenstille, höchstens die fallenden Tropfen einer Brunnenröhre, die Schritte eines Nachbars, das starke Husten oder Aufseufzen desselben unterbricht diese Stille.

Leise und unhörbar schleichen die Aufseher in Filzschuhen oder in Socken durch die Gänge, kein Mensch sondern die Einsamkeit will mit dem Benedict eine ernste, schwermüthige Unterhaltung beginnen, eilig greift er nach dem reichhaltigen Lesebuch von Döll, dann nach der belehrenden "Menagerie" von Drugulin und ließt, dort über die Gasarten, was übermorgen in der Schule verhandelt werden soll, hier über die Wildschweinjagd mit Wurfspießen im fernen Indien.

Plötzlich lärmt die Hausschelle durch die Todtenstille und befiehlt, daß alle Lichter gelöscht werden, alle Gefangenen sich zu Bette legen müssen. Eilig legt Benedict sein Buch weg, klappt Tisch und Bank wiederum an die Wand und löscht die Lampe aus.

Sinnend steht er noch einige Augenblicke in der Zelle und blickt zum vergitterten Fensterlein empor, die sechs dicken Eisenstäbe gränzen sich scharf gegen den Nachthimmel mit seinen dunkeln, fliegenden Wolken ab, durch welche zuweilen das weiße oder röthliche Licht eines Sternes scheint oder flimmert und dieses traurige Haus wie die dunkeln Höhen des Schwarzwaldes, das Heimathdörflein, die Städte und Kasernen des Rheinthales überschaut und vielleicht in die Scheiben einer Hinterstube leuchtet, in welcher Meister März mit seinen Gottseligen conventikelt. Benedikt soll halblaut beten, die Hausordnung will es, doch er will nicht und murmelt sehnsüchtige Wünsche vor sich hin.

Dann legt er den Strohteppich zum Schutze gegen den kalten Boden vor das Bett und legt sich nieder, um zu schlafen.

Er hat den Tag über streng gearbeitet und befindet sich bald auf der Brücke zwischen Wachen und Schlafen, doch das langgedehnte Gebrülle einer gedankenlosen oder auch boshaften Schildwache laßt ihn einstweilen die Gedanken ans Einschlafen vergessen.

Man mag ein Zurufen der nicht weit von einander stehenden Schildwachen für zweckmäßig erklären, doch welchen Zweck soll ein mehr als viehisches Brüllen und absichtliches Wiehern haben, welches manche Soldaten allnächtlich auf den Ringmauern zum Besten geben?

Weit entfernt vom Militär kleiner Länder den Geist und die Haltung der Soldaten einer großen Armee und damit viel zu viel zu verlangen, möchte doch nicht zuviel verlangt sein mit der Forderung, daß die Wachkommandanten des Zellengefängnisses häufiger zur Einsicht kämen, gewaltsame Störung des Schlafes vieler Kranken und Gefangenen sei nicht nur etwas Unnöthiges, sondern auch etwas Unzweckmäßiges und Unwürdiges.—

Seufzend wickelt sich der Duckmäuser fester in seinen Teppich, kehrt sich gegen die Wand und der Bibelvers, welcher ihn heute so sehr beschäftigte, kommt abermals und immer wieder ihm in den Sinn. Er schließt die Augen gewaltsam und zählt so lange von Eins bis Hundert rückwärts, bis endlich der Schlaf dem Zählen ein Ende macht, ein Schlaf ohne Erquickung und Ruhe, denn was sich in seinem Gemüthe regt, lebt auch im Schlafe fort und die Gedanken, welche er heute gehabt, spinnen sich in die Traumwelt weiter. Wovon soll ein Zellenbewohner träumen? Von den kleinen Ereignissen der Gegenwart? Sie biethen ihm zu wenig Interesse dar, als daß sie sich häufig in seine Träume verweben sollten. Höchstens die Schule beschäftigt den Träumenden, er setzt manchmal Rechnungen fort oder sieht in lebendigen wunderlichen Gestalten vor seinen Augen vorgehen, was er dort gehört. Meistens träumt er von der Vergangenheit, von den Hauptereignissen seines Lebens, vom Prozesse, der ihn vernichtet oder auch von der Zukunft, einer bessern, freudevollern Zukunft, von einer Welt voll süßer Täuschungen, welche der Klang der Hausschelle am frühen Morgen wegzaubert.

Selten im Sträflingssaale, häufig bereits in der Zelle hat der Benedict geträumt vom Heimathdörflein, von den beiden Schwitten, von den Herzkäfern, dem Saumathis und Straßenbasche und vom Kasernenleben und manchmal ist er entsetzt aufgefahren, wenn die todte Mutter oder der Vater mit dem zerschmetterten Haupte oder dem ledernen Beutel, aus welchem er 50 Gulden herauszählte, vor ihm stand.

Sechs Jahre muß ein Zellenbewohner in der Zelle bleiben, wenn die Strafzeit 9 oder mehr Jahre beträgt. Sechs Jahre sind über 2190 Tage und ebensoviel Nächte eines eintönigen Lebens und eine solche Zahl sollte nicht ausreichen, um den alten Adam abzulegen?—

* * * * *

Mehrere Jahre sind verflossen, seitdem der Benedict das Inwendige eines Sträflingssaales zum letztenmale gesehen. Er sitzt noch immer in der Zelle, ist noch immer hineingebannt in den unerbittlichen Gang des Lebens, welches Jahr für Jahr und Tag für Tag so ziemlich in derselben Weise eintönig vorüberschleicht, wie wir es beschrieben. Aber der leichtsinnige Hobist ist indessen ein stiller, nachdenklicher, ein besserer und im Ganzen glücklicher Mensch geworden, der nicht mehr seine Freilassung für das Höchste hält, weil er aufhörte, die Erde als das Höchste zu betrachten.

Rasch und leicht ging solche Umwandlung keineswegs von Statten. Sie kostete bittere Thränen, schwere Kämpfe, verzweiflungsvolle Nächte, schonungslose Selbstanklagen, tausend vergebliche Vorsätze und mußte Schritt für Schritt mit dem stärksten, unermüdlichsten und grimmigsten Feinde, welchen der Mensch hat, nämlich mit der Selbstsucht im Kampfe liegen.

Als nakte Selbstsucht besiegt, kleidete sie sich in das Gewand der Tugend und Religion, mit Hülfe des Geistlichen entlarvt, mußte der Kampf von Neuem aufgenommen werden. Jetzt ist sie gebunden, gedemüthiget, aber noch nicht getödtet, erst der Tod wird sie vollkommen tödten.

Geht nicht eine alte Sage unter dem Volke, die zertretene Schlange vermöge nicht zu sterben, bevor die Sonne untergegangen?—

Der Duckmäuser ist noch jung und stark, er gehört zu den Gebesserten, insofern man Mienen, Gebärden, Reden, Benehmen, Eifer in Schule und Kirche, das gleichmüthige und heitere Ertragen aller Entbehrungen und Leiden eines einsamen Zellenbewohners, das unbedingte Anheimstellen des eigenen Schicksals in den Willen Gottes, die lebendigen Aeußerungen eines tiefen Bewußtseins der ehemaligen Unwürdigkeit, der gegenwärtigen Schwäche und einer dankbaren Anerkennung der erbarmenden Liebe des Erlösers gegen ihn als Zeichen von Besserung ansehen darf.

Er lebt so, als ob er nicht mehr allein in der Zelle sei, sondern als ob die friedlichen, beseligenden Gestalten des Himmels bei ihm ein und answandelten und als ob der Allmächtige den Fluch der bösen Thaten, die der Benedict verübt, von dessen Haupte hinweggenommen habe.

Aber so wenig wir auf eine Besserung halten, welche erst auf dem Todbette erfolgt oder deren Verdienst dem zunehmenden Alter, der wachsenden Einsicht in das Eitle und Nichtige alles Irdischen, der erkaltenden Begierde, günstiger gewordenen Lebensverhältnissen und andern Umständen hauptsächlich zugeschrieben werden können, so zweifelhaft und jedenfalls für die menschliche Gesellschaft fast unfruchtbar bleibt auch die geistige Wiedergeburt eines Zellenbewohners, so lange derselbe in der Zelle lebt.

Weßhalb?

Er kann in der That gebessert sein, mag in der sittlichen Erstarkung auch große Fortschritte gemacht haben und aufrichtig beschwören, ja auch den Schwur nach der Entlassung treulich erfüllen, daß er niemals wieder in eine Strafanstalt zurückkehre—aber seine Besserung kann immerhin vorherrschend als eine Besserung für das Zuchthaus und nicht als eine für die Welt betrachtet werden.

Zeit und Gewohnheit sind für jeden Leidenden ein Balsam, der Zellenbewohner entbehrt desselben nicht, aber er entbehrt vieler Gelegenheiten und Versuchungen zu Sünden, Lastern und Verbrechen, welche die Welt darbietet.

Man hat die Zellenbewohner schon mit Klosterbewohnern verglichen und dadurch einen hinkenden Vergleich mehr zu Papier gebracht.

Ein Zellenbewohner kann zwar so weit gelangen, daß er seine Strafe gleichsam aus freiem Entschlusse auf sich nimmt, doch kein freier Entschluß, den Versuchungen der Welt zu entfliehen, sondern ein Verbrechen hat ihn in die Einsamkeit getrieben, der Spielraum seiner Freiheit ist geringer, als der jedes Bruders eines jeglichen Ordens, seine Lage ist vielfach schwieriger als die des Trappisten und der Austritt aus der Zelle steht in keiner Weise in seiner Macht.

So wenig wir denen beistimmen, welche wähnen, ein Zellengefangener besitze keine Gelegenheit Beweise seiner Besserung abzulegen, so geben wir doch zu, daß die vollständige Besserung eines Zellenbewohners sich erst nach der Entlassung zu bewähren vermöge.

Ein gebesserter Sträfling soll aber nicht blos kein neues, von wandelbaren Gesetzen verpöntes Vergehen sich mehr zu Schulden kommen lassen, sondern überhaupt ein guter Mensch, treuer Familienvater und rechtschaffener Bürger sein.

Saufen, Spielen, Verschwenden, Betrügen, Ehebrechen, Faulenzen, Weib und Kinder und Mitmenschen mißhandeln soll er als trauriges Privilegium jenen Vielen überlassen, welche mit und ohne Glacéhandschuhe erhobenen Hauptes an Strafanstalten vorüberwandeln und gleich jenem Pharisäer jubeln: "Herrgott, was bin ich für ein prächtiger, vortrefflicher Kerl!—Noch niemals habe ich ein gemeines Verbrechen begangen, welches mich in eine Strafanstalt führte!"

Will eine Regierung sich vollkommen überzeugen, ob Zellenbewohner auf eine Weise gebessert werden, daß die menschliche Gesellschaft wirklichen Nutzen davon hat, so muß sie nach unseren Ansichten genaue Nachrichten über das Leben und Treiben aller Entlassenen von Zeit zu Zeit einziehen. Freilich, wo Leute erst dann in die Zelle gelangen, wenn sie im Laster bereits alt wurden, auch in diesem Falle oft nur kurze Zeit zu bleiben haben oder durch Hungerkost und Dunkelarrest für die nächste Zeit von Verbrechen abgeschreckt, dagegen der Besserung weit schwerer zugänglich gemacht werden, da läßt sich nicht allzuviel hoffen, doch jedenfalls würde sich herausstellen, daß jugendliche Verbrecher, welche 2 bis 3 Jahre in einer Zelle zubrachten, nicht wieder in eine Strafanstalt zurückkehrten und durch ihr Leben keinen Grund zur Befürchtung baldiger Rückkehr darbieten.

Damit wäre aber die Einzelhaft als eine für den Staat und die Gefangenen gleich wohlthätige Einrichtung gerettet, insofern von Besserung im strengsten Sinne des Wortes die Rede ist.

Ruhig und friedlich lebt der Benedict nunmehr in seiner Zelle und schaut wohlgemuth auf Alles zurück, was er in ihr durchgemacht hat.

In der ersten Zeit überraschte ihn die Neuheit seiner Lage, er hatte sich Alles viel fürchterlicher vorgestellt, als er es fand und dem leiblichen Tode würde er gleichmüthig ins Auge geschaut haben.

Es ist ein gewaltiger Irrthum, zu glauben, der Tod komme Verbrecher schwer an. Viele sterben ganz ruhig, weil auch der nahende Tod ihnen die tiefe Ueberzeugung nicht nimmt, daß sie weit eher Märtyrer als Verbrecher seien und zehnmal eher den Himmel als die Hölle oder auch Keines von Beiden zu erwarten hatten. Eine Hauptkrankheit aller Gefangenen ist die Schwindsucht, Schwindsüchtige sind bekanntlich die Letzten, welche an die Nähe ihres Todes glauben und haben auch keinen schmerzhaften Tod.

Ganz schön und leicht und ohne alle Gewissensscrupeln war der Zuckerhannes gestorben, einen ähnlichen Tod wünschte sich auch der Benedict.

Doch nicht der Tod, sondern ein neues Leben sollte ihm in der Zelle werden. In den ersten Monden der Zellenhaft gerieth er, gleich einem frisch eingefangenen, erwachsenen Thiere, das in einen engen Käfig gesperrt wird, in einen Zustand großer Empfindlichkeit und Reizbarkeit, den er mit unsäglicher Mühe beherrschte, um sich nicht bei den Vorgesetzten von vornherein das Spiel zu verderben. Er suchte sich beliebt zu machen und es gelang ihm, wie es ihm noch überall gelungen. Sein chronisches Seelenübel, Eitelkeit und Selbstgefälligkeit, fand jedoch nicht Pflege und Nahrung genug, dem Spiele einer lebhaften Phantasie überlassen, gerieth der vielbelesene Kopf zuweilen mit der rauhen Wirklichkeit in Fehde und weil er stets den Kürzern zog, machte sich die wachsende Reizbarkeit zuweilen Luft.

Das kurze Wort, der scharfe Blick eines Aufsehers konnte ihn in solcher Gemüthsstimmung beben machen und was Beamte und Geistliche der Anstalt, in der er früher gewesen, niemals gehört hatten, hörten die des Zellengefängnisses: schwere Anklagen gegen Gott und Welt, Gesetze, Richter, Zeugen, alle Menschen, welche ihm jemals etwas Böses zugefügt haben sollten.

Ein so entschuldbarer und schon so lange mißhandelter Mensch seiner Art gehörte freigelassen, das verstand sich von selbst—er machte Bittschriften und die Beamten mußten dieselben wohl entgegennehmen, wenn sie Schlimmes nicht schlimmer machen wollten. Natürlich lautete die Antwort kurz und gut, man fühle sich in keiner Weise veranlaßt, seine Begnadigung derzeit zu befürworten.

"In keiner Weise!"—["]also haben die Beamten und der Geistliche nicht für mich geredet! ... Verderben ihnen!" dachte der enttäuschte Benedict und schwor ingrimmig, keines Menschen Wort und Mienen mehr zu vertrauen. Er suchte sich in die ehemalige Gleichgültigkeit hineinzulügen, den Besuchern mit kalter Höflichkeit und schlauer Berechnung entgegen zu kommen, doch seine Jugend- und Lebenserinnerungen leisteten ihm beständig Gesellschaft, alle Gestalten derselben lebten und wandelten draußen herum, diesen gegenüber mochte er nicht gleichgültig bleiben und wenn er die Eisenbahn pfeifen hörte, welche glückliche Menschen seiner Heimath zutrug oder an stillen Sonntagen die Parademusik hörte, weinte er oft Thränen stiller Verzweiflung.

Ein unbedachtsamer Hitzkopf war er sonst nie besonders gewesen, aber jetzt wurde er es, weil er das Feuer, das in ihm zehrte, nicht zu bemeistern vermochte. Er redete, was er fühlte, ohne sich lange zu besinnen und gar Manches, was er in ruhigeren Stunden verdammte.

Endlich versank er in einen Zustand stiller Trauer und hoffnungsloser Schwermuth. Er würde sich vielleicht aufgehängt haben, wenn das Hängen nicht ein gar zu gemeiner Tod und der Selbstmord überhaupt kein Akt tapferer Feigheit wäre. Er hatte angefangen, ernster und gründlicher als je in sich selbst hineinzuschauen und der Ich, welcher aus ihm heraus ihm selbst entgegengrinste, zeigte eine so schreckliche Gestalt, daß der Benedict nahe daran war, an Gott und an sich selbst zu verzweifeln.

Aus dem Trübsinn riß ihn der würdige Geistliche.

Er ließ sich das ganze Leben des Gefangenen erzählen, zeigte ihm, was er gewollt und gethan, anderseits was Gott gewollt und gethan habe und verwies auf die Tröstungen der Religion.

Ein erklärter Feind der Religion, Geistlichen und rechtschaffener Menschen war Nro. 110 niemals gewesen, kannte die Lehren der katholischen Kirche und wußte, wie tief die Wurzeln liegen, welche dieselbe mindestens noch beim Volke getrieben. Die äußern Gebräuche hatte er als Gefangener niemals vernachläßiget, aber religiös gesinnt konnte er nicht werden unter Menschen, die Mangel an Religion für die höchste Tugend erklärten. Ohne daß er es merkte und wollte, übten die Religionsspötter doch Einfluß auf ihn, als Betbruder zu gelten, däuchte ihm eine Unklugheit und halbe Schande.

Nachdem er in der Zelle genug geflucht, gewüthet und sich den Tod gewünscht, begann er zu beten.

Schule, Kirche, gute religiöse und andere Schriften machten einen wohlthätigen Eindruck auf ihn, eine herzhafte Generalbeichte wurde der Anfang zur Besserung.

Langsam und allmählig, wie der Benedict hochmüthig, leichtsinnig, diebisch und liederlich geworden, lernte er Demuth kennen und üben, die Sünden zuerst als eine unpraktische Dummheit und dann erst recht als eine Beleidigung der Majestät Gottes kennen, die Sehnsucht nach irdischen Gütern, Genüssen und Ehren minderte sich, je mehr sich ihm die Gestalten des Himmels offenbarten und auf dem Pfade zur Versöhnung mit sich selbst, der Welt und Gott ward ihm mannigfache Hülfe.

Hat er nicht einen Briefwechsel mit seinen Geschwistern angefangen, an welche er lange Jahre nicht geschrieben? Wurden die Antworten nicht eine reiche Quelle des Trostes und der Ermunterung für ihn? Erfuhr er nicht unter andern, der Vater habe noch einige Stunden gelebt und Zeichen der Verzeihung gegen das Bild an der Wand gemacht, welches den Benedict als Hobisten darstellte? Schöpfte der Unglückliche nicht daraus den Trost, der Vater habe ihn noch bei Lebzeiten nicht für seinen absichtlichen Mörder gehalten?

Am ersten Montage des Septembers 185... wurde Nro. 110 unvermuthet ins Besuchzimmer abgeholt. Er schrak ganz zusammen und die Kniee zitterten ihm, als er durch die kühlen Gange geführt wurde und erinnerte sich, auf diesem Wege sei er in die Anstalt hereingekommen.

Richtig liegt auch das Besuchzimmer im Vorderbau beim Eingange und der Gefangene, welcher Besuch empfängt, sieht die Thüre, die ins große Zuchthaus hinausführt.

Das Besuchzimmer des Zellengefängnisses ist so eingerichtet, daß der Gefangene nicht das Mindeste von den Besuchern in Empfang zu nehmen vermöchte, wenn auch gar keine Aussicht vorhanden wäre. Die Leute sehen einander mit Mühe, geschweige daß sie sich die Hand zu geben vermöchten und die Stimme ist wohl das Hauptsächlichste, woran sie sich gegenseitig erkennen. Hausordnungswidrig darf sich auch keine Stimme vernehmen lassen, denn zwischen den bis zur Decke eng verpallisadirten Käfigen der Besuchenden und des Besuchten steht ein Aufseher, so lange sie zusammen reden und diese Aufseher sind ausgewählte, pflichttreue Diener, wie man sie wohl selten in einer Strafanstalt beisammen trifft.

Für die übertrieben scheinende und in der That harte Einrichtung des Besuchzimmers finden wir nur Einen haltbaren Grund: man will die Angehörigen, Freunde und Bekannten der Zellenbewohner von Besuchen abschrecken.

Dieser Grund ist allerdings haltbar, weil ein Zellenbewohner wahrend seiner ganzen Haft mehr oder minder in einem empfindsamen, leicht erregbaren Zustande sich befindet und durch nichts leichter als durch Besuche in eine gewaltige und manchmal unheilbringende Aufregung versetzt wird.

Wer weiß, welchen Eindruck der jetzige Besuch auf den Benedict gemacht hätte, wenn er nicht bereits zum religiösen Halt in sich gelangt gewesen wäre!——

Er hat am Besuchzimmer später nichts ausgesetzt, denn er fühlte sich unwürdig, den beiden Lieben, welche ihn besuchten, näher zu treten und die Hand zu reichen und mußte sich im ersten Augenblicke an einer Pallisade halten, um nicht zusammenzubrechen. Standen doch ihm gegenüber der älteste Bruder, der Johannesle, welcher Zeuge der allerersten Arretirung in der Apotheke gewesen und neben ihm——das Rosele!

Stumm, von seltsamen Gefühlen bewegt, schauten sich diese drei Menschen an, so gut es möglich war, dann brachen sie in ein lautes Weinen und Schluchzen aus und endlich begannen sie zu reden, anfangs ohne recht zu wissen was und wovon. Der Benedict faßte noch zuerst Muth und Besinnung und erzählte ihnen sehr Tröstliches von seinem Zellenleben, was die Beiden ruhig machte.

Wie groß und mannhaft ist der Johannesle geworden und jetzt verheirathet, wie sehr hat das Rosele gealtert und wie manche Thräne mag über diese braunen, gefurchten Wangen geflossen sein! Das Weib des Straßenbasche ist todt, doch der alte Mann lebt noch, sie pflegt ihn und ist ledig geblieben bis zur Stunde. Der Mensch liebt nur einmal recht in seinem Leben, alles Späterkommende ist mit Lumperei vermischt!—

Daheim im Dörflein hat das Jahr 1848 die rothe Schwitt vollständig ans Ruder gebracht und der Willibald ist Obmann des Sicherheitsausschusses gewesen. Es gab nur Demokraten, welche soffen und schrieen und Einige, welche in Winkeln herumkrochen, das Maul hielten und erst nach der Ankunft der Preußen auf die frühern "Maulhelden," um deretwillen doch eine Armee ins Land rückte und das Pulver nicht sparte, tapfer schimpften. Dafür wurden diese Bürgermeister und Gemeinderäthe; nur Einer ging leer aus und meinte, er hätte es eher als Alle verdient. Dieser Eine war der Sohn des alten, längst vermoderten Fidele, der Max vom Rindhofe, der Taufpathe der rothen Schwitt.

Dieser Taugenichts, an welchem übrigens ein Heli von Vater, eine dem positiven Christenthum bereits entfremdete Schule und vor Allem schlechtes Beispiel Vieles versündiget, hatte die Zukunft der rothen Schwitt als Anführer derselben anticipirt, bevor die Februarrevolution ausbrach und alle Rothschwittler und Rothschwittlerinnen des Landes zu Ehren brachte.

Den gewöhnlichen Weg vom leichtsinnigen Müßigänger zum genußwüthigen Lumpen, von diesem zum kleinen und allgemach zum großen Verbrecher und entschiedenen Feinde Gottes und der Menschen durchmachend, lernte Max das Innere vieler Wirthshäuser, Spitäler und Gefängnisse kennen und benahm sich im Heimathdörflein so, daß selbst die ärgsten Rothschwittler nicht gerne mehr mit ihm sich abgaben.

Seit den Märztagen führte der Willibald das große Wort im Dörflein, das sich wie an den meisten Orten in drei Parteien theilte, nämlich in eine lärmende und herrschende, in eine feigherzig schweigende und unentschlossen abwartende und endlich in die Windfahnenpartei, welche sich heute zu dieser morgen zu jener neigte, heute das einige Deutschland und den Großherzog, morgen die Republik hochleben ließ.

Mit Max hielten es nur einige Schnapslumpen und Solche, welche auch bereits aus Erfahrung wußten, wie Gefängnißsuppen und Zuchthausbrod schmecken. Das Dörflein hat während der langen Abwesenheit des Benedict traurige Fortschritte in Liederlichkeit und Verarmung gemacht, trotz den Anstrengungen derer vom alten Schrot und Korn und der Jungen der schwarzen Schwitt seinen guten Ruf jährlich mehr eingebüßt und ist das Haus des Brandpeterle nebst einigen andern aus einer Schule der Laster zur Verbrecherschule geworden.

Was man wenig überlegt und selten gelten lassen will, nämlich die Mitschuld der Gesellschaft an den Verbrechen der Einzelnen ließe sich gelegentlich dieses Dörfleins bis ins Einzelnste nachweisen, mit Namen, Thatsachen und sogar mit Zahlen belegen und spielte der Name eines Pfarrverwesers der Nachbarschaft dabei leider eine ebenso erhebliche als unläugbare Rolle. Wir können uns hier nicht näher darauf einlassen und melden zunächst nur, daß die Lumpen und Schlechten begreiflicherweise der Gesellschaft und dem Staate nicht einige Mitschuld, sondern übertreibend die Hauptschuld an ihren Lumpereien, schlechten Streichen und Verbrechen aufbürdeten und beim Ausbruche des Lärmes freudenroth und blutigroth schillerten und redeten, weil sie vermeinten, nunmehr sei das goldene Zeitalter der "Bürger" Schurk und Compagnie vor der Thüre und bereit waren, Alles zu thun, was ihren alten Gegnern zuwider und arg und ihren Wünschen entsprechend war.

Doch der Willibald trat sogleich an die Spitze der Liberalen, die in einer Woche zu vollblütigen "Demokratern" wurden und statt mit dem Max und dessen engern Freundeskreis zu fraternisiren, warf man ihm die bittere Wahrheit haufenweise ins Gesicht und durfte in Gegenwart der alten Freunde kaum ein Gläslein im Hirzen trinken, ohne in Gefahr und wegen seines bösen Maules manchmal in den Fall zu gerathen, eine unfreiwillige Reise durch die Luft zu machen. Der Max, darob erbost, liebäugelte einige Zeit mit den alten Freunden seines Vaters, welche aus ruhigen Bürgern zu heillosen "Aristokraten" geworden. Diese machten es ihm gerade wie die Windfahnen; sie scheuten sich, ihm und seiner Sippschaft offen entgegenzutreten und ließen sich nur durch die Unverschämtheit, mit welcher er Jeden mit "Du" und "Bürger" anredete, in die Häuser eindrang und schmarotzte, zuweilen bewegen, ihm nicht mit schweigender Verachtung zu begegnen, sondern gleich den Demokratern mit Dreschflegeln zu winken.

Kurz und gut, der redegewandte Max mit den Seinigen gelangte zu keinem Einfluß, fand Alle gegen sich und schimpfte heidenmäßig auf Alle. Als im Spätjahr 1848 die Nachricht kam, wie Struve im Interesse der Freiheit, Bildung und des Wohlstandes Aller im Oberland die Einzelnen traktire, Beamte in Ketten schlage, ganzen Dörfern mit Brand und Mord drohe, Einzelne fange, Gelder des Staates einsäkle und zahmgewordenen Kammerlöwen mit dem Sarras winke, um sie zu patriotischen Liebesgaben an die soziale Republik aufzumuntern, da schwoll dem Max das Herz in freudigbanger Erwartung, seine Sippe steckte die Köpfe zusammen, die Demokrater kratzten hinter den Ohren, die Aristokrater ließen schwere Seufzer fahren und gruben Nachts Löcher im Keller, die Windfahnen vertilgten mehr Wein, Bier und Schnaps als je, um beim etwaigen Einzuge des "Statthalters und der Statthalterin" dauerhafte Gurgeln zum Vivathochschreien zu haben.

Leider machte ein regnischer Sonntag im September den frühlingshaften Ahnungen der Rothen, Röthern und Röthesten des Ländleins durch die "Schlacht" bei Staufen ein Ende und als der Max gar erfuhr, daß Struve in der Nacht mit der Eisenbahn als Gefangener durch die erste Provinz seines Reiches gesaust, da rief er in tiefem Schmerz:

"Mit Deutschlands Einheit ist's Mathäi am Letzten. Das Parlament läßt nicht hängen und köpfen, der deutsche Michel läßt seine besten Männer besiegen, die Elsässer halten uns mit ihren Pralereien zum Narren, rächen wir uns an der schwarzen Schwitt, denn diese trägt an allem Schuld!"——

Gesagt, gethan. Er stand mit einigen Kameraden dem Willibald als einem Abtrünnigen und "Aristokrater" auf den Weg, sie schlugen denselben halbtodt und nahmen sich das Trinkgeld dafür aus seiner Tasche. Schon einige Stunden später saßen Alle im Amtsthurme, doch der Rädelsführer fröhlich und guter Dinge, denn erstens war die Kerkerkost besser als in friedlichen Zeiten, zweitens hegte er keinen Zweifel als politischer Verbrecher behandelt, beurtheilt und, amnestirt zu werden und drittens dann als politischer Märtyrer etwas einträglichere Geschäfte als bisher machen zu können.

Die Untersuchung währte sehr lange; die Richter empfanden damals große Scheu, irgend einem Sohne des souveränen Volkes Unrecht anzuthun und beliebäugelten das Individuum im Spiegel der Allgemeinheit. Doch nach der Mairevolution erwachte der alte Heldenmuth und eine niegesehene Rührigkeit im Verurtheilen und der Max spazirte als Räuber dahin, wohin er gehörte.

"Er hat's noch nicht abgesessen und lebt unter Einem Dache mit Dir!" schloß der Johannesle; siedendheiß fuhr es dem Benedict durch die Glieder, denn der alte Schwarzschwittler regte sich in ihm und konnte es nicht lassen, mit dem Haupte der rothen Schwitt am gleichen Ziel angekommen zu sein und unter Einem Dache zu leben.—

Nach vielen Herzkäfern und Schulkameraden, deren Stolz und Freude er dereinst gewesen, wagte er gar nicht zu fragen, denn der Johannesle besaß keinen Funken jenes Taktes, mit welchem Besucher mit Zellengefangenen reden müssen, wenn sie denselben keine schweren Stunden und schlaflose Nächte bereiten wollen und das Rosele war etwas schweigsam und kurz.

"Hab' oft für Dich gebetet, Benedict und will für Dich jetzt täglich in die Frühmesse gehen. Was ich nicht über Dich vermochte, vermag am Ende dieses wunderliche Haus noch am besten!—Sei getrost, der alte Herrgott lebt noch und weiß, was für Dich gut ist und die großen Herren sind besser als die kleinen. Betrübe Dich nicht zu sehr, weil Du da sitzest, denn daheim und im Lande sieht es so aus und geht es so zu, daß auch ordentliche Leute manchmal fast froh wären, hier oder doch tausend Stunden vom Rhein weg zu sein und Maxes alte Kameraden erzählen genug, wie man im Zuchthaus ungeschorener und besser lebe als in der Freiheit!"—

"Viele, die selbst mitmachten, sind jetzt die ärgsten Anzeiger und Leuteschinder; wenn man's sieht, wie das Land ausgefressen und ausgesogen, dem Armen das letzte Leintuch unter dem Leibe weggerissen wird, weil der "Vollstrecker" oder der Staat Geld braucht und wie nirgends Zutrauen und Verdienst zurückkehren wollen, da wunderts Einen nicht, weßhalb Tausende jetzt auswandern nach Amerika. Am Ende kommst Du auch noch hinein, Benedict, denn seitdem die Gemeinden und der Staat Solche, die im Zuchthaus gewesen wegen Stehlen und Rauben, mit den Politischen nach Amerika spediren, geht das Gerede, alle Zuchthäuser würden allgemach geleert und der Befehlshaber von Amerika habe herausgeschrieben, man solle ihm doch alle Arrestanten schicken, weil es an Händen fehle zum—Arbeiten!"

Benedict schüttelte etwas ungläubig den Kopf und meinte:

"Für mich gibts keine irdische Hoffnung mehr!—Ich habe schon an Dir, Rosele, mein Loos verdient, weil ich Deine einst so treue Liebe so mißachtete und mißhandelte!—Ich möchte nicht einmal wieder unter die Menschen, denn was habe ich zu erwarten? Gutes wenig, sei es im Badischen oder in Amerika. Lebewohl, Liebe, bete für mich und denke, daß ich endlich doch hier ein anderer Mensch werde!"

Rosele fuhr mit der Schürze über die Augen, winkte dem Unglücklichen noch einmal mit der Hand und wandte sich nach der Thüre, während Johannes einen Besuch im nächsten Jahr nach der Erndte versprach, falls diese gut ausfalle und ziemlich kühl Behütegott sagte.

Der Benedict hat sich eine Minute an den Pallisaden gehalten, als die Beiden gingen, hat gezittert und sich schier die Lippen wund gebissen, um nicht laut aufzuschreien. Doch ist er seiner selbst Meister geworden und still in seine Zelle zurückgekehrt, wo er auf die Kniee fiel und Gott ein heiliges Gelübde machte.

Seitdem ist er allgemach zu einem rechten Christenmenschen geworden, hat tief in sich hineingeschaut wie selten Einer und ernsthaft an seiner innern Läuterung gearbeitet, so daß er nunmehr alle Leiden um Christi willen freudig trägt.

Und wenn heute der herzensgute Fidele vom Grabe auferstünde und seinen Einzigen im grauen Kittel in der Zelle sähe, so würde sein Schmerz durch die Freude überwogen, in diesem zwar einen Verbrecher, aber einen gebesserten Verbrecher zu finden.

Der Max vom Rindhofe hat in der Zelle auch Gelegenheit erhalten, über sich selbst lange und ernstlich nachzudenken und sich selbst gründlich kennen zu lernen. Selbsterkenntniß aber ist und bleibt der Anfang aller Weisheit. Könnte man alle Menschen gleich den Zellenbewohnern zum Nachdenken zwingen—die Erde hörte auf, ein großes Zuchthaus zu sein und der Streit, ob man Mitmenschen pennsylvanisch, auburnisch oder nach der alten Methode drangsaliren müsse, damit die Gesellschaft sicher sei, würde als Kennzeichen einer rohen und barbarischen Zeit betrauert werden.

Aus den Briefen des Spaniolen.

Vorbericht.

Der Spaniol ist ein alter Bekannter aus dem ersten Theil und hat vielleicht mancher Leser schon zu erfahren gewünscht, wer und woher er wohl und wie es ihm bisher ergangen sein möge. Einerseits Revolutionär als Grundsatz, gehört er anderseits schon vermöge seiner höhern Ausbildung und gewaltig hohen Verbildung den höhern Volksklassen an.

So unrichtig es wäre, denselben als eine erdichtete Person zu betrachten, so sehr bitten wir auch, in ihm den Ausdruck einer großen Klasse von Menschen zu sehen, welche mehr oder minder bewußt und weitgehend dem Spaniolenthum huldigen. Seine Geschichte ist eine lange, lehrreiche und traurige. Statt ihrer geben wir nur Auszüge und dazu noch umgearbeitete Auszüge aus Briefen des Helden.

Warum?

Erstens erfordert eine lange Geschichte viel Druckpapier, noch mehr Schreibseligkeit und am meisten Geduld beim Leser. Der Herr Verleger besitzt zweifelsohne Papier genug, aber die Zuchthausgeschichten sind schon ihrem Inhalte nach etwas dick und sollen mindestens der Form nach nicht allzudick werden, damit sie sich leichter Platz machen in der elenden Zeit. Ferner hat möglicherweise schon Mancher gedacht, der Verfasser müsse ein recht schreibseliger Mensch sein, zumal er sich zuweilen wiederholt, allein Ein Beweis vom Gegentheil wird durch großartige Beschneidung der Geschichte des Spaniolen geliefert und manche Wiederholung mit der Furcht entschuldigt, daß der Leser diese Schrift als eine vorzugsweise für Unterhaltung berechnete ansehe, mit der Erfahrung, daß Kopfzerbrechen und Nachdenken keine Lieblingsleidenschaft des Publikums sei, mit der Gewißheit, daß man gewisse Dinge nicht oft genug sagen könne und vor Allem mit Vertrauen auf die berühmte deutsche Tugend der Geduld.

Zweitenswäre die Darstellung der innern Entwicklung und äußern Schicksale des Spaniolen sehr lehrreich und wohl auch unterhaltend, allein der genauem Veröffentlichung stehen größere Bedenken entgegen als bei allen übrigen in dieser Schrift vorkommenden Geschichten. Daß wir es dadurch mit Rezensenten, Schön-, Schwarm- und Rottengeistern der Gelehrtenrepublik, ja mindestens mit drei Viertheilen der Welt verdürben, wäre noch leicht zu verdauen. Wir fragen so wenig nach allen Interessen unserer Person als nur immer möglich und weil es auf dem unvermeidlichen Totenbette doch Eins ist, ob man sein Lebenlang Champagner oder Batzenvierer getrunken, Havannahcigarren oder Pfälzerkneller geraucht und auf Eiderdunen oder auf einem Spreuersack Nachts schnarchte, so würden wir uns nicht einmal sonderlich grämen, wenn man uns eines schönen Tages zum zweitenmal, aber dießmal um einer guten heiligen Sache willen an der Cravatte packte; wenn diese dadurch gefördert würde, könnte die winzige Person darob ganz fröhlich zu Grunde gehen.

Allein nicht unsere Person, sondern die des Spaniolen müssen wir verschleiern und diese auch weniger um ihretwillen, sondern wegen anderer Leute. Wir müßten nolens volens Vieles dichten, dürften Namen von Orten und Personen, Zahlen und manche Thatsachen nicht laut werden lassen, ohne Anstoß und Schaden zu verursachen und müßten dieselben doch laut werden lassen, um gehörige Lichtfunken in die dunkle Geburtsstätte des Spaniolenthums zu werfen. Solcher Widerspruch ist schwer zu lösen.

Dagegen bietet die Geschichte unseres Helden Anknüpfungspunkte und Thatsachen in Menge, um mindestens nachzuweisen, wie weit die Entchristlichung aller öffentlichen und gesellschaftlichen Zustände, die Protestantisirung des katholischen Volkes gedieh und wie namentlich das katholische Erziehungswesen kaum Spuren von christlichem geschweige kirchlichem Geiste an sich trug in einer Zeit—welche in manchen Gegenden noch nicht zur Vergangenheit geworden. Gegenwärtig, wo es Tausenden einleuchtet, wohin die Entchristlichung der Völker und die Protestantisirung katholischer Christen führe und wo aus den Denkschriften der Oberhirten der oberrheinischen Kirchenprovinz ein Wächterruf des Himmels an sämmtliche Dusler unter dem Monde erklingt, da wird es Pflicht, alle Kraft aufzubieten, um einer bessern Zukunft eine Gasse machen zu helfen.

Die Geschichte des Spaniolen enthält Thatsachen genug dafür, wie es lange Jahre namenlich mit dem Erziehungswesen in einem Lande aussah, von dessen Bewohnern zwei Drittheile katholisch getauft worden. Wir wählen diejenigen heraus, für welche wir im Nothfalle einstehen können, sei es, daß wir mit Andern Aehnliches oder ganz Gleiches erlebten oder Beweise beizubringen vermögen. Erkenntniß der Fehler ist der Anfang zum Besserwerden. Nebenbei soll Anderes, wenn auch nur flüchtig berührt werden, was darauf hinzielt, dem Staate und der Kirche mindestens mit gutem Willen beizuspringen und wenn dieser oder jener Punkt katholisch getaufte Museumslazzaroni, Gänsekielimperatoren, Säbelbedienstete, Volksbildner und Kleinbubenprofessoren, Kammerzeuse und andere Giganten der Aufklärung und Bildung ärgert oder in gelinde Wuth versetzt, so wissen wir keinen bessern Rath, als daß diese Herren das Buch mit fachgemäßer Entrüstung an die Wand werfen, den Spaniolen für einen pechschwarzen Demokraten und seinen Briefsteller für alles Mögliche halten, was ihnen just einfällt und beliebt.

Heilsamen Verdruß unter Namenchristen zu erregen, halten wir für großes Verdienst.

Drittens endlich ist die Geschichte des Spaniolen eine sehr traurige. Nun kann man zwar dem Schmerz eine Schellenkappe aufsetzen und in Trauermusik recht freundliche und lustige Stellen einflechten, zudem hat der Held über seine eigene Geschichte genug gelacht und es dauerte gewaltig lange, bis er zur Einsicht kam, seine Geschichte sei Eine zum Weinen—doch es gibt Schmerzen und Musiken, die sich mit Schellenkappen nicht vertragen und wo aus dem lustigen Aufjauchzen das tiefe innere Wehe nur noch herber heraustönt und der Spaniol ist ein ernster Christenmensch geworden, der nur mit einer ernsten Lebensbeschreibung zufrieden sein könnte. Damit nun vorliegende Briefe und der Schluß der Zuchthausgeschichten nicht gar zu traurig ausfallen, sind dieselben aus der Zeit genommen, wo der Held derselben nicht mehr in der Zelle zu B. und nicht mehr in dem engen, schwülen Kerker ungläubigen Aberglaubens seufzte, sondern wiederum den Wanderstab ergriffen hatte und wenn nicht im Himmel des Kinderglaubens, doch im Vorparadiese eines durch Nachdenken und Gebet neuerrungenen Glaubens an Christum den Gottessohn und die menschheiterlösende Mission der Weltkirche Jesu Christi weilte. Was den Inhalt der Briefe betrifft, so verhalten wir uns zu denselben wie ein guter Rathsherr zu den Ansichten seines Bürgermeisters. Wir nicken abwechselnd Ja und rufen: Einverstanden!

I.

—Es ist ein sonderbares Gefühl, wenn man eine lange Reihe von Monden keinen Schritt ohne Ordre und Wächter thun darf, eingezwängt in den eintönigen Gang einer unerbittlichen Hausordnung und in den kleinen Raum von 8 Schritten Länge und 4 Schritten Breite, welchen eine Zelle einnimmt. Freilich gewöhnt sich der Mensch daran, eine Art Maschine zu werden und das eigene Wollen mehr oder minder aufzugeben; die anfangs beengende Zelle erweitert sich allmählig und wird aus einem öden Behälter zum freundlichen Stübchen, in welchem man sehr glückliche Stunden zu leben vermag—doch wie viele düstere und wildbewegte Tage, wie viele bange und verzweiflungsvolle Nächte muß man durchleben, bis es so weit kommt, einen Schimmer äußern Glückes zu genießen! Wie Alpdruck lastet die Einsamkeit auf dem Gemüthe und erdrückt jede frohe Regung in den ersten Monden der Haft. Später kommt das Nachsinnen und Nachbrüten, die Zelle bevölkert sich mit alten Gestalten der Vergangenheit, sie weisen die Schuld unserer Leiden von sich ab und auf uns selbst, der Teufel und der Engel in uns beginnen ihre geheimnißvolle Zwiesprache und diese Zwiesprache steigert sich zum folternden, herzzerreißenden Streit und verzweiflungsvollen Kampfe. Unentschieden wogte in mir der Kampf und Streit, erst am Ende des zweiten Jahres wurden die Stunden seltener, in denen der Böse mir gräßliche Gedanken, finstere Entschlüsse, blutige Hoffnungen in die Ohren flüsterte und ich tagelang der Gesellschaft Jenes mich erfreute, der Allen Alles werden kann und soll und im Grunde der einzige wahre Freund bleibt, welchen der Mensch auf dieser Welt zu erwerben vermag.

Wo Er weilt, herrscht Friede und Seligkeit, wo Er fehlt, Unruhe und Qual. Dies ist in allen Menschenwohnungen der Fall, doch der Zellengefangene empfindet es lebhafter als jeder Andere, weil ihm die zahllosen Zerstreuungen fehlen, durch welche die Freien das bange Herz in süße Gedankenlosigkeit einwiegen.

Die Freien, welche Ironie!—Die äußere Freiheit bleibt für den Herrn des größten Thrones und für den Bürger der freiesten Republik leerer Schein, hohle Redensart, wo die innere fehlt. Es gab und gibt wohl noch Könige, abhängiger und elender als der verlassenste Bettler ihres Reiches, und Gefangene, freier und glücklicher als die Gesetzgeber des freiesten Staates. Innere Freiheit ist die Quelle der äußern. Ein Volk, unter welchem viele innerlich Freie sich befinden, kann keine schlechte Regierung haben und von vornherein niemals in die scheinbare oder wirkliche Notwendigkeit versetzt werden, sich gegen dieselbe aufzulehnen und zu empören. Revolutionen sind Zeugnisse für tiefgehende Krankheiten der Völker und Folgen unbehaglicher Zustände, welche durch die Krankheiten ins Leben gerufen wurden.

Und krank, sterbenskrank ist unsere Zeit; sie liegt darnieder am Mangel an innerer Freiheit, näher am Mangel an positiver Religion und am Ueberflusse an einem Heidenthum, das weit ärger ist als das alte, weil man es kein unbewußtes und argloses nennen darf. Es strebt den ganzen Organismus des Staatslebens und der Gesellschaft zu vergiften und hätte denselben seit 300 Jahren schon mehr als dreimal vergiftet und ertödtet, wenn nicht die Kirche gegen alle Angriffe und Verfolgungen kirchlicher und politischer Revolutionen Stand gehalten hätte.

Doch—ich gerathe wieder auf Dinge, von welchen ich mindestens diesmal nicht reden wollte. Es ergeht mir wie alten Soldaten und den meisten Fachmenschen, welche jahraus jahrein von ihren Feldzügen und Geschäften reden und unwillkürlich immer wieder darauf gerathen, ob sie wollen oder nicht. Sollte ich mich entschuldigen, so wüßte ich nichts anzuführen, als daß ich eben leider ein entschiedener und im Kampfe nicht unerfahrener Soldat des Heidenthums gewesen und dadurch zum Verbrecher geworden bin.

Mein Herz zittert, sobald ich länger bei diesen Erinnerungen verweile. Sie liegen hinter mir als ein langer, banger Fiebertraum voll von gräßlichen Gestalten, drohenden Gefahren und niederschmetternden Erinnerungen. Ich weiß, daß du mir verzeihest und Dank weißt, wenn ich später über die Nachtseiten meines Lebens rasch hinwegeile. Es geschieht nicht, weil ich mich des Bekenntnisses, sondern weil ich mich meiner Verirrungen und Sünden schäme—mich selbst verachten und Gottes Barmherzigkeit anstaunen muß, der einen Unhold meiner Art zu sich rufen und aus einer Art moralischem Ungeheuer, dessen größte Tugend im Stolze auf seine Ungeheuerlichkeit bestand, wiederum zu einem Menschen, zu einem Christen werden ließ. Er würde es wohl nicht gethan und als gerechter Gott mich den Folgen meiner Unthaten überlassen haben, wenn nicht Er am besten gewußt hätte, daß weniger Selbstsucht als verwundete und verkehrte Liebe für meine Mitmenschen und nicht Bosheit, sondern frühgenährte Eitelkeit des Herzens mich auf einem Wege forttrieben, auf welchen ich mich nicht selbst brachte, sondern als Kind darauf gebracht wurde.

—Ja, einen großen Theil meiner Schuld schiebe ich keineswegs mit dem höflichen Dichter den Gestirnen zu, sondern muß und darf meine Eltern, Lehrer und die Gesellschaft überhaupt dafür verantwortlich machen. Dabei vergesse ich nicht, daß Eltern unter allen Umständen Eltern bleiben und daß die meinigen hinsichtlich ihrer natürlichen Gaben und thätigen Liebe für uns Kinder vortreffliche Menschen waren. Ich muß dieselben mit mir beklagen und nicht minder meine Lehrer, welche als Söhne und Träger der Bildung einer dem positiven Christenthum abholden und feindseligen Zeit eben auch zu dem gemacht worden waren, was sie aus mir und meinen Mitschülern machten: Namenkatholiken, Unchristen, Heiden.

Man sollte vermeinen, Eltern und Lehrer in christlichen Staaten erachteten es für die erste Pflicht, junge Seelen Christum kennen und lieben zu lehren, die Glaubenssätze und Gebräuche der Kirche so gründlich als möglich zu erklären und denselben handelnde Christen in ihrer Person zu zeigen. Solch heilige Pflicht wäre nicht allzuschwer zu erfüllen. Das Kind faßt Christum, weil sein Gemüth reine Liebe begreift und die natürliche Liebe, welche es für seine Ernährer und Lehrer empfindet, bildet die Uebergangsbrücke der übernatürlichen Liebe zum Himmlischen und Göttlichen. Ferner wären dogmatische Auseinandersetzungen für Kinder zwar unnütz, denn das Kind zweifelt nicht, sondern glaubt und vertraut und der erstarkende Verstand entwickelt mit der Zeit aus dem lebendigen Glauben an den Gottessohn alle Glaubenssätze als bloße Folgerungen aus jenem Glauben von selbst, doch eine oft wiederholte Erklärung aller Gebräuche der Kirche, in deren kleinsten eine unendlich tiefe Bedeutung liegt, sollte eben so sehr zur Obliegenheit der Eltern als der Lehrer werden. Endlich sind die meisten Erzählungen vom Leben der einzigächten Helden der Menschheit, der Helden des sittlichen Willens, nämlich der Heiligen für jedes Kinderherz so verständlich, anziehend und rührend, daß in keinem Hause eine Legendensammlung fehlen und nirgends dieselbe bestäubt in einem Winkel liegen sollte. Zuletzt liegt in der Befolgung der Vorschriften unserer Religion der ächte Stein der Weisen, das Geheimniß des zeitlichen und ewigen Glückes und wenn Eltern und Lehrer nicht einmal an ihre Kinder und Schüler, sondern nur an sich selbst und ihren handgreiflichen Nutzen, nicht an das Jenseits, sondern nur an den Augenblick und das Irdische dächten, würden sie darnach streben, ihren Kindern handelnde Christenmenschen zu zeigen, durch eigenes Beispiel zur Nachahmung reizen und an das Gute gewöhnen.

Zu all diesem gehört keine besondere Gelehrsamkeit, es kostet nicht viele Zeit und würde eher zu Ersparnissen als zu Ausgaben verhelfen.

Allein wie sieht es in protestantischen und katholischen Familien und Schulen mit der Pflege des Christenthums aus?

Gibst du nur den einzigen Satz zu, daß ein Christenthum ohne einen Gottessohn ein leeres Gerede sei, hinter welchem sich ein mit christlich klingenden Redensarten verbrämtes Heidenthum breit macht, so wird den Satz Niemand umstoßen können, daß bei weitem in den meisten Häusern und Schulstuben das heranwachsende Geschlecht zu Heiden statt zu Christen und weit eher für Wirthshäuser, Spitäler, Irrenanstalten und Gefängnisse denn für ein glückliches Familienleben, weil für die Kirche und den Himmel herangezogen werde.

Ich bin ein trauriges Beispiel dafür geworden. So wenig meine Erziehung in Haus und Schule einigen Antheil am Verdienste meiner Rückkehr zum Glauben besitzt, ebensowenig verhindert sie bei vielen Tausenden, daß diese werden, was aus mir, dem Liebling der Eltern und Lehrer, geworden.

Pietät verbietet mir, meine leiblichen Eltern von einer ungünstigen Seite zu schildern. Kinder ihrer Zeit und Opfer der Weisheit der Zeit, trug Alles, was angeborne Herzensgüte des Vaters und Sanftmuth der Mutter, günstige Lebensverhältnisse und erfahrne Weltklugheit bei ihnen vermochten, nicht genug zu einem dauerhaften häuslichen Glücke, wenig zum Gedeihen der menschlichen Gesellschaft und noch weniger dazu bei, denselben in der Todesstunde Trost und in den Augen Gottes besonderes Ansehen zu verschaffen. Und meine Eltern gehörten nicht nur zu den angesehensten und gebildetsten, sondern in der That zu den edelsten Persönlichkeiten meiner Vaterstadt, wie meine Lehrer zu den kenntnißvollsten und besten des Landes.

Der Vater war Arzt; ein religiös gesinnter Arzt ist wohl heute noch so selten denn ein gläubiger Jurist, ein frommer Lieutenant oder ein gottbegeisterter Handlungsreisender. Er besuchte die Kirche nur am Geburtsfeste des Landesherrn und galt als feiner, aufgeklärter Kopf, der wenig redete und mindestens vor uns Kindern niemals gegen die Religion und selten genen [gegen] diesen oder jenen Geistlichen zu Felde zog. Er überließ das Beten, Kirchengehen und die religiöse Erziehung seiner Kinder der Mutter und den Lehrern. Diese glaubte aufrichtig an einen Gott, aber weder an den Jehova des alten noch an den dreieinigen des neuen Bundes, sondern an den Gott innerhalb der Grenzen der Vernunft, an den des Zeitgeistes, der seine Bibel in den "Stunden der Andacht" gefunden. Er spielt in der Geschichte unseres Geschlechtes und im Leben des einzelnen Menschen genau dieselbe Rolle, wie ein gutherziger Onkel oder schwacher Vater irgend eines Theaterstückes, worin ein leichtsinniger Sohn oder Neffe einen dummen und schlechten Streich nach dem andern macht, den guten Alten auf jede beliebige Weise ärgert und quält und am Ende von allerlei Noth getrieben liebend und vertrauend in die stets ausgebreiteten Arme des Gerührten sinkt.

Man könnte diesen Gott den absoluten Heli nennen, der so oft vom Stuhle fällt und stirbt als es dem Menschen beliebt gegen den Willen desselben zu handeln.

Meine Mutter glaubte auch an Christum und würde Straußens mythische Nebelgestalt oder gar Daumers Menschenfresser mit Abscheu zurückgewiesen haben—aber ihr Christus war nur ein liebenswürdiger, großer Wohlthäter des Menschengeschlechts, den die gottlosen Juden peinigten und kreuzigten, weil eben Juden nichts von Weisheit, sondern nur das Geldzählen und Dukatenbeschneiden verstanden und schon damals Jeden der Ihrigen verfolgten, der für die benachbarten Gojims ein zu lautes Wort einlegte. Daß das Menschengeschlecht wegen des unschuldigen Apfelbisses in Ungnade gefallen, blieb ihr so unbegreiflich als die Nothwendigkeit, daß sich ein Schuldloser für das Menschengeschlecht mit Erfolg opferte.

Der Gedanke, daß Gottes eigener Sohn auf dieses armselige, winzige Erdenpünktlein herabgestiegen sei, um sich zum Schlusse eines armseligen und verfolgten Lebens als ohnmächtiger Mensch kreuzigen zu lassen, erschien ihr bald lächerlich bald empörend, je nachdem sie gerade gestimmt war. Es läßt sich begreifen, daß von einem heiligen Geist, der einst als einfältige Taube am Jordan herumgeflogen, bei meiner Mutter so wenig die Rede sein konnte als von der wahrhaften, wirklichen und wesentlichen Gegenwart Christi im heiligen Abendmahl. Sie fand wohl Geist in den Gedichten Schillers und Anderer, am wenigsten aber in geistlosen Catechismen und das heilige Abendmahl galt ihr als eine Art von Zweckessen, als Erinnerungsfeier an einen tüchtigen Volksmann. Natürlich vermochte sie in der katholischen Kirche, der sie mit Leib und Seele anzugehören vermeinte, weder eine vom heiligen Geist geleitete göttliche Einrichtung noch den fortgesetzten Christus zu erblicken. Die Kirche galt ihr einfach als menschliche, politisch nützliche und kluge Einrichtung und an die Stellvertretung Gottes im Priesterstand glaubte sie um so weniger, je mehr Bücher über die Gräuel des Mittelalters sie verschlang und je mehr Erzählungen vom starkmenschlichen Wandel vieler Geistlichen im Schwange gingen.

Sie betete und ging zur Kirche sowohl aus Bedürfniß als aus Gewohnheit. Das Bedürfniß war genau dasselbe, welches jeden geistig Gesunden ohne Unterschied des Glaubens zum Beten und zur Verehrung eines höchsten Wesens antreibt und über die Gründe ihrer Gewohnheit reiflich nachzudenken, dazu mangelte Anlaß, Lust und Zeit oder Alles zugleich. Aber—hörte sie am Sonntage nicht positives Christenthum von der Kanzel herab verkündigen? Wurden nicht katholische Handlungen vor ihren Augen fast täglich vorgenommen? Mit dem Predigen des positiven Christenthums war es in einer Zeit, wo noch kein Hirscher und Andere den tiefen und innigen Zusammenhang zwischen Dogmatik und Moral auseinandergesetzt hatten, bei der Bevölkerung mancher Pfarrei übel bestellt. Auch in unserer Stadt gab es Geistliche, welche Alles, nur kein positives Christenthum von der Kanzel herab verkündigten. Einzelne predigten im Laufe vieler Jahre immerhin zuweilen auch Glaubenslehren und meine Mutter wußte den Catechismus besser auswendig als ich, denn sie hörte den Kindern manchen Morgen nach dem Frühstück noch geschwind die Lektion des Religionsunterrichtes ab. Allein es stand vollkommmen [vollkommen] im Einklange mit ihren Grundanschauungen, daß sie die Glaubenslehren der katholischen Kirche nur als todte Gedächtnißsache inne hatte und den Unterschied zwischen Katholiken, Protestanten und wohl auch den Juden als Etwas betrachtete, was honetten und gebildeten Leuten unwesentlich, zufällig und gleichgültig erscheinen müsse.

Als ob es eine doppelte Wahrheit geben könne, unterschied sie nämlich eine Religion für Gebildete, welche über allen mittelalterlichen Aberglauben hinaus sein sollten und eine Religion für das gemeine Volk, dessen Leidenschaften durch die zwei größten Beweger des menschlichen Herzens: Furcht und Hoffnung, näher durch die Angst vor Hölle und Fegfeuer und die Aussicht auf die Freuden des Himmels in Schach gehalten werden müßten. Nach ihrer Meinung machten alle Geistlichen insgeheim und in Gegenwart von Honoratioren denselben Unterschied, schwiegen jedoch aus Klugheit auf der Kanzel davon, weil ja gemeines Volk und Gebildete in Einer Kirche saßen. Ersteres mußte gläubig erhalten werden, die Honoratioren wußten schon, woran sie mit dem Geistlichen waren und wählten aus dem Vortrage heraus, was ihren Ansichten entsprach und ihrer Person gerade mundete.

Meine Mutter war eine gute, gescheide Frau, hielt sich ganz ehrlich für eine vortreffliche Katholikin und wurde in der ganzen Stadt dafür gehalten, weil eben in der ganzen Stadt das ewige Evangelium durch das Evangelium der Zeit, der Katholizismus durch den Protestantismus thatsächlich verdrängt worden war.

Ob es heutzutage schon um Vieles hierin besser geworden, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß die Missionen keine fruchtlose Sache, die Jesuiten vortreffliche Prediger sind und daß der Zug der angsterfüllten Zeit bei den Bessern ein lebendiges Wechselverhältniß zwischen Gott und Mensch verlangt, welches nur durch die positive Religion vermittelt wird.

Aus dem Vorhergehenden ist dir nun sicher klar, daß meine und meiner Geschwister früheste religiöse Erziehung uns mit einer für das Leben unfruchtbaren Ehrfurcht vor dem Schöpfer Himmels und der Erde, mit einer nur sinnlichen Liebe für das hübsche Jesuskindlein, mit dem Geiste der Zeit und mit Gleichgültigkeit und frühzeitig genug mit Mißtrauen gegen unsere Kirche erfüllte.

Es wäre gut, versuchte Einer einmal die Schilderung des Lebens in einer honetten und gebildeten Familie, deren Mitglieder gleich uns dem Zeitevangelium huldigten und einer nicht minder honetten und gebildeten Familie, welche Jesum Christum kennt und liebt und in der katholischen Kirche ihn sinnlich schaut. Meine überreiche Erfahrung böte ihm Stoff genug, um alle Dichtung entbehren zu können und das Schriftlein würde vielleicht Einiges beitragen, die große und gefährliche Lüge der Zeit, als ob positive Religion keinen positiven Einfluß auf das Handeln ausübe und deßhalb für das Leben gleichgültig sei, todtschlagen zu helfen. Der Katholizismus hat auf den Trümmern der Römerwelt eine neue und bessere Welt erbaut, aus Barbaren Menschen und aus Bürgern Christen gemacht und wie oder warum oder wann sollte diese weltumgestaltende Religion allen Einfluß auf das Leben eingebüßt haben? Freilich sind durch zahllose Bücher und zeitgemäße Staatsschulden Millionen Katholiken zu inwendigen Protestanten geworden und der Glaube der meisten Protestanten ist von dem der gebildeten Griechen und Römer oder auch der naturwüchsigen Germanen nicht sonderlich verschieden—aber ist dieser Glaube Christenthum? Klingt es nicht wie baarer Unsinn, wenn Heiden uns belehren wollen, das Christenthum übe keinen Einfluß auf ihr Handeln und Leben aus?—

Doch ich schweife bereits wieder ab.

Was das Haus übel macht, soll zunächst von der Volksschule verbessert werden. Wir Kinder wurden daheim zu Helden gemacht; wenn es nicht der Fall gewesen wäre, so würde die von mir besuchte Volksschule ganz dasselbe bewirkt haben.

Ein gescheidter Mann hat einmal geschrieben. "Katholische Jugend in die Hände eines Lehrers geben, der nicht aufrichtig katholisch ist, ist fast ebenso thöricht als den Katholiken in ihrer Kirche durch einen reformirten Geistlichen oder den Juden durch einen Bischof predigen lassen." Keine Behauptung ist einleuchtender als diese. Aber wie stand es mit den Volksschulen überhaupt? Man sollte vermeinen, daß in christlichen Volksschulen alle Lehrgegenstände soviel als nur immer möglich mit dem fleischgewordenen Gottessohn und der Kirche in Beziehung gebracht würden. Nur dann hatte die Vielwisserei, womit man seit einigen Jahrzehnten die Kinder in Stadt und Land vollzustopfen trachtet, auch einigen Sinn und Nutzen. Die Schule wäre eine Ergänzung und Vervollständigung der Kirche und ein Hülfsmittel mehr, dem Volke eine klare, allseitige christliche Welt- und Lebensanschauung beizubringen. Freilich ist das Einmaleins und die Rechenkunst weder christlich noch katholisch, eine vortreffliche Handschrift bleibt etwas Gutes, wenn der Schreiber auch noch so wenig taugt und die Kinderquälerei mit Sprachlehren bliebe eine solche, wenn auch gelegentlich der Satzbildungen, Sprachübung und des Aussatzmachens der Lehrer alle Beispiele aus dem Gebiete des kirchlichen und religiösen Lebens wählte und wählen ließe. Aber wenn einst die Jesuiten es verstanden, jungen Chinesen durch die Geometrie christliche Glaubenssätze wie den der Dreieinigkeit beizubringen, so ließe sich am Ende auch nachweisen, es sei für einen christlichgesinnten Volksschullehrer nichts Schweres, selbst dem Unterrichte im Rechnen und in der Meßkunst eine gewisse religiöse Weihe zu geben. Auch ist unläugbar, daß die Schreibbücher der Schüler keineswegs verunstaltet würden, wenn man neben den Sittensprüchen, Beschreibungen von Thieren und Pflanzen und ähnlichen Dingen etwas positiv Christliches und in katholischen Schulen spezifisch Katholisches fände. Was die Sprachlehren, Naturlehren, Abrisse aus der Geschichte und andere Zweige des Unterrichts betrifft, welche in den Lesebüchern der Volksschulen vorkommen, so verweise ich einfach auf sämmtliche Lehr- und Lesebücher, welche seit der Entstehung unseres Landes in Volksschulen und höhern Bürgerschulen eingeführt waren und frage: wie viele dieser Bücher sind durchweht vom Geiste Christi oder gar von dem der katholischen Kirche?

Du wirst vielleicht nicht ein Einziges finden, dessen Inhalt nicht ganz und gar durchsäuert wäre vom Geiste jener zeitgemäßen Religion, der meine Mutter huldigte und vielleicht mehr als Eines, welches darauf hinarbeitete, Gleichgültigkeit, Mißtrauen und Haß gegen die katholische Kirche, namentlich durch entstellte Geschichte in die Herzen der Jugend zu säen.

Lebte die Gesinnung ächter Katholiken in den Herzen der Volksschullehrer und wären Bücher wie das Lesebuch von Bumüller und Schuster schon zu meiner Zeit in den Händen der Kinder des Volkes gewesen—Fürsten und Regierungen würden sich wohl einen großen Theil jener grausamen Demütigungen, die Völker aber viele Leiden erspart haben, womit sie von Gott besonders seit 1848 heimgesucht wurden.

Leider dauerte die Entchristlichung der Protestanten und die Protestantisirung der Katholiken mehrere Menschenalter bereits in den Volksschulen. Wer aber am allerwenigsten dafür verantwortlich gemacht werden sollte, das ist der Stand der Volksschullehrer, welchem ich selbst längere Zeit angehörte.

Es ist eine wohlfeile Sache, über die Verkommenheit und Haltlosigkeit der "Volksbildner" mancher Gegend zu schimpfen und den "Schulmeisterhochmuth" zu geißeln. Alles hat seine hinreichende Ursache und wer der Quelle nachforscht, aus welchen die Verkommenheit mancher, die Haltlosigkeit vieler und der Hochmuth der meisten Volksschullehrer meiner naheliegenden Zeit entsprang, wird geneigt sein, dieselben weit mehr zu bedauern als anzuklagen. Die Quelle aber ist dieselbe, aus welcher das Unheil der Gegenwart überhaupt geflossen. Mangel an positiver Religion oder, was zuletzt auf Eins herauskommt, an gründlichem Wissen.

Ich muß bei dir den Schulmeisterton anstimmen und in jenen Pedantismus des Schulmeisterthums gerathen, womit Viele gründlich nachzuweisen suchen, daß das Wasser naß und das Feuer heiß sei.

Du weißt so gut als ich, daß große Schulmeister auch einmal kleine Buben gewesen und getaufte Heiden zunächst in Schulbänken für den Zeitgeist herandressirt werden. Schon der Umstand, daß Katholiken, Protestanten und Juden gar oft in Einer Schulbank sitzen, muß den Lehrer nothwendig abhalten, seinem Unterrichte die Färbung eines Glaubensbekenntnisses zu geben. "Ueber den confessionellen Gegensätzen zu stehen," ist sein Verdienst und ein Ziel seiner Ausbildung. Hand aufs Herz gelegt, gestehst du mit mir, das "Stehen über den confessionellen Gegensätzen" sei nichts als eine sinnlose Redensart, insofern man dabei noch von Christenthum und sogar von kirchlicher Gesinnung redet und nicht minder erlogen wohl das Leibsprüchlein der Zeit, daß "die Liebe" keine Unterschiede des Glaubens mache und der Mensch über dem Christen stehe.

Wo ist der Geschichtschreiber oder Staatsmann, von welchem sich sagen ließe, daß er wahrhaftig über allen kirchlichen und religiösen Partheien gestanden, alle gleichmäßig behandelt und sich nicht mehr oder minder entschieden für Eine derselben und gegen alle übrigen jedenfalls thatsächlich erklärt habe? Und wieviel Aufgeklärte hat es von jeher gegeben und gibt es heute, denen die "christliche Liebe" möglich macht, gegen politische und kirchliche Gegner gerecht zu sein und in denselben den gleichberechtigten Menschen zu achten, geschweige zu lieben?

Nein, so wenig es ein Christenthum ohne lebendigen Glauben an Christum den Gottessohn und ohne die von Ihm gestiftete Kirche gibt, so wenig hat auch die "christliche Liebe" diejenigen, welche über allen religiösen und kirchlichen Partheien zu stehen vermeinten, davor bewahrt, gläubige Protestanten und absonderlich die katholische Kirche heidnisch zu hassen und zu verfolgen.

Ist's aber hochgelehrten Professoren und erleuchteten Staatsmännern unmöglich, über der katholischen Kirche zu stehen, ohne zugleich außerhalb und ihr mehr oder minder feindlich gegenüber zu stehen, so sollte man es bei uns dem Lehrerstande nicht allzusehr verübeln, wenn die meisten Mitglieder desselben das positive Christenthum als etwas Geringfügiges betrachten und alles "Pfaffenthum" verabscheuen. Erstens nämlich wurden sie von ihren Eltern oder Lehrern oder von Beiden zugleich von Kindesbeinen an mehr oder minder für das "reine Menschenthum" erzogen; zweitens muß solche Erziehung mit der Zeit oft sehr reichliche Früchte eines unreinen Heidenthums tragen, weil ein Lehrer auch Fleisch hat und bei uns nur zwei Jahre studirt, später wenig Zeit und Gelegenheit und selten Anleitung bekommt, ein Christenmensch zu werden und sich eine gründliche Bildung anzueignen. Er bleibt jedenfalls in der Hauptsache bei dem stehen, was ihm im Seminar beigebracht wurde und wenn es nun die Religion des Zeitgeistes war, womit ihn die Lehrer beglückten, zu deren Füßen er treugläubig und bewunderungsvoll saß, wer kann es ihm verargen, wenn er den Mangel an positiven Glauben für das sicherste Kennzeichen eines gebildeten Mannes hält? Drittens endlich führt ein Volksschullehrer ein an Entbehrungen, Mühsalen und Leiden immer reiches Leben und wenn man das Treiben manches Pfarramtslazzaroni genauer in Augenschein nimmt und mit dem Loose des unter ihm stehenden Lehrers vergleicht, wird man sehr geneigt, die Behauptung, daß die Lehrer zu wenig und die Geistlichen zuviel Einkommen hätten, nicht sowohl demokratisch und revolutionär als richtig und vernünftig zu finden.

Bedenkt man nun, daß der Lehrer im Seminar und durch Schriften mit einer höchst übertriebenen Ansicht von der menschheiterlösenden Bedeutung und der weltbeglückenden Würde seines Berufes, mit Gleichgültigkeit gegen das positive Christenthum und Mißtrauen gegen alles "Pfaffenthum" erfüllt wird, vergißt man nicht, daß manche Pfarrämter und Dekanate sich ihre Langweile damit versüßen, den unchristlich und unkirchlich erzogenen und vielgeplagten Schulmeister kleinlich und boshaft zu schulmeistern und zu quälen, so mag man sich über die Leichtigkeit nicht mehr wundern, womit der Staat im Interesse des "religiösen Friedens" d. h. der Knechtung der Kirche die Schule seit Langem beherrschte und die Jugend für die Staatsreligion, d. h. zunächst für Gleichgültigkeit gegen das positive Christenthum erzog— ohne in ihr die Säugame [Säugamme] des Heidenthums zu ahnen. Ich weiß ein einsames Grab, das an Allerseelen von keiner liebenden Hand geschmückt wird. Darunter liegt ein Schulmeister, der sich eine Kugel durch den Kopf gejagt und einen Zettel zurückgelassen hat, worin er erklärte, er schieße sich todt, weil die "Pfaffen" ihm das Leben unerträglich machten und schieße sich im Himmel abermals todt, sobald er dort seine Quälgeister wiederum treffe. Solche Erklärung charakterisirt den tiefeingewurzelten Haß, welchen Volksschullehrer häufig gegen Geistliche empfinden und ich meine, Schüler dieses Lehrers, welche ihn liebten, seien schwerlich große Freunde der Geistlichkeit geworden.—

—Das Kind denkt mehr mit dem Herzen, als mit dem Kopfe, der Grundton seines Wesens ist Liebe und deßhalb bleibt es auch ein Leichtes, Kindern die Religion der Liebe beizubringen. Doch so wenig ich daheim zum Christen erzogen wurde, so wenig thaten meine Lehrer dafür und am wenigsten der Religionslehrer.

Damals gab es nicht viele Jünglinge, welche innerer Beruf zum geistlichen Stande trieb. Unter den Studirenden widmeten zumeist Solche sich dem Dienste der Kirche, welche zu arm, zu talentlos oder auch zu faul und liederlich waren, um etwas Anderes zu werden. Die geistlichen Professoren der Hochschulen gingen häufig damit um, eine zeitgemäße Theologie zu erfinden, Gottes Wort und Werk nicht sowohl gegen den Witz und Aberwitz der Zeit zu vertheidigen als demselben zu unterwerfen. Die Stellung, in welche die Kirche zum Staate gerathen, zahlreiche Schriften aus den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, das langdauernde Geschrei um Aufhebung der Ehelosigkeit katholischer Geistlicher, skandalöse Vorfälle verschiedener Art, vor Allem die gräuliche Unwissenheit in kirchlichen, die weitgediehene Verkommenheit in sittlichen Angelegenheiten, über deren Vorhandensein bei den untern und mittlern Ständen kein Zweifel mehr herrscht—dies Alles legt Zeugniß ab, welche Eroberungen der glaubensfeindliche Geist der Zeit auch unter dem Klerus gemacht.

Ich mit den meisten meiner Mitschüler darf mich ein Opfer solcher Zustände nennen, insofern wir kaum Einen Religionslehrer kannten, der mit Begeisterung, Liebe und Eifer unsere jungen Seelen für Christum zu gewinnen und uns einiges Verständniß der Lehren, Gebräuche und Einrichtungen der katholischen Kirche beizubringen trachtete. Die einzige Errungenschaft, welche ich aus dem Religionsunterrichte der Volksschule gerettet, beschränkt sich auf die Erinnerung, wie sauer es mir wurde, die unverstandenen Lehren des Catechismus auswendig zu lernen, welch schreckliche Langeweile wir oft in der Kirche und während der Religionsstunde empfanden und mit welcher Angst und Unwissenheit ich zum erstenmal in den Beichtstuhl trat. Mit Angst—weil die Mutter mich überredet hatte, der Beichtvater sehe es Jedem an, der eine Sünde verschweige oder gar lüge und trage ein scharfes Federmesser bei sich, mit welchem er Einem die Zunge stutze. Ich schämte mich meiner Sünden nicht, doch fürchtete ich Eine zu vergessen und ein Stück meiner Zunge im Beichtstuhle zurückzulassen. Mit Unwissenheit—insofern ich der Gnade des Glaubens eigentlich niemals theilhaftig geworden und durch viele Reden der Erwachsenen sowie durch die Wahrnehmung, daß bei meinen ältern Kameraden die Besserung darauf beschränkt blieb, sich einige Tage nach der Beicht vor den Lieblingssünden zu hüten, bereits zum Mißtrauen und Unglauben an diesem heiligen Sakramente gekommen war, bevor ich über das Leben und Treiben der Erwachsenen reiflicher nachdachte. Frühzeitig wurde ich an religiösen und kirchlichen Dingen irre und einer meiner Lehrer hat Namhaftes dazu beigetragen. Mein älterer Bruder nämlich wollte geistlich werden, ein stiller, gemüthlicher Mensch, den die Eltern und wir nur "das Pfäfflein" nannten. Er ging längere Zeit zu einem Vikar, um Latein zu lernen und ich bald mit ihm, denn der Vater hielt große Stücke auf mich, behauptete, ich werde meinem Alter vorauseilen, den Bruder und Alle überflügeln und müsse frühzeitig mit Allem anfangen, was zum Brodkorb führe. Das Versprechen, mich aus der Volksschule wegzunehmen, wenn ich meine lateinischen Regeln und Unregelmäßigkeiten fleißig erlerne, bewirkte Wunder bei mir und bald war ich der ausgemachte Liebling des Vikars. Manchmal unterbrachen Gespräche den Unterricht und einige derselben sind mir unvergeßlich geblieben. Die Behauptungen: es sei besser ein Schuster als ein katholischer Geistlicher zu werden, Rom wolle keine Menschen, sondern Sklaven, Christus sei ein großer Weiser gewesen, aber die Finsterlinge hätten Seine Lehren verunstaltet—tönen mir noch jetzt in den Ohren. Sie fielen mir auf, weil ein Geistlicher sie aussprach. Ich liebte diesen Seelenmörder, der heute noch lebt und zur Rongezeit ein Weib genommen hat.—

Ziemlich einförmig und glücklich verlebte ich meine Kinderjahre, während deren eine im mildesten Ausdrucke höchst mangelhafte religiöse Erziehung den Grund zu Dem legte, was später aus mir geworden ist und wogegen mich ein stürmisches Temperament, ein brennender Ehrgeiz, herbe Erfahrungen und alle Bitterkeiten des Lebens nicht zu bewahren vermochten.

Es ist wahr, meine Geschwister sind so wenig Verbrecher geworden als die meisten meiner Schulkameraden. Doch an meiner Stelle würden sehr Viele ein ganz anderes Schicksal gehabt haben, als dessen sie sich erfreuen. Und ist Einer schon ein brauchbares und nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft, wenn er kein von den Gesetzen verpöntes Verbrechen begeht? Und erfüllt Einer dann schon seine ewige Bestimmung, wenn er seine irdische erfüllt?

Ich will von meinen Geschwistern nichts sagen. Die Art und Weise, wie dieselben gegen mich handelten, hat mir schon lange vor der Freilassung jeden Zweifel benommen, wie es mit ihrer Ehrenhaftigkeit und ihrer christlichen Liebe aussieht. Freilich habe ich wenig gethan, um mir ihre Achtung und Liebe zu erhalten, doch Verfolgung läßt sich kein Christ gegen einen ohnehin gebeugten, armen und wehrlosen Mitmenschen zu Schulden kommen. Schweigen wir darüber, mir wirds, als ob tausend glühende Dolche mein Herz durchbohrten und ohne Halt in Gott müßte ich aufs Neue an den Menschen verzweifeln. Doch Eines noch. Ich stelle an keinen Menschen das Ansinnen, als vollendeter Christ zu handeln, ein Heiliger zu sein, weil ich weiß, wie weit ich noch im Befolgen aller Lehren unseres Herrn und Meisters zurück und wie sehr ich noch im Kampfe mit dem alten, sündhaften Menschen in mir befangen bin. Allein ich glaube in christlichen Landen vom Staate wie von den Einzelnen aufrichtiges Streben, die Grundsätze des Christenthums ins Leben einzuführen, verlangen zu dürfen. Wie es mit diesem Streben im Staate bestellt sei, darüber belehrt schon seine Stellung zur Kirche. Was aber die Christen betrifft, welche ihrem Glauben gemäß zu leben und zu handeln streben, so habe ich in kurzer Zeit genug erfahren, um befürchten zu müssen, ihre Anzahl sei trotz des religiösen Aufschwunges der jüngsten Jahre noch viel zu gering, um großartigen Einfluß auf Umgestaltung öffentlicher Zustände auszuüben und damit jene Gefahr einer furchtbaren sozialen Revolution zu beseitigen, welche wie ein Damoklesschwerdt über unserm Welttheil hängt.

II.

—Du meinst, weil ich selbst ein Schulmeister gewesen, so sei es verzeihlich und begreiflich, daß ich diesen Stand in Schutz nehme, zweifelst jedoch daran, daß in katholischen Lehrerseminaren das Heidenthum gepflegt und gehegt worden sei. Freilich bin ich mit dem Ausdrucke: Heidenthum freigebig, allein wo ich kein positives Christenthum zu entdecken vermag, da kann ich nur Heidenthum erblicken, zumal jener Mischmasch von Religion, als dessen Repräsentantin ich meine Mutter nannte, bei genauer Untersuchung eben doch nur verlarvtes und gerade deßbalb [deßhalb] sehr verführerisches und gefährliches Heidenthum bleibt. Willst du einen schönern Namen dafür, so magst du derartigen Mischmasch etwas sinnlos, doch höflich "Zeitchristenthum" taufen.

Zunächst will ich aber meine Behauptung rechtfertigen, denn einerseits mag ich keine Entschuldigungen für meine Verirrungen beibringen, welche nicht vollkommen gegründet sind und anderseits öffentlichen Anstalten und Männern, denen das Land des Guten viel verdankt, keine Beschuldigung zuschleudern, welche ich nicht verantworten könnte:

Du weißt, daß ich mein Schulmeisterhandwerk unter der Leitung eines katholischen Geistlichen erlernte, gegen dessen wissenschaftliche Tüchtigkeit und ehrenhaften Charakter niemals der leiseste Zweifel obwaltete. Er ist todt und schon die Vorschrift, über Todte nur Gutes zu reden, würde mich bewahren, seine Person unter dem Boden anklagen und verunehren zu wollen, wenn ich ihm auch nicht sehr viel Gutes zu danken hätte.

Sein Andenken ist noch heute Jedem seiner zahlreichen Schüler theuer und ich bin der Letzte, der seine Person verunglimpft. Aber gefährlich und folgenschwer waren die Ansichten und Grundsätze des gefeierten Mannes und nicht mit seiner Person, sondern mit Ansichten und Grundsätzen, von denen er sich beherrschen ließ, habe ich es zu thun.

Wir liebten und verehrten ihn Alle; weil dies der Fall war, so galt uns auch jedes seiner Worte als Evangelium, wir sogen seine Lehren begierig ein, trugen sie nach zwei Jahren in alle Gegenden des Landes und strebten mit Feuereifer darnach, die Herzen des Volkes damit zu erfüllen.

Viele hingeworfene Reden und Winke haften noch jetzt in meinem Gedächtnisse, doch nur einen einzigen Wink will ich hier erwähnen, weil er meines Bedünkens die Ansichten und Grundsätze meines Meisters vortrefflich characterisirt.

Einer von uns stellte einmal die verfängliche Frage, ob denn Christus im heiligen Abendmahl wahrhaft, wesentlich und wirklich gegenwärtig sei und nach einigem Räuspern erfolgte die Antwort:

"Hm, hm! ... Wers glaubt, für den ist Er gegenwärtig, wers nicht glaubt, für den wird Er wohl auch nicht gegenwärtig sein!—"

Was sagst du zu dieser Einen Aeußerung unseres dem katholischen Klerus angehörigen Seminardirectors?—

Er war unser Religionslehrer und die meisten seiner ehemaligen Zuhörer werden noch im Besitze des Heftes sein, welches er als "Einleitung in die Religionslehre" zu dictiren pflegte. Du hast Gelegenheit, ein solches Heft dir jeden Tag zu verschaffen und es ist mir sehr lieb, wenn du dir ein solches bald verschaffst, um dich zu überzeugen, daß Einiges, was ich hierhersetze, keineswegs entstellt, verfälscht oder dem Zusammenhange entrissen wurde, sondern daß die mit sonnenklaren, dürren Worten ausgesprochenen Ansichten meines Meisters darin enthalten seien.

Er läugnet einen persönlichen Gott; Gott ist ihm ein "allen Geschöpfen innewohnendes, gestaltloses, raumfreies, zeitloses, somit unendliches, allgegenwärtiges ewiges Wesen, dessen Wirksamkeit keine Grenzen kennt." Der Sündenfall wird auf eine Weise erklärt, welche sich nicht mit dem christlichen, geschweige mit dem katholischen Bewußtsein vereinbaren läßt und vom Teufel wissen und lehren die Menschen Nichts, bis sie der Gegensatz nützlicher und schädlicher Geschöpfe auf den Gedanken einer bösen, durch Opfer zu versöhnenden Gottheit bringt, Erlösung ist Rückkehr zu Gott und "vollkommen zurückgekehrt zu Gott war Christus, in welchem Gott dem Geiste nach wiedergeboren und welcher der Urheber des neuen Lebens der Menschen in Gott wurde." Christi Reich ist das der Liebe und "das volle Gegentheil dessen, was Menschenrecht und Menschensatzungen gegründet haben." In ihm ist gar keine äußere Macht, kein Zwang, keine Furcht und Knechtschaft.

Die Bibel hat den hohen Werth, "daß wir unser Leben mit dem der ersten Christen vergleichen können; zudem erfüllen uns die Schriften der Bibel wie andere gute Bücher mit ihrem Leben."

Hinsichtlich der Dreieinigkeit Gottes wird ausdrücklich hervorgehoben, "daß wir die Offenbarungen Gottes in den Geschöpfen auf dreifache Weise wahrnehmen und dadurch angeleitet werden, Gott bald den Vater, bald den Sohn, bald den Geist zu nennen. Das gemeinsame Wesen aller Geschöpfe ist das Wesen Gottes. Insofern wir Gott als Wesen in uns und in allen anderen Geschöpfen betrachten, so nennen wir ihn Gott den Sohn. Insofern Er uns durch die Stimme des Gewissens und durch andere Geschöpfe die rechte Erkenntniß wiederum einflößt, so nennen wir ihn Gott den Geist.["]—Je mehr der Mensch auf die angenehmen Gefühle verzichtet, welche der Genuß des Irdischen gewährt, desto mehr bestimmt Gott die Dinge durch ihn und desto vollkommener und herrlicher entfaltet sich sein innerstes Wesen; der Tod führt die Lebendigen zur Selbstständigkeit, indem Kinder nach dem Tode der Eltern und Lehrer sich selbst überlassen sind und schon vorher wissen, daß Eltern und Lehrer sterben müssen, somit auf ihre künftige Lage sich vorbereiten können; das Wesen der Eltern und Lehrer aber lebt und wirkt in den Ueberlebenden fort, der Tod bringt in den Menschen die Erkenntniß hervor, daß der Mensch aus einem irdischen und vergänglichen und aus einem geistigen und fortwirkenden Wesen bestehe und endlich, daß der Geist viel stärker auf Andere einwirke, wenn die Einwirkung nicht mehr durch den Leib, sondern unmittelbar geschieht. Dies Alles gibt Hoffnung auf Unsterblichkeit.—Von Jesu Gottheit wurden die Jünger überzeugt, weil er erstens durch den Ausdruck seines Willens aus Nichts Etwas, aus dem Tode Leben erschuf, zweitens durch sein Thun und Lassen den sündigen Menschen ein ganz neues Leben offenbarte, vor Allem durch sittliches, reinmenschliches Leben das Reich Gottes begründete und die ewigen Gesetze dieses Reiches öffentlich lehrte, drittens endlich, weil er Geist und Leben in die Erstorbenheit der äußern, besonders der religiösen Gebräuche zu bringen suchte und unverbesserliche Gebräuche unterließ, um anzuzeigen, das Reich Gottes gehe nicht von Werken des Gesetzes, sondern vom Geist der Wahrheit und Liebe aus.— Todtenerscheinungen sind das Ergebniß lebhafter Erinnerungen an Verstorbene, besonders an Solche, denen wir Unrecht gethan haben. Erinnerung und Besinnung können so lebhaft werden, daß wir die Bilder in uns in die wirklichen Gegenstände hineindenken. Weil Erinnerung und Besinnung nur theilweise von unserm Willen abhängen, sind Todtenerscheinungen "auch dann ein Werk Gottes, wenn sie von einer krankhaften Phantasie herkommen, denn Krankheiten sind ja auch Gottes Werk. Allein welche Einwirkungen Todtenerscheinungen auch in unserm Geiste hervorbringen, so haben sie doch keine zwingende Macht über unsern Willen!"—

Nachdem statt über Christi Auferstehung über Todtenerscheinungen belehrt worden, wird gezweifelt, ob die Erde zu einer bestimmten Zeit erschaffen wurde und gezeigt, daß die Welt kein Ende haben könne, weil Gott in ihr lebt. "Wie das Bild der Sonne in Millionen Tropfen glänzt und wir das Gemeinsame einer Gattung in allen Arten und Individuen wahrnehmen, so schauen wir Gott in allen Dingen."—Gottes Wesen offenbart sich in allen Wesen, alle haben Antheil daran und deßhalb ist auch jedes Einzelwesen unvergänglich, d. h. ["]Gottes Wesen offenbart sich in jedem einzelnen Geschöpfe durch unendliche Entwicklung desselben, wenngleich auf eigenthümliche Weise, doch ganz und ungetrübt."—Wir haben eine Entfaltung ins Unendliche, wobei unser Wesen fortbesteht, während die Gestalt sich fortwährend verwandelt. Der Mensch scheint vor der Geburt ein ganz anderer zu sein als nach derselben, auffallend ist der Unterschied in der Entwicklung des Menschen, ehe und wann er sprechen kann und "ähnlich wird der Mensch durch den Tod zu einem dem irdischen Dasein vollkommen entgegengesetzten Leben geboren."—Alle Geschöpfe nehmen an der Ewigkeit Gottes Antheil, insofern sie unsterblich sind d. h. ins Unendliche sich fortentwickeln.

—Das Christenthum will alles nicht von Gott Stammende zerstören und ist nicht gekommen den Frieden, sondern Entzweiung und Kampf mit der Selbstsucht zu bringen. "Es baut keine Altäre und Tempel aus Stein, kennt nur Einen Altar. Des Menschen Herz und sein Tempel ist dort, wo Menschen sind und einander Liebe erweisen."—Ich will es abermals Dir überlassen zu beurtheilen, ob durch eine solche Einleitung in die Religionslehre die künftigen Lehrer des katholischen Volkes für ihren Glauben und ihre Kirche begeistert wurden oder ob mein Vorwurf ein gerechter gewesen.

Daß der mündliche Unterricht minder abgemessen und vorsichtig mit Redensarten und Winken gewesen, versteht sich wohl selbst. Die Religionsstunde überzeugte uns davon, daß wir recht eigentlich kleine Götter, Bruchtheile des göttlichen Wesens seien und welchen Eindruck solche Erleuchtung auf Jünglinge machte, bei denen Ehrgeiz und Weltschmerz schon in Folge äußerer Lebensverhältnisse zum Grundton des Gemüthes werden mußten, ist keineswegs schwer abzusehen.

Wir bekamen Ideale, es ist wahr, doch wir bekamen sie auf Kosten unserer Zufriedenheit mit Gott, Welt und Menschen, weil keine christliche Weltanschauung uns mit der tiefen Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit versöhnte, kein lebendiger Glaube uns mit jener Ruhe und Geduld ausrüstete, mit welcher die unideellen Verhältnisse des Lebens der Völker und die des Lehrerstandes insbesondere hingenommen werden müssen.

Man machte uns zu Königen und Bettlern, Titanen und Zwergen zugleich und wenn beschränkte Köpfe und manche altkluge Jungen unter uns zu nüchternen Ehrenmännern, d.h. zu Philistern wurden, welche außer ihrem persönlichen Vortheil nichts Höheres kannten, so blieben gerade die fähigern Köpfe und feurigen Charaktere vielerlei Verirrungen am meisten ausgesetzt.

Soll ich Namen und Thatsachen bringen?

Du hast seit vielen Jahren Gelegenheit, viele Städte und Dörfer zu besuchen und der Einwohner Sinn zu erkunden, hast ferner zur Rongezeit und während der Revolution eine ziemlich unpartheiische Brille aufgehabt und kennst sehr viele Volksschullehrer persönlich, deßhalb brauche ich keine Namen und Thatsachen, zumal Namen wenig zur Sache thun und sprechende Thatsachen genug bekannt sind.

In der Regel wird der Jüngling das, was man aus ihm macht und lange Zeit hat man Alles gethan, um statt bescheidenen und glücklichen Lehrern der Kinderwelt innerlich zerrissene und unglückliche Hochmuthsnarren in die Schulstuben des Landes zu entsenden.

Beweise!—

Dieselben liegen schon in der Einleitung zur Religionslehre, Du sollst jedoch noch bessere haben, nämlich die Ansichten unseres Seminardirectors über die unnahbare Würde und welterleuchtende Bestimmung des Schulmeisterthums. Damit Du abermals siehst, daß ich gewissenhaft handele, sende ich Dir beiliegenden Aufsatz meines Meisters, welcher "der Schule Wesen und Gliederung" erklärt und seiner Zeit durch Guttenbergs Kunst der Vergessenheit entrissen wurde.

[Der] "Der Zweck der Erziehung ist Entfaltung derjenigen Kräfte, welche den Menschen in Stand setzen, in allen Richtungen des Lebens sich selbst zu beherrschen und zum Handeln zu bestimmen. Sie soll den Menschen zum Ebenbild Gottes machen. Die Ebenbildlichkeit mit Gott besteht aber darin, 1) daß er ein einfaches, untheilbares, unveränderliches, aus und für sich begehendes Wesen ist, "das sich aus sich selbst hervorbringt wie Gott die Welt aus Nichts, d.h. aus sich selbst erschaffen hat." 2) Daß insbesondere das aus ihm Hervorgebrachte in demselben Verhältnisse zu ihm stehe, in dem er sich zu Gott befindet. 3) Endlich daß der Mensch Alles, was er Wahres, Schönes und Gutes hat, nur als eine göttliche Geschichte und als etwas Geschichtliches habe.—Von Pestalozzi wird gesagt. "Das Erlösende und Heiligende seiner Methode stammt nicht von seinem Fleische, es ist eine Offenbarung Gottes, die ihm geworden und sein Verdienst, daß er uns dieselbe nicht als sein sondern als Gottes Werk gab. Die Schulmeister vor Pestalozzi sündigten zumeist dadurch, daß sie in ihren Systemen und Lehrmeinungen nur sich seldst [selbst] gaben und uns nicht zu Gott, sondern zu sich selbst zu erheben trachteten, Pestalozzi dagegen zeigte uns nicht seine Person, sondern die Wahrheit.—Wie die Göttlichkeit der Lehre Jesu nur von deren Befolgern laut Joh. 7,17 erkannt wird, so Pestalozzis Methode nur von dem, dessen Geist durch sie gebildet wurde.—Wie die Pharisäer auf dem Stuhle Mosis streng nach dem Gesetze lehrten und das Gesetz nicht selbst erfüllten sondern übertünchten, so lehrt der Sinnlichgesinnte, daß wir aus Liebe zum Vater unsern Brüdern auch nicht im Innern zürnen und schon den unreinen Begierden widerstehen sollen, während er im eigenen Busen voll Zorn die Verkünder der Offenbarung des Geistes, der Alles durchschaut (I. Kor. 2,10) zum Ingrimm und zur Verfolgung gegen die aufreizt, welche Gott als lebendige Werkzeuge erkiesen hat, Zeugniß von seinem eigenen Sohne zu geben."—Den Sinnlichgesinnten, welche sich vermessen, Feindesliebe und Widerstand gegen böse Begierden zu predigen, werden noch mehrere Bibelstellen entgegengeschleudert, dann die Entstehung der Sprache u.s.w. erklärt und das fünffache Leben des Einzelnen und der Gesammtheit zusammengestellt. Um der Kürze willen soll diese Zusammenstellung hier stehen:

Einzelleben = Gesammtleben
Individuum = Familie           
        Leib—Person—Seele = Gewerbstand—Staat—Kirche
Geist = Schule  

Erläuternd heißt es: "Wir bezeichnen mit den Worten Seele und Geist zwei durchaus verschiedene Wesen, Geist bedeutet uns nicht bloß ein höheres Seelenleben, sondern Seele und Geist sind zwei einander entgegengesetzte Offenbarungen des einen Lebens. Unter Seele verstehen wir diejenigen Lebensfunctionen, durch welche das Individuum nach seiner Schöpfung mit Gott verbunden ist und ewig verbunden d. h. von ihm abhängig bleibt. Ueber die Art und Weise der Verbindung gibt der Begriff von Idee Aufschluß, welche vor unsern Augen Factum wird und der von Gattung, der den Millionen Individuen ungetrübt innewohnt und zwischen ihnen Wechselwirkung und Verbindung möglich macht. Die Seele ist Gott im Menschen, jedoch so, daß Gott vollkommen und ohne Veränderung seines Wesens außer dem Menschen und für sich besteht." Folgt nun eine Abweisung jener kalten und finstern Religionslehre, welche Gottes selbstständiges Dasein nicht erkennt und, da ihr Alles Eins ist, jeden höhern Aufschwung unmöglich macht und als wissenschaftliches System die Jugend zu der Vermessenheit verleitet, Alles, was Andere auf andern Wegen wissen und glauben nur als Irrthum, Täuschung, Verstandesschwäche, sowie alles Leben und alle Veränderung als leeren Schein und diesen selbst als eiserne Nothwendigkeit zu erklären.

Welche kalte und finstere Religion unter diesem "Pantheismus" gemeint sei, darüber blieb uns jungen Leuten, die wir Nichts von Philosophie verstanden und manches dicke Buch über die Gräuel des Mittelalters gelesen, um so weniger ein Zweifel, weil unser Direktor die vorgeblichen Verderber der Religion der Liebe nicht—liebte.

Weil die Kirche die Seele, die Schule aber den Geist repräsentirt, mag Folgendes Dir im Gedächtnisse bleiben: "Auch das Wesen von Geist und Person ist nicht scharf bestimmt und gesondert. Wir halten die Person nicht für etwas Vergängliches, sondern für den Höhepunkt des Lebens der Einzelnen. Person ist der sich selbst erkennende und bestimmende Geist, der in sich gekehrte Geist, wodurch der Mensch erst Mittelpunkt und Bestand aus und durch sich selbst erlangt. Der Person ist unmittelbar der Geist und durch diesen Leib, Seele und Individuum untergeordnet. In der Person vollendet sich die Offenbarung Gottes im Menschen. Daher lernt der Mensch Gott nur von Innen kennen und nur durch diese Kenntniß entsteht das Bestreben, durch ins Unendliche fortlaufende Vervollkommnung Gott immer ähnlicher zu werden."

Die Schule soll dem Vermögen des Menschen, das Vervollkommnende in sich aufzunehmen, die Erkenntniß geben und den fünferlei Gegenständen der Erkenntniß—individuelles Leben, Leib, Seele, Geist, persönliches Leben entsprechen fünferlei Schulen, nämlich Volksschule, Industrieschule, Gelehrtenschule, Akademie mit gelehrten Gesellschaften, endlich der Erziehungs- oder Schulrath oder das Kulturministerium, welches, das persönliche Leben des Einzelnen und der Gesammtheit erkennend, das Dominium über die andern Schulen ausübt. Die Volksschule soll die Individualität des Geistes entfalten und hat 3 Stufen, nämlich die Kleinkinderschule, Elementar- und Realschule.

Die Elementarschule "soll wie alle Schulen vorzüglich den Geist in Anspruch nehmen und die übrigen Richtungen des Lebens ihren Zwecken unterordnen." Ihre Lehrgegenstände sind Sprachlehre und Gesang, Formen-, Größen-, Zeichnungs-, Schreib- und Leselehre und Kenntniß der Zahlenlehre.

Die Realschule bringt dem Geiste sein Selbst zum Bewußtsein und die Industrieschule sammt den 3 Stufen der Gelehrtenschule (Gymnasium, Lyzeum, Hoch- oder Berufsschule) soll vor Allem das Nützliche ins Auge fassen, wozu die Religion nicht gezählt wird, die erst in der theologischen Fakultät ein eben nicht behagliches Plätzlein findet.

Die Hoch- oder Berufsschule nämlich zählt fünf Fakultäten, deren jede ihre eigene Literatur und Geschichte derselben hat.

Die erste Fakultät ist die allen Gelehrtenständen gemeinsame, etwa der philosophischen unserer Universitäten entsprechend und die zweite die medizinische, welcher nachgerühmt wird, daß "sie sich am meisten ihrer Idee gemäß gestaltet habe."

Die theologische Fakultät hat das Seelenleben zu ihrem Gegenstande und folgende Disciplinen: a) Lehre vom Wesen und der natürlichen Entwicklung der Seele, b) von der Pflege und Bildung der Seele, c) Lehre von der Entstehung und den Arten der Seelenkrankheiten nebst d) der Heilung derselben, theoretisch und praktisch. e) Lehre vom Einfluß der 4 andern Lebenserscheinungen auf das Seelenleben und vom Verhältniß der theologischen zu den übrigen Wissenschaften, endlich f) Lehre von der Bestimmung des Theologen und vom Verhältniß des geistlichen Standes zu den übrigen Ständen. Findet man dieses von einem katholischen Geistlichen gehegte und den künftigen Lehrern des Volkes eingeimpfte Idol einer theologischen Fakultät merkwürdig, sobald man nicht etwa auf dem Standpunkte Feuerbachs steht, so fanden wir herzstärkend und begeisternd Alles, was über die vierte und wohl auch über die fünfte Fakultät gesagt wurde. Die vierte nämlich ist keine andere als die Kulturfakultät und hat nichts Anderes denn das Leben des Geistes zum Vorwurfe.

Wesen, Entwicklung, Pflege, Bildung, Erforschung und Heilung der Krankheiten des Geistes, die Einwirkung des Geistes auf die 4 andern Offenbarungen des Lebens und der Einfluß dieser auf den Geist, die Culturwissenschaft und ihr Verhältniß zu den übrigen Wissenschaften, endlich die Lehre vom Berufe des Lehrers und von seinem Verhältnisse zu den übrigen Ständen—dies sind die der Culturfakultät eigenthümlichen Disciplinen.

Dann wird bemerkt: "Auch die Seminarien der Volksschullehrer sind ein Bestandtheil der Kulturfakultät und inwiefern die Trennung dieser Anstalten von der Fakultät vortheilhaft oder nachtheilig sei, können wir hier nicht auseinandersetzen. Jedenfalls muß der Direktor eines solchen Seminars ein wissenschaftlich gebildeter Mann sein, der die Gelehrtenschulen zurücklegte, zumal es ja Ein und derselbe Geist ist, welcher von der Kleinkinderschule an bis zur Hochschule inbegriffen entfaltet werden soll."

Daß die Einwohner der Stadt die Zöglinge des Seminars, welche nur für zwei Jahre kamen und häufig gar magere Geldbeutelein mitbrachten, nicht als Mitglieder der Kulturfakultät genugsam beräucherten, daß die Schüler der Gelehrtenschule den Umgang mit uns hochmüthig vermieden und uns als "Elephanten" bei jeder Gelegenheit höhnten und verfolgen, während wir doch der Idee nach Hochschüler waren, solches schmerzte uns fast tiefer als die Aussicht in eine jedenfalls entbehrungsreiche und vielgeplagte Zukunft und gab Anlaß zu mancherlei Partheiungen, Zwistigkeiten und Händeln. Daß aber gar geistliche Herren, deren "Handwerk" schon der Idee nach tief unter dem unserigen stand, deren Fakultät laut allen Berichten ganz ideenwidrig eingerichtet, deren Treiben laut den hinreißenden Erzählungen berühmter Geschichten- und Romanenschreiber der Menschheit, dem armen Volke, von jeher zum Fluche gereicht, daß diese "schwarzen Vögel" wie wir sie hießen, uns, Träger der Kultur des Volkes und selbstbewußte Funken der Gottheit dereinst zu Dienern herabwürdigen und ungestraft kuranzen sollten—dieser Gedanke machte die Heißblütigen unter uns manchmal rasend und nur die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, der mannhafte Entschluß, für diese aus allen Kräften zu arbeiten, gewährte uns einige Erleichterung und Trost. Die Edeln des Menschengeschlechts träumten von jeher von bessern Tagen, unser Direktor that dasselbe, wovon schon seine Idee von der fünften Fakultät der Hochschule, der staatswissenschaftlichen männiglich überzeugen muß.

Diese hat das Leben des Volkes zum Gegenstande und beschäftigt sich näher mit der Lehre vom Wesen des Volkes und seiner Entwicklung zum Staate, mit der Bildung und Pflege des Volkslebens, ferner mit der Lehre von der krankhaften Entwicklung desselben, so wie mit dem Verderbnisse der Staaten, den Arten dieses Verderbnisses und mit der Heilung dieser Mißstände, zuletzt auch mit der Lehre vom Berufe des Staatsmannes und dessen Verhältniß zu den übrigen Ständen.—

Sehr naiv wird bemerkt: "Sind die Disciplinen nicht mit den gewöhnlichen Namen benannt, so ist dies nicht Folge der Unkenntniß oder Mißachtung, sondern des Strebens, die Idee zum Bewußtsein zu bringen, aus der die Schulen überhaupt und insbesondere die Fakultäten der Gelehrtenschule hervorgegangen sind.["]

Das Kulturministerium muß auf den Zinnen moderner Bildung stehen und täglich Ströme von Geist, Licht und Geld in die untern Regionen entsenden. Es soll "für das Leben des Geistes sein, was die Person für den einzelnen Menschen oder der Staat für das Gesammtleben, soll das Leben der Wissenschaft und Kunst von der Volksschule an bis zur Akademie beleben, fördern und regeln. Insbesondere hat es für den Zusammenhang der Schule, Bildung der Lehrer, für Lehrmittel und Aufsichtsbehörden Sorge zu tragen und darf deßhalb nur solche Männer enthalten, welche außer wissenschaftlicher Bildung Beweise von Regierungstüchtigkeit gegeben haben."

Doch genug!

Suche Dir die Einleitung in die Religionslehre und andere Hefte zu verschaffen, lies den gedruckten Aufsatz über "der Schule Wesen und Gliederung" und dann habe die Güte, mir auf folgende Fragen zu antworten:

Habe ich Falschmünzerei mit den Aufsätzen und Schriften eines Mannes getrieben, den ich als Mensch, Lehrer und Wohlthäter verehre? Sind die Ansichten, Grundsätze und Ideen meines Seminardirektors positiv christliche und katholische gewesen? Ist Dir der "Schulmeisterhochmuth" noch ein Räthsel sammt der Abneigung gegen den geistlichen Stand und den meist so ideenwidrigen Bestand des Bestehenden? War ich im Unrecht als ich meinen Lehrern Mitschuld meiner Verirrungen und Verbrechen aufbürdete?—Ich glaube deine Antwort zu hören!—

III.

Je mehr ich mich durch das Wohlwollen und die Theilnahme beglückt fühle, welche meine Briefe an Herrn N. mir erwarben, desto mehr will ich eilen Ihren Wunsch zu erfüllen und Ihnen die hauptsächlichsten Gründe des Unglaubens und der Unzufriedenheit des Lehrerstandes meiner nahe liegenden Zeit sowie meine Ansicht über Gelehrtenschulen mittheilen.

Die Auszüge aus den ungedruckten und gedruckten Heften meines alten Seminardirektors haben Ihnen überraschend gezeigt, wie Vieles geschah, um die Lehrer des Volkes zu eigentlichen Trägern und Aposteln der Hauptkrankheit unserer Zeit, nämlich des Mangels an lebendigem Christusglauben und des Ueberflusses an Unkenntniß und Verkennung der katholischen Kirche zu machen.

Der oft gehörten Behauptung, unser Lehrerstand sei im Ganzen noch weit besser und erträglicher als die Erziehung erwarten ließe, stimme ich gerne bei. Es gibt tüchtige, brave Männer unter unsern Lehrern mit einem Herzen voll Liebe für die Menschheit und ihren Beruf. Edle Anlagen und günstige äußere Verhältnisse Einzelner, ganz besonders die abkühlende Wirkung, welche mehr oder minder das Berufsleben auf jeden ausübt, mögen jedoch das Meiste dafür thun, wenn nicht die Mehrzahl unserer Lehrer aus ganz und gar blinden Fanatikern des Unglaubens und offenen oder heimlichen Revolutionären besteht.

Abgesehen von meiner einst so unseligen Person waren nicht die Schlechtern oder Unfähigeren meiner Kameraden der Gefahr am meisten ausgesetzt, Fanatiker des Unglaubens und arge Revolutionärs zu werden, sondern gerade begabte, strebsame Köpfe und feurige thatkräftige Charaktere.

Diese sendeten Ideale, welche sie aus den Schulbänken getragen, keineswegs leicht in die Himmel oder in das Druck- und Löschpapier zurück, von wannen sie gekommen, sondern suchten dieselben mit mehr oder minder Beharrlichkeit im Leben zu verwirklichen. Damit waren Gefahren verknüpft, von denen ich Ihnen zwei nennen will, welche ich für die größten halte, vielleicht weil ich denselben erlag. Zum Ersten mußte Ausbildung ein Loosungswort für Alle sein, welche würdige Mitglieder der welterobernden Culturfakultät werden wollten und die argen Lücken ihres Wissens fühlten. Das Bemühen, diese Lücken durch Selbstbildung auszufüllen, bleibt aber stets gefährlich, wenn die Erziehung uns zu wenig Vorkenntnisse, unserm Denken keinen Halt in der christlichen Weltanschauung und damit kein festes Urtheil über die Bücher gegeben, aus denen wir Weisheit zu schöpfen vermeinen.

Viele von uns kamen bereits unfähig, katholische Schriften zu lesen, geschweige zu lieben und am weitesten verirrten sich nach den Seminarjahren diejenigen, welche Schöngeister, Historiker oder gar Philosophen und Vielwisser werden wollten.

Wir griffen fleißig nach Conversationslexika, Realencyclopädieen und ähnlichen Bibeln des Zeitgeistes, verloren und vertieften uns immer mehr in die moderne Bücherwelt, worin bekanntlich wenig Christliches und noch weniger Katholisches, dagegen desto mehr Vernunftbetäubendes, Heidnisches und Diabolisches zu finden ist.

Die Meisten lasen wohl weit mehr mit dem Herzen als mit dem Kopfe und je mehr Einer las, desto mehr wuchsen Einbildung und Unfähigkeit, Christliches für etwas Zeitgemäßes, Vernünftiges und Heilbringendes zu halten. Zum Andern traten wir mit den Riesenansprüchen begeisterter Jünglinge in das Leben hinaus und dieses kam den Meisten nicht nur mit Zwergleistungen, sondern mit ungeahnten Schwierigkeiten und Leiden aller Art entgegen, welche uns entmuthigten, gegen Gott, Welt, Volk und Schicksal erbitterten. Ich könnte Ihnen Vieles von arg gequälten Schullehrern und vielerlei Arten von Quälgeistern derselben, namentlich auch von partheiischen und ungerechten Behörden, unchristlichen Geistlichen und der Dummheit des Volkes erzählen, aber ich will kurz sein und mit der Bitte, nicht zu vergessen, daß der Beste unter uns seine schlimmen Neigungen und Gewohnheitssünden hat, nur auf Eines aufmerksam machen. Das Erdenloos eines Schulmeisters heißt: Leiste und trage Vieles, nimm wenig Dank und noch weniger Geld dafür ein!—In Staaten, wo der bewaffnete Friede Tausende von Arbeitskräften und den größern Theil des Staatseinkommens verschlingt, weil wir vom Christenthum ab und in das Heidenthum, aus dem Reiche der Liebe in das der Gewalt hinein gerathen, da mußte wohl das Kirchengut so weit als nur immer thunlich in den Dienst des Heidenthums gezogen und dann das Schulmeisterthum so karg als nur immer thunlich für die saure Mühe abgefunden werden, womit es im Interesse der Staatsallmacht das Volk "aufklärt."

Ich möchte beinahe sagen, unsere Schulmänner seien für ihr Wirken, wie dasselbe seit dem Beginne des Jahrhunderts sich gestaltet, noch weniger Lohnes werth als sie bekommen—allein ich schweige, weil ich an gewisse Klassen privilegirter Faullenzer und geschäftiger Müssiggänger denke und bleibe dabei, die Bezahlung der Schullehrer sei in den meisten christlichen Staaten heidnisch klein, so daß sie sich kaum mit den Bedürfnissen des genügsamsten, geschweige mit den Ansprüchen des selbstbewußten Mitgliedes der Kulturfakultät vertrage.

Freilich sind die Armen im Geiste glücklich; Christus lehrt Entbehrungen und Leiden der Armuth geduldig, muthig und freudig ertragen; Er ist zugleich der größte aller Finanzmänner und Nationalökonomen und in der Befolgung seiner Lehre liegt das Geheimniß verborgen, nach welchem das Jahrhundert immer ängstlicher seufzt und immer durstiger lechzt: die Kunst wohlfeil zu leben und wohlhabend zu sterben. Leider hat die Erziehung seit Jahrzehnten Vieles gethan, um beizuhelfen, daß das Volk arm an Geld und Gut und arm am Geiste, nicht aber, daß es arm im Geiste werde. Wenn in den untersten Ständen der Bettelsack der eindringlichste und gefährlichste Prophet des Kommunismus bleibt, so darf man sich nicht wundern, wenn aus dem bellenden Magen oder der durstigen Gurgel manches Schulmeisterleins ein unzufriedener Mensch und arger Demagog herauswächst!

Der Bauch ist ja im Laufe einiger Jahrhunderte zu einem Weltregenten und heutzutage zum unerbittlichen Gesetzgeber und dämonischen Tirannen der "christlichen Staaten" geworden.

Ein Urtheil über Gelehrtenschulen ist meines Erachtens schier überflüssig, seitdem die Revolution mit ihren Blättern, Kammern und Parlamenten das Babel aller religiösen, sittlichen, politischen und sozialen Begriffe offenbarte, welches in den Köpfen und Herzen der gelehrtesten und gefeiertesten Männer spukt, vom besitzenden Bürger, verarmenden Handwerker, dem geistigen Proletarier, Sklaven der Fabrikanten und Auswurf der Gesellschaft zu schweigen. "An den Früchten sollt ihr sie erkennen!"—sagt die Schrift und die Revolution gab Gelegenheit, die geistigen Errungenschaften sammt der sittlichen Tüchtigkeit von Tausenden und aber Tausenden zu beweinen, welche in gelehrten Anstalten großgezogen worden.

Bei Vertretern aller politischen Partheien und aller Stände hat es sich gezeigt, daß Wissen ohne Glauben leeres Scheinwissen, alles Gerede von Charakter ohne positive Religion eine Lüge des Hochmuthes sei. Wissen ohne Glauben und Sittlichkeit ohne Christenthum waren aber seit langer Zeit die Idole, welchen unsere Erziehungskünstler nachjagten!—

Doch ich will nicht in den Schulmeisterton verfallen, sondern Ihnen nur sagen, daß ich mehrere Jahre, bis mein Vater starb und äußere Verhältnisse mich in das Lehrerseminar trieben, an Gelehrtenschulen lebte.

Dieselben waren geeignet, gelehrte Handwerker, genußwüthige Nützlichkeitsmenschen oder Leute meiner Art heranzudressiren, nimmermehr jedoch ächte Leuchten und rechte Führer des Volkes zu erziehen. Keine ächten Leuchten, weil die wissenschaftliche und keine rechten Führer, weil die religiöse Erziehung mangelte.

Zunächst ein kurzes Wort vom gelehrten Handwerkerthum, alsdann ein längeres vom getauften Heidenthum der Pädagogien, Gymnasien und Lyzeen meiner naheliegenden Zeit.

Es haben Viele laut und längst sich verwundert, weßhalb aus unsern Schulen selten ein tüchtiger Mann hervorgeht, während es in einem Nachbarstaate von Dichtern, Philosophen, Historikern, Staatsmännern, Theologen und Andern wimmelte, welche hochberühmte Namen erwarben und doch lediglich die gelehrten Anstalten ihrer Heimath besuchten. Man hat den Grund darin gefunden, daß die ganze Erziehung bei uns darauf hinausläuft, Einen im Laufe von 12 bis 15 und mehr Jahren soweit zu bringen, daß er im Siebe des Staatsexamens hängen bleibt und gleichzeitig mit so unnöthigen und vielerlei Forderungen zu überladen, daß er alle Kraft nothwendig zersplittert und fast ebenso nothwendig im Examen durchfällt, wenn ihm nicht das Glück besonders lächelt.

Wer das Programm einer Gelehrtenschule zur Hand nimmt, staunt ob der Fülle von Kenntnissen, womit die Zöglinge vollgestopft und zur Hochschule entlassen werden und wer öffentlichen Prüfungen beiwohnt, ohne die Prüfungsdressur zu kennen, muß Länder selig preisen vor allen Ländern, für welche Diener des Staates und der Kirche von so umfassender Gelehrsamkeit und edler Begeisterung für alles Große und Schöne herangezogen werden, wie dies in manchen Gegenden der Fall zu sein scheint. In Wirklichkeit verhielt sich die Sache zu meiner Zeit ganz anders. Man hätte ruhig seinen Kopf darauf verwetten dürfen, daß von 100 angehenden Hochschülern keine 10 im Stande seien, nach 8-9jährigem Studiren ohne Beihülfe aller Art einen leichten lateinischen oder griechischen Schriftsteller ordentlich zu übersetzen, geschweige zu verstehen oder gar aus dem Zusammenhange mit seiner Zeit und seinem Volke zu erklären.

Sicher waren von 100 keine 5 aufzutreiben gewesen, welche Geschmack und Freude an ihren Quälgeistern, den Alten, gefunden und doch galten alte Sprachen von der ersten bis zur letzten Klasse als Hauptgegenstände des Unterrichts, auf welche am meisten Zeit und Mühe verwendet wurden.

Von mathematischen, geographischen, geschichtlichen oder naturwissenschaftlichen Kenntnissen war bei Einzelnen Manches hängen geblieben, doch die Mehrzahl hatte Grund genug, den Sokrates als Heiligen zu ehren, weil dieser die Weisheit in das Nichtswissen, somit in die starke Seite unserer geplagten Gelehrtenschüler, setzte.

Von philosophischer Vorbildung will ich schweigen. Ich meine nur, daß davon bei Leuten keine Rede sein konnte, welche von der Weltanschauung des Alterthums keine genügende Kenntniß und von der des Christenthums im besten Falle nicht mehr als eine ganz dunkle Ahnung besaßen.

Von der Unwissenheit vieler "Gebildeten" über Alles, was sich über und unter dem Monde befindet und nicht genau mit ihrem Handwerke zusammenhängt, sind Sie überzeugt oder haben doch Gelegenheit, sich jeden Abend das Licht hierüber in Museen, Kaffeehäusern, Weinschenken, Bierkneipen und andern Orten zu verschaffen.—

Die weitgehende Unwissenheit hängt enge mit dem hochmüthigen Heidenthum der Schulen meiner Zeit zusammen.

Wissen Sie, auf welche Weise ich zum erstenmal zum Tische des Herrn kam? Nicht an Ostern, sondern im hohen Sommer, nicht im feierlichen Gottesdienste, sondern in einer stillen, wenig besuchten Frühmesse und beinahe ohne allen Vorunterricht, so daß wir kaum eine Ahnung von der Bedeutung der uns abentheuerlich dünkenden Feier besaßen. Wir beichteten, aber unser liebster Beichtvater war ein Professor, der allgemeine Beichten nicht nur annahm sondern forderte. Drängten sich zu Viele um den Beichtstuhl dieses Kirchenlichtes, so pflegte ich einen Zettel zu entlehnen, worauf ein Anderer passende Sünden aufgezeichnet, las denselben ab und übergab ihn nach der Lossprechung meinem Nachbar.—Einer der besten unserer Religionslehrer schlief jahraus jahrein und überließ es uns, Lectionen aus dem Katechismus gemächlich herauszulesen. Wieviele von uns nicht einmal das Vaterunser, geschweige das katholische Glaubensbekenntniß oder gar die Gebote der Kirche ordentlich herzusagen wußten, dafür ließen sich Namen nennen, worunter der meinige nicht fehlte [Fußnote: Der meinige leider auch nicht. D.V.]

Wer wollte sich wundern, daß gerade der Religionsunterricht als der langweiligste und widerlichste Lehrgegenstand, das Kirchengehen besonders zur Winterszeit als das leidigste und unnützeste Geschäft erschien?

Die Klage, daß von Oben herab die Pflege des positiven Christenthums im mildesten Sinne nicht gefördert wurde, soll weniger durch die Unfähigkeit aller meiner Religionslehrer als durch den Umstand unterstützt werden, daß es an hochbelobten Lehrern wie an Schulbüchern nicht mangelte, welche uns die eigene Kirche verächtlich und lächerlich machten und unser Gemüth mit aufrichtigem Hasse gegen alles "Pfaffenthum" erfüllten.

Von Gewissen will ich aus gewissen Gründen schweigen, aber durchgehen Sie die gedruckten Programme unserer gelehrten Anstalten, um sich zu überzeugen, aus wievielen Schulbüchern wir alle Irrthümer und den Kirchenhaß des Protestantismus in uns aufnahmen. Daß nebenbei Bibliotheken der Anstalten und Professoren uns reichlich mit Hilfsmitteln der Aufklärung versorgten, versteht sich von selbst und daß Viele von uns Alles, nur nichts Gutes aus dem Kram der Leihbibliotheken schöpften, ist eben so begreiflich als verzeihlich.

Geistliche und weltliche Lehrer hatten genug zu schaffen gehabt, uns gegen den Einfluß einer durchaus unkatholischen Literatur und gegen die Gefahren der Jugend durch das Einpflanzen christlicher Gesinnungen zu schützen. Doch geschah von Allem das Gegentheil. Obwohl von Gott, Christus und Kirche manchmal die Rede war, so lernte man doch nur das zeit- und staatsmäßig zugeschnittene Christenthum meiner Mutter kennen und wurde mit einem nicht minder zeit- und staatsmäßigen Hasse und Mißtrauen gegen das positive und kirchliche Christenthum erfüllt.

Nicht Christenthum, sondern "Humanität" hieß bei uns die Loosung, reden wir also auch von ihr!—

Die Zeit, in welcher dem Jüngling sein natürlicher Zusammenhang mit dem Geschlechte offenbar wird, fällt mit derjenigen zusammen, in welcher er seinen geistigen und sittlichen Zusammenhang mit demselben mindestens ahnt, wenn auch seine Schulmeister sich als noch so elende Hebammen seines Wesens bewähren.

Der Mensch wird zum Herkules am Scheidewege. Ideale von Freundschaft, Vaterlandsliebe, Seelengröße und Tugend gehen ihm auf, und enger, inniger als bisher schließt er sich an Seinesgleichen an, um höhere Lebenszwecke als die bisherigen zu verfolgen. Jetzt bedarf er vor Allem der Führung der Religion oder doch der Leitung erfahrener Männer, die er achtet und liebt, denn diese Zeit ist nicht nur die schönste, sondern auch die gefährlichste des Lebens. Wie waren wir daran?

Die alltäglichen Redensarten eines gefeierten Humanisten klingen mir noch in den Ohren und ich gebe einige als Proben, mit welchem Takte dieser Mann 16 bis 20-jährige Vaterlandshoffnungen behandelte.

"Er steht da, als ob er die chinesische Mauer vor der Nase hätte, er verzwickter Schafskopf, non plus ultra der Rindviehdummheit, elender Böotier!—Er kann sich als Preisträger des landwirthschaftlichen Vereines melden—Fahr Er Mist, dazu ist Er dumm genug, so rindviehmäßig dumm, daß Er nicht einmal zum Schustersjungen taugt—Er Urkalb, Generalassekuranzesel, halte Er sein Maul zum H—!—Geborenes und erzogenes Rindvieh, Er steht unter dem Niveau eines Hundes!—Ein gescheidter Pudel ist intelligenter als ihr Bestien!—Erlöst mich bald in Gottes oder des Teufels Namen!—Hat er Pech am H—? Was will Er denn werden? Theologe! Daß sich Gott erbarme!—Da möchte ich doch lieber in der tollsten Kneipe unter Proletariern sitzen und ihren physischen Dunst einathmen, als euern geistigen Gestank riechen—Setz dich, dein Name ist Rindvieh, man könnte dich zum Präsidenten einer Eselsrepublik machen—Werd' Er Schuster, Barbier oder Leinweber, Er hyperbestialisches Rindvieh—Der Ochse wird nur einmal vors Hirn gehauen, er hats demnach besser als Ihr, denen man täglich vor den Kopf schlägt, ohne daß Ihr Etwas spürt—Ist noch keine Artillerie- oder Bierbrauerstelle für Ihn frei geworden? Er ist verballhornter als ein Esel in der zweiten Potenz—Setz' Er sich auf seine Klauen, Mondkalb! Nicht einmal ein Hund hebt sein Bein auf vor so verthierten Geschöpfen wie Ihr seid!—"

Ich will Sie mit noch derbern und ekelhaftern Redensarten dieses gepriesenen Directors verschonen. Wir haben Sammlungen davon veranstaltet und viele Freude daran gehabt, wenn er uns Gelegenheit gab, dieselbe durch neue zu bereichern.

Die Schulgesetze zu verhöhnen und zu übertreten, galt als Heldenthat.

Vieles ließe sich hier über frappante Aehnlichkeiten zwischen Zuchthäusern und Schulhäusern anknüpfen.

Von pedantischen Schulgesetzen und heimlichen Gesellschaften, von erfolglosen Ermahnungsphilippiken und schlechten Streichen, von öffentlichen Beräucherungen und heimlichen oder auch offen getriebenen Lastern ließe sich Langes und Breites erzählen und hieraus mancher Beleg für die alte und doch niemals genug beherzigte Wahrheit schmieden: daß Sünden, Laster und Verbrechen von kleinen Anfängen ausgehen und gleich schleichenden Krankheiten erst recht offenbar und auffallend werden, wenn sie schwer oder gar nicht mehr heilbar sind.

Blicke ich zurück auf meine Jugendgefährten, was ist aus so Vielen derselben geworden? Ach, mehr als Einer ist gleich mir gemeiner, geschweige "politischer" Verbrecher, gar Mancher hat sich durch Ausschweifungen in ein frühes Grab gestürzt, Viele beweinen ein verfehltes Leben und die Meisten haben es nicht ihrer Erziehung, sondern glücklichen Naturanlagen und einem freundlichen Geschicke zu verdanken, daß ihre Geschichte keine Zuchthausgeschichte geworden—denn Religion haben die Meisten noch heute keine!—Man sage dagegen was man will: alle Wissenschaft und Bildung gibt keine Sittlichkeit, verfeinert höchstens die selbstsüchtigen Triebe des Menschen oder lehrt ihn die innere Roheit und Gemeinheit mit einem äußerlich glänzenden Firniß übertünchen, durch den der wahre wüste Mensch doch täglich hervorbricht. Sittlich sein heißt in Gott leben und in Gott vermag nur der zu leben, welchem in Christo die Kraft geworden, den geistigen Menschen über den natürlichen zur Herrschaft zu bringen.

Was soll man nun von einem Schulwesen halten, welches katholische Kinder von der Volksschule an bis hinauf zur Hochschule mit Geringschätzung gegen positive Religion und noch mehr mit Haß und Mißtrauen gegen die eigene Kirche erfüllt?—

Freilich, wo Katholiken, Protestanten und Juden in Einer Schulbank sitzen, darf außer der Religionsstunde von positiver Religion keine Rede sein und wenn die Religionslehrer meiner Zeit wahre Apostel gewesen wären, so würde der Geschichtsunterricht nicht ermangelt haben, uns für die Reformation und deren Helden ebenso blind zu begeistern als gegen die katholische Kirche einzunehmen und in unheilbarer Unwissenheit über Geschichte, Einrichtungen und Gebräuche derselben zu erhalten.—

Ein Beweis für die Geringschätzung und Verachtung gegen unsere Kirche liegt vielleicht darin, daß ich mich auch nicht Eines Beispiels entsinne, wo Einer von uns auf den Gedanken gerathen wäre, irgend einen Heiligen zu seinem Vorbilde zu wählen und diesen Entschluß auszusprechen.

Und sind die Heiligen als Helden des sittlichen Willens kleiner denn jene Helden, welchen eine befangene Geschichtschreibung Weihrauch streut, weil es großartige Räuberhauptleute, siegreiche Menschenschlächter, glückliche Erfinder oder ohne ihr Zuthun mit hohen Geistesgaben ausgerüstete Männer gewesen?—Wenn einmal jene Zeit da sein wird, wo Christus als lebendiger Mittelpunkt der Geschichte der Christenheit und Menschheit erfaßt wird, dann wird auch der geringste Heilige mehr gelten denn ein lasterhafter Alexander, selbstsüchtiger Napoleon, liederlicher Maler, Geiger oder Komödiant.—

Ein weiterer Beweis, wie weit die Protestantisirung der Katholiken in paritätischen Ländern gediehen, liegt in der Thatsache, daß zu meiner Zeit nicht sowohl die Kenntnißvollsten oder Besten, sondern weit eher mittelmäßige Köpfe, Feiglinge, welche nicht den Muth besaßen, Entbehrungen und Leiden der Armuth zu ertragen, niedrig denkende Bursche, welche von vornherein an die Nichterfüllung gewisser beschworener Pflichten ihres künftigen Standes dachten, sich dem Dienste der Weltkirche Jesu Christi widmeten.

Begreiflich!—erinnere ich mich doch mehr als eines aufgeklärten Professors, der sehr verächtlich in Gegenwart der Schüler vom Stande katholischer Geistlichen redete und offen aussprach, der Dümmste sei immerhin noch gescheidt genug, um für die Kirche gesalbt zu werden!—

Soll ich länger noch bei dem heimtückischen, verkappten Kriege mich aufhalten, der mit schlauer Berechnung gegen Katholizismus und Kirche geführt wurde, während man von Oben herab und Unten herauf von Erhaltung religiösen Friedens, Gleichberechtigung der Confessionen und andern schönen Sächelchen laut genug log und durch Lügen das Gewissen der Hirten der Kirche in süßen Halbschlummer und verderbenbringende Betäubung lullte?—

So lange katholische Lehrer inwendige Protestanten sind, die Schulen nicht zu Confessionsschulen und alle mit der christkatholischen Weltanschauung in näherer Berührung stehenden Unterrichtszweige nicht aus katholischen Büchern erlernt werden, so lange wird auch ein neuer und besserer Geist das Volk nicht erneuern und beleben, sondern das schleichende Gift des Heidenthums wird weiter fressen und zuletzt den Organismus der alten, kranken Gesellschaft zerstören!—

Einige Jahre verlor ich an Gelehrtenschulen, an denen keine gründliche Bildung zu holen und das bischen Christenthum, welches manche Kameraden aus der Heimath mitgebracht, bald verloren war. Der schnell erfolgte Tod meines Vaters fiel als Hagelschlag in meine reichlich blühenden Hoffnungen auf eine ehrenvolle, glänzende Zukunft. Es stellte sich heraus, das Vermögen sei bei weitem nicht so groß als man sich allgemein vorgestellt und eine ziemlich sorglose Haushaltung hatte Vieles beigetragen, dasselbe zu zerrütten. Außer dem ältern Bruder Anton und mir waren noch mehrere Schwestern vorhanden. Anton war älter als ich, noch immer derselbe ruhige, stille Mensch, welcher er von jeher gewesen und noch immer entschlossen, ein Geistlicher zu werden. Er wollte dies nicht, weil er etwa mehr Glauben oder Kenntnisse in religiösen und kirchlichen Dingen besaß als ich, sondern weil ihm die Aussicht auf das friedliche Leben eines Landpfarrers behagte. Es war der Seelenwunsch der Mutter, daß er seinem Plane getreu bleibe, doch stellte der Tod des Vaters der Ausführung desselben Hindernisse entgegen. Die Unterstützung irgend einer Art anzunehmen, das armselige Leben eines Bettelstudentleins zu führen, dies waren Gedanken, welche die etwas stolze Mutter so wenig als Anton zu ertragen vermochten. Der Stand des Vermögens war jedoch so, daß Einer von uns Brüdern dem Studiren entsagen mußte, wenn soviel übrig bleiben sollte, um den vier Schwestern eine angemessene Erziehung und einige Aussicht auf zeitliche Versorgung zu geben. Anton war um zwei Jahre vor mir, ich liebte die Mutter und wußte bereits, daß Geld die Welt regiere, folglich meine Schwestern ohne einiges Geld schwerlich jemals zur Regierung eines Hauswesens gelangten. Nicht ohne Kampf, doch voll Freude über den Sieg verzichtete ich auf das Leben eines Studirten. Meine Neigung Soldat zu werden, ward von der Mutter aus allen Kräften bekämpft. Ich begann Musik zu treiben und trat kaum ein Jahr nach dem Tode des Vaters ins Lehrerseminar.

Sie begreifen, daß ich ohne religiösen Glauben, folglich auch ohne sittlichen Halt in dasselbe trat und beim Eifer meines Studirens sowie bei der Lebhaftigkeit meines Temperaments als vollendeter Feind des Pfaffenthums und voll Begeisterung für ein aufgeklärtes, freies, glückliches Volk aus demselben herauskam, während mich gewisse Vorfälle und Erfahrungen, die ich seit dem Tode des Vaters gemacht, gegen "honette und gebildete" Leute stark eingenommen hatten.

Ich war einige Jahre Schulmeister und habe während dieser Zeit Vieles durchgemacht, zumal die häuslichen Verhältnisse der Meinigen sich verschlimmerten. Mein Ehrgeiz drohte unter der Wucht drückender Lebensverhältnisse zu erliegen und leider mit ihm löblichere Eigenschaften. —Jetzt begreife ich, weßhalb die Behörden mich zurücksetzten und meine Vorgesetzten mir keine Ruhe ließen, doch damals sah ich nur Ungerechtigkeit, Partheilichkeit, Pfaffenhaß, Weiberintriguen und machte mich selbst zum Unseligsten aller Menschen.—Nicht die Religion, sondern die Liebe für eine Sonntagsschülerin war es, welche meinem schwankenden, ruhelosen, unseligen Wesen wiederum Halt, Friede, jenen Schimmer der Seligkeit gewährt, welcher Jedem die Erinnerung an die erste Liebe unvergeßlich macht.

Ich erfuhr nicht, daß Liebe der Lange Irrthum Eines Betrogenen Esels sei, wie Saphir herb genug witzelt, aber ich war ein Schwärmer, ein Romanenheld, die Geliebte dagegen ein verständiges, treuherziges, einfaches Landmädchen. ... Es verstand mich nicht, Eltern und Verwandte erklärten sich gegen mich —Doch, ich will Sie mit meiner Liebesgeschichte nicht langweilen.

Sie modert längst im Grabe und in demselben Grabe mein besserer Mensch. Ich verlor sie keineswegs durch den Tod, denn sie starb erst, während ich in Frankreich lebte. Sie ließ sich halb und halb zu einer Heirath zwingen und war zu edel, um ein Verhältniß fortzusetzen, welches ihren Pflichten hätte gefährlich werden müssen. Ihr Verlust war für mich der Anfang einer Sittenverwilderung, deren Schilderung Sie mir gewiß gerne erlassen. Ich sank von Stufe zu Stufe und stürzte mich in Schulden, aus denen mich die Meinigen weder herauszureißen vermochten, noch den Willen dazu hatten. Die Meinigen verfluchten, die Behörden bedrohten, die Gläubiger verfolgten, alle Bessern verachteten mich und ich, ich glaubte—ein noch immer vortrefflicher Mensch und verdienter Lehrer zu sein und ein Recht zu besitzen, der ganzen Welt zu trotzen.

Nur mit Schauder denke ich an jenen Sonntag zurück, an welchem ich im Hochamte während der Wandlung auf der Orgel das Bänkelsängerlied:

   Schnapps, Schnapps, Schnapps, du edeles Getränke

anstimmte. Ich mußte fast augenblicklich fliehen und floh ohne Geld, ohne Schriften, ohne Gepäck, ohne Ziel und Plan und ließ hinter mir die Heimath, die Ehre, den Frieden meiner Seele.

Ich floh nach Frankreich und zwar nicht als fortgejagter Schulmeister, sondern auch als Deserteur, da ich ein Jahr Kasernenleben mitgemacht und auf meinen Abschied noch lange zu warten hatte. In Straßburg ließ ich mich anwerben. Wenn ich meine Erlebnisse in Algier, Spanien, in Frankreich, besonders in Paris und Lyon erzählen und mich näher mit dem politischen und sozialistischen Theile meiner Geschichte befassen wollte, so würde dieser ohnehin wohl zu lang gerathene Brief vor einem bis zwei Jahren schwerlich ein Ende finden.

IV.

——Du, theuerster Anton, hast Deinem Bruder das Reisegeld gegeben und in zwei Wochen segle ich Amerika zu, um dort nach Kräften gut zu machen, was ich an der alten Welt, an dem Vaterlande, an meiner Familie und mir selbst gesündiget. Hätte ich nicht das Kleid eines gemeinen Verbrechers getragen, so würde ich in ein Kloster gehen, nicht sowohl um meine Schande zu verbergen, sondern um die Gnaden zu offenbaren, welche Gott auch dem Unwürdigsten noch zukommen läßt, wenn derselbe sich an Ihn wendet.

Es scheint mir nützlich und nothwendig zu sein, daß in den Tagen wachsender Armuth, unersättlicher Genußsucht und maßlosen Hochmuthes Menschen durch Thaten den Mitmenschen beweisen, wie wenig Einer braucht, um zu leben, wie wenig sinnliche Genüsse zum Glücke gehören und wie wenig Demuth und Selbstverläugnung uns erniedrigen. Klöster sind eine Forderung der Zeit.

Ach, ich möchte die Zahl Derer so gerne um Einen vermehren, welche laut und offen verkündigen, daß der moderne Staat wiederum ein christlicher werden müsse und daß Kaiser, Könige, Fürsten und Grafen bis herab zum Bettler hinter dem Zaune Eine Pflicht und Eine Bestimmung haben, weil Christus für Alle gestorben, Tod und Gericht Allen gemeinsam sind.

Leider sind jene Tage vorüber, wo auch große Verbrecher in stillen Klostermauern Aufnahme fanden, um Buße zu thun und durch Wort und Beispiel die Vergangenheit zu sühnen.

In zwei Welttheilen lebte ich als Seelenverderber, im dritten will ich als Seelenretter ausharren bis zum Ende und als ein in Christo Freigewordener, noch weit weniger als früher ein Gewicht auf die Warnung legen, welche Faust dem Wagner gibt:

   Wer darf das Kind beim wahren Namen nennen?    Die wenigen, die was davon erkannt,    Die thöricht g'nug ihr volles Herz nicht wahrten,    Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,    hat man von je gekreuzigt und verbrannt!

Ich suche in Amerika kein Eldorado und weiß, welche Entbehrungen und Schwierigkeiten meiner harren, nachdem ich mich entschlossen, die Wilden der Urwälder aufzusuchen, unter denselben als Vorarbeiter und Gehülfe der Missionäre zu wirken und an ihnen gut zu machen, was ich an Andern gesündiget.

Doch ich will Deinen Wunsch erfüllen, theuerster Bruder und Dir Näheres von meinem Zuchthausleben erzählen, namentlich insofern dasselbe zu meiner sittlich-religiösen Wiedergeburt beitrug.

Es war im Spätjahr 1847. Ich wußte genauer als mancher Andere, daß Frankreich am Vorabend einer Revolution stehe. Daß dieselbe jedoch schon im Februar 1848 losbrechen und nicht nur die Julimonarchie stürzen, sondern die Monarchie überhaupt zertrümmern und Sozialisten zu Führern Frankreichs machen würde, das ahnte ich nicht, weil es meine kühnsten Hoffnungen überflügelte.

Hätte ich eine Ahnung davon gehabt, so würde ich die geheime Mission nach Deutschland nicht übernommen, eine verhängnißvolle Brieftasche mit Banknoten nicht—gefunden und das Inwendige des Zuchthauses wohl nimmermehr gesehen haben.

Ich lag im Gefängniß, als die Februartage kamen. Sie machten mich rasend; ich konnte Tag und Nacht keine Ruhe finden und wundere mich nur, daß ich nicht geisteskrank wurde. An Fluchtversuche dachte ich nicht, weil ich stündlich Befreiung auf andere Weise hoffte und erwartete und als diese ausblieb, hatte ich es durch meine Reden und mein Benehmen dahin gebracht, daß man ein scharfes Auge auf mich bekam und mich in ein besser verwahrtes Gemach brachte, wo ich einsame Stunden fieberhafter Spannung verlebte.

Es war zu erwarten, daß Berlin ein bischen Prosit rufe, wenn Paris nieße, aber daß Berlin Prosit schreie und die gute alte Stadt Wien zum "Paris in Knabenschuhen" würde, hattte [hatte] ich auch nicht geahnt und als es dennoch so kam, verwünschte ich bereits im Sträflingskittel das Mißgeschick, welches langjährige Hoffnungen verhöhnte, indem es mich, den Sohn der Freiheit und Soldaten der Revolution zu einem Staatssklaven und Opfer tödlich verachteter und gehaßter Gesetze machte. Das Ärgste war, daß ich keineswegs umstrahlt von der Glorie eines politischen Märtyrers, sondern in der Eigenschaft eines gemeinen Spitzbuben in die Strafanstalt trat und hier zum Ueberfluß noch Leute fand, welche mich früher und leider nicht auf vorteilhafte Weise kennen gelernt.

Beamte und Aufseher behandelten mich gleich jedem Andern; ich fühlte, daß gleiche Behandlung Aller große Ungleichheiten zur Folge habe, sogar das Beisammensein mit Dieben empörte meinen Stolz und ich that Alles, um mich bei den Bessern der Sträflingsbevölkerung in Ansehen zu setzen. Doch ein alter, einäugiger durchtriebener Gauner, mit welchem ich früher einmal im Amtsgefängnisse zu N. gesessen, redete zu meinen Gunsten in einer Weise, welche mir die Achtung der Bessern verscherzen mußte und eine Mißgestalt von Bauernknecht, welchen ich in demselben Amtsgefängniß gewissenlos um seine Ersparnisse gebracht und der nunmehr wieder unter Einem Dache mit mir lebte, erzählte Alles, was er Schlimmes von mir wußte.

Draußen Revolution, der Kanonendonner und Freudenjubel der großen Zukunft, in der Strafanstalt elende Handarbeit, schmale Kost und schlechter Trunk, dabei noch Verachtung von Seite vieler Mitgefangenen, welche mich gerade deßhalb um so herber drückte, weil sie von Sträflingen kam—wie zermalmte mich solche Verschärfung meiner Strafe!

Der Gedanke, daß ich von meinen Freunden außerhalb der Gefängnißmauern verlassen und vergessen sei, beunruhigte mich so sehr als die Ungewißheit über die Lage der Dinge und ich glaube ich hätte damals einen Finger für eine Nummer der Augsburger Allgemeinen Zeitung gegeben.

Die verworrenen und sich widersprechenden Gerüchte, welche durch Plaudereien der Zuchtmeister, Schildwachen, Besuche und neu eintretenden Sträflinge verbreitet wurden, dienten im Ganzen nur dazu, meine Neugierde zu erhöhen, die Qual der Ungewißheit bis zur Verzweiflung zu steigern und meine Ansichten über die Ereignisse vollständig zu verwirren.

Du erfassest das Elend solcher Qualen, im Vergleich zu welchen die Qual der Gefangenschaft an sich geringfügig erscheint, nicht. Wer einen Gott hat und einen Himmel kennt, der trägt unzerstörbaren Frieden in sich und betrachtet das wechselnde irdische Leben ruhig.

Der Mai hatte einige Soldaten zu uns gebracht, die für eine zahme Republik gekämpft haben sollten und doch nicht wußten, was eine Republik sei. Es waren gutmüthige, brave Bursche und ich suchte mich denselben zu nähern, allein sie blieben gegen mich wie gegen die "Spitzbuben" zurückhaltend und spröde.

Sie sahen ein, daß es für Soldaten eine unverzeihliche Dummheit sei, zur Zeit einer Emeute eine Ausnahme vom Verhalten der Mehrzahl der Kameraden zu machen und nicht ihre harte Strafe, sondern ihr Zusammengeworfenwerden mit gemeinen Verbrechern war's, was sie nicht zu verschmerzen vermochten und ihren Rachedurst entflammte. Ich gewann sie leicht für meine Ansichten, nachdem sie einmal an ihre neue Gesellschaft besser gewöhnt waren und einiges Vertrauen zu mir gefaßt hatten. Unvergeßlich bleibt mir die Demüthigung, welche mir einer derselben bereitete. Ich erzählte nämlich von Robespierre und lobte vor Allem die Uneigennützigkeit dieses Helden der Revolution, den ich als eines meiner Vorbilder erklärte. Da meinte Jener trocken, wenn Uneigennützigkeit für einen rechten Volksführer unentbehrlich sei, so werde ich niemals einen solchen abgeben!—Aus dieser Rede wie aus den Blicken und dem Gelächter der Umsitzenden erkannte ich, daß alle genau wußten, weßhalb ich verurtheilt worden. Glaubst du, daß ich Nächte hindurch mich ruhelos auf meinem Strohsacke herumwälzte voll Aufregung über solche Gewißheit?—

Mit der Zeit bekam ich Gewißheit, daß man in der Welt auch ohne mich fertig werde und mich "den Spitzbuben" völlig vergessen habe—eine schmerzliche Gewißheit für einen mit der Großmannssucht behafteten Menschen meiner Art! Der Juniaufstand wurde durch einen Zufall bereits am folgenden Morgen nach dem Ausbruche unter uns Gefangenen bekannt.

Wiederum war für längere Zeit meine Gemüthsverfassung die einer Tigermutter, welche von Todfeinden ihre Jungen quälen und zerfleischen sieht, ohne mehr zu vermögen als den grimmigen Zorn und Schmerz durch Gebrülle zu mildern. Kaum fing ich an, mich an meine Lage zu gewöhnen und in ihren Zerstreuungen einen Schein von Ruhe zu gewinnen, als ich in eine Zelle versetzt wurde. Es war im Spätherbst 1848.

Nach einigen Tagen stiller Ergebung berauschte mich allgemach die Einsamkeit. Zuweilen verlebte ich ruhige, sogar heitere Stunden, doch in andern, besonders in der Todesstille der Nacht und bei schlechtem Wetter empfand ich alle die unbeschreiblichen Qualen meiner Lage.

Ich möchte dieselben mit denen des angeschmiedeten Prometheus vergleichen, doch hinkt solcher Vergleich vielfach, namentlich hatte ich dem Himmel mein Feuer nicht gestohlen, sondern von der Hölle entlehnt.

Arbeiten und Bücher gewährten mir einige Unterhaltung und Trost. Ich arbeitete, um mich selbst zu vergessen und einige Stunden des Schlafes, dieses köstlichsten aller Güter eines Gefangenen, zu genießen. Meine Liebe zum Lesen wäre leicht in Lesesucht ausgeartet, wenn ich mich der Hausordnung hätte entziehen können. Doch welcher Sterbliche vermag sich in einem Zellenbau der strengsten Beobachtung bei Tag und Nacht zu entziehen? Geistliche, Beamte und Aufseher besuchten mich nach ihrer Vorschrift, doch gewährten mir ihre Besuche wenig Unterhaltung und ihnen kein Vergnügen.

Mein Bestreben war darauf gerichtet, dieselben auf eine Weise zu kränken und zu beleidigen, für welche sie mich nicht zu bestrafen vermochten.

Uebrigens ist ihre Strafgewalt so beschränkt, daß man wenig mehr nach Strafen fragt, wenn man die üblichen einmal gekostet und nachdem mir eine Uebertretung der Hausordnung einigemal kleine Strafen zugezogen, ertrug ich Strafen gerne, wenn ich mir nur einbilden durfte, die Beamten recht geärgert zu haben. Nur Einer kam mit mir aus. Es war ein Hauslehrer, der von Zeit zu Zeit mit Heckerhut, Hahnenfeder und Schleppsäbel in meine Zelle trat, um sich nach dem Befinden des "Bürger Gefangenen" zu erkundigen. Nachdem er wußte, wie lange und wo ich in Frankreich und andern Ländern gelebt und welcher Parthei ich lange Zeit angehörte, führten wir viele wunderliche Gespräche mit einander. Bei ihm konnte ich meinem Grimme gegen Gott, Welt und Menschen freien Lauf lassen, denn auch er gehörte zu Jenen, welche von ergriffenen Prinzipien zu den äußersten Folgerungen derselben muthig fortschreiten.

Von ihm erfuhr ich, was draußen in der Welt gespielt wurde und meine Hoffnung auf Befreiung ward so lebhaft, daß ich mich am Morgen jedes Tages fragte: Wirst du die Hausschelle heute Abend noch hören?—Noch vor Mai 1849 verlor ich den Edlen, im Mai erfuhr ich die Befreiung der politischen Gefangenen und erwartete die meinige—vergeblich. Jetzt brütete ich wiederum düstere Plane unersättlicher Rache, schwelgte in entmenschten Träumen blutigen Hasses und fand darin die einzige Unterhaltung, weil ich in der Kirche nicht zum Hören zwischen den kahlen Zellenwänden nicht zum Lesen und Nachts nicht zum Schlafen gelangte.

Ich hatte Schreibzeug, noch einiges Papier und begann zu dichten. Eine Sammlung. "Rothe Lieder" sollte mir meine Lage erträglicher und nach meiner Befreiung meinen Namen der Welt bekannt machen.

Während der Arbeit schmiedete ich Verse und schrieb einen nach dem andern geschwind auf eine neben mir liegende Schiefertafel. Kam Jemand, so löschte ich das Geschriebene schleunig aus, andernfalls schrieb ich es am frühen Morgen oder während der Mittagsstunde auf Papierstreifen, die ich in den Schuhen bei mir trug.

Eines mag als Probe meiner damaligen Seelenstimmung hier stehen und Dir zeigen, wie weit ich noch nach etwa 10monatlicher Einzelhaft von Besserung entfernt war:

   Ein Sklavenvolk mag vor Molochen kriechen,    Vor schlauen Bonzen wahnerfüllt sich beugen,    Sein Glück mit Füßen treten im Unsinnsreigen    Und Seligkeit aus Triererröcken riechen!

   Doch ewig soll das Volk an Dummheit siechen?—    O nein! die Wahrheit wird und muß sich zeigen,    Muß glühendroth aus Tempelasche steigen    Sobald der Wahn des Christenthums gewichen!

   Drum frisch, ihr Freien, laßt nie träg euch finden,    Wetzt gegen Bonzentrug die schärfsten Klingen,    Es gilt, der freien Menschheit Reich zu gründen!

   Der Weltgeist leiht euch riesenstarke Schwingen,    Kein Adler kann im Sonnenlicht erblinden,    Der Menschheitsgott lohnt euer kühnes Ringen!—

Im Juni setzten mich Kanonendonner und Kriegslärm aller Art in fieberhafte Bewegung. Jeden Schritt, der auf den Steinplatten des Ganges dröhnte, hielt ich für den meines Befreiers.

Ich hoffte, daß alle Gefängnisse ihre bleichen Bewohner ausspeien würden und war gesonnen, aus denselben ein in die graue Tracht des Sträflings gekleidetes Corps zu bilden, um dasselbe als Vorkämpfer beim Kampfe gegen die alte Gesellschaft zum Siege zu führen.

Freiheit und Kampf, Sieg und blutige Rache, Tod und Ruhe war meine Loosung und ich vergaß dieselbe sogar in meinen nächtlichen Träumen nicht.

Eines Abends marschirten preußische Füseliere über die Ringmauern der Anstalt, bald nachher stand auf der Mauer meines Spatzierhöfchens geschrieben; "Die Freischaaren sind aus dem Schwarzwalde in die Schweiz, Alles ist aus.—Die Franzosen wollen wieder Einen haben und der Sträfling von Ham soll auf der Liste zu oberst stehen. Lauter Lumperei!—"

Dies war zuviel.

Seit vielen Jahren eines ins Aeußerliche versenkten Lebens hatte mich Gott das Rächeramt an mir selbst verwalten lassen. Eine beständige qualvolle Unruhe, eine tiefe geheime Unzufriedenheit mit mir selbst jagte mich aus einer Stunde in die andere wie den ewigen Juden und ließ mir nicht Einen vollkommen sorgenlosen Genuß. Aus jedem Freudenbecher stiegen Dämonen und setzten sich als unerträglich schwere Alpe auf mich, während Springfedern in mir zu sein schienen, die beim leisesten Drucke von Außen mich fernen, unbekannten Zielen zutrieben.

Während meiner Gefangenschaft war ich bereits so weit gekommen, die Ochsen und Kühe zu beneiden, welche den Brodwagen in den Hof der Anstalt schleppten. Ich würde gerne geglaubt haben, das elendeste Thier sei ein glücklicheres Wesen als der Mensch, wenn nicht ruhige, freundliche, glückliche Menschen, hinter denen mein scharfgewordenes Auge keinen Schein entdeckte, täglich in meine Zelle getreten wären.

Ich mußte mir in ruhigeren Stunden gestehen, eine Regierung, welche Diener von der Art meiner Besucher habe und ihre schlechtesten Unterthanen noch menschenfreundlich behandle, müsse nicht ganz fluchwürdig sein. Nicht minder fiel es mir bei, eine Religion, welche ihre treuen Anhänger so ruhig, freundlich und glücklich mache wie die christliche, bleibe eine preiswürdige Religion, selbst wenn ihre höchsten Vorstellungen keiner Wirklichkeit entsprächen. Ich begann die Gläubigen um ihres Glaubens oder vielmehr um des Glückes willen zu beneiden, welches der Glaube denselben gewährt.

Beim Durchmustern meines vielbewegten Lebens kam ich allmälig immer mehr auf meine Jugenderinnerungen zurück, weil sie die süßesten für mich waren. Unsere Kinderzeit, theuerster Bruder, wurde für mich zunächst der Born, aus welchem ich mich erfrischte, um zum Quell des wahren Lebens zu gelangen.

Die Macht dieser Erinnerungen trug Vieles bei, mein Felsenherz zu erweichen und die wehmüthigen Betrachtungen und Vergleiche zwischen dem seligen Kinde und dem unseligen Zuchthäusler versenkten mich in ernstes Nachdenken.

Mehr als einmal, wenn die Glocken von fern und nahe in meine Zelle hineinläuteten und das Abendroth zwischen den Kerkerfensterlein hindurchzuckte und golden über die kahlen Wände zog, da sah ich längst entschwundenes Abendroth und unter ihm die Thürme, von welchen die Religion ihren Abendgruß über unser Städtlein mit seinen dunkeln Dächermassen hinrief und sah ein Haus, worin ein aufblitzendes Licht die liebsten, freundlichsten Gestalten beleuchtete, die mir in meinen Erdenwallen vorgekommen. O Anton, Anton, ich wünschte dann wiederum ein Kind zu sein und mein Leben in ganz anderer Weise von vorn anfangen zu können!——

Ich begann allmählig auch religiöse Schriften zu lesen und über den Inhalt reiflich nachzudenken. Schon die Vorträge und Predigten hatten mich überzeugt, daß ich in vielen Punkten der christlichen Religion in Irrthum und Unwissenheit geschwebt und alle Punkte nur von der Seite aus zu betrachten gewöhnt war, von welcher sie mir verwerflich erschienen.

Je besser ich erkannte, daß ich trotz allen Erinnerungen aus dem Katechismus und an Predigten von meiner Religion bereits so wenig als ein Heide verstünde, desto mehr stiegen Interesse und Eifer mich zu unterrichten. Bald machte ich Auszüge aus guten Schriften und zuletzt eigene Aufsätze, um mich im Denken zu üben.

Gleichzeitig las ich geschichtliche Werke und begann an dem Ikarien, in welches ich mich ganz und gar festgerannt hatte, irre zu werden.

Je mehr ich las und dachte, desto mehr wich der Fanatismus des Unglaubens. Ich lernte die Ruhe des Denkers kennen und wenn dieselbe auch noch lange nicht die Ruhe des Christen ist, so bleibt sie doch ein Durchgangspunkt, um zu derselben zu gelangen.—

Jetzt ist es mir klar, daß Gott mich ins Zuchthaus führte und daß die Zuchthausstrafe der Rettungsversuch war, welchen Er mit mir anstellte, damit meine Seele nicht ewig verloren gehe.

Er handelte an mir wie ein geschickter Arzt, welcher kein Sengen, Brennen und Schneiden scheut, wenn es dem Kranken nützt, ich dagegen lange genug wie ein in Fieberwahn Daliegender, der von keinem rettenden Arzte wissen will und um so heftiger nach demselben schlägt, je näher er ihm tritt.

Er züchtigte mich mit der einen und hielt mich mit der andern Hand.

Du weißt bereits auf welche Weise Er meine Zuchthausstrafe verschärfte. Unter Sträflingen wäre ich niemals so weit gekommen, Geschmack an religiösen Schriften zu finden. Seitdem ich einsam lebte und gar nichts mehr vom Leben und Treiben der Welt erfuhr, war ich allmälig im Stande Schriften zu lesen, deren Inhalt meinen Ansichten schnurstracks widersprach und der Mangel an Zerstreuung zwang mich, die Gründe der Verfasser zu prüfen.

Gleichzeitig gewann die Einsicht, daß ich durch unverständiges Benehmen meine Lage nur verschlimmere, Uebermacht über die Leidenschaftlichkeit meines Herzens und meinem anständigern, würdigerem Benehmen gegen Besucher entsprach eine freundlichere, gütigere Behandlung von ihrer Seite.

In B. dauert das Jahr nur 8 Monate. Die Hälfte meiner Strafe war überstanden, laut der Hausordnung konnte ich um Begnadigung bitten. Lange schwankte und zauderte ich. Der Gedanke auszuharren, um mich nicht der Gefahr einer demüthigenden Zurückweisung auszusetzen, wich nur, wenn ich an die bisher ausgestandenen Leiden dachte. Ein Traum war's, der mich bewog, ein Gnadengesuch einzugeben und an einen günstigen Erfolg desselben zu glauben.

Einen tiefern Schmerz habe ich selten in meinem quallenreichen [qualenreichen] Leben empfunden als den, welchen ich empfand, nachdem mir ein Schreiber die Nachricht brachte, meine Bitte sei eine vergebliche gewesen. Weniger die Vernichtung süßer Hoffnungen und die Fortdauer der Gefangenschaft, als die Täuschung des Vertrauens, das ich der regierenden "Bourgeoisie" geschenkt und der Gedanke, daß Beamte und Aufseher, die meine frühern Prahlereien angehört und deren Glauben an meine Standhaftigkeit ich durch die Bittschrift vernichtet hatte, wars, was mich schmerzte.

Ich that furchtbare Schwüre, daß meine Hand verdorren und mein Auge erblinden möge, wenn ich jemals wiederum eine Feder anrühre, um ein Gnadengeheul zu componiren. Der Schwur ward gehalten, nicht weil mein Hochmuth stark, sondern weil der Schwur Schwur blieb.

Alle Ruhe und Mannhaftigkeit, alle Versöhnlichkeit und Unpartheilichkeit waren aufs neue verloren. Selbst gegen meine Besucher konnte ich mehr als mürrisch und grob sein, denn ich hatte die Vornehmsten in Verdacht, daß sie meine Befreiung nicht bevorwortet, sondern hintertrieben hätten, während sie mir ins Gesicht Güte und Menschenfreundlichkeit logen und es gab Stunden, wo die innere Aufgeregtheit mich alle Klugheit und Mäßigung vergessen ließen.

Meine religiösen und geschichtlichen Betrachtungen, die Vergleiche der verschiedenen Systeme sozialistischer Träumer hörten auf, ich war zu unruhig, um lesen zu können und nur die "Rothen Lieder" gediehen.

Sie lullten mich in die Ruhe stiller Verzweiflung und stumpfer Gleichgültigkeit, indem ich durch sie meinen Schmerz und Ingrimm gegen Gott, Welt und mein Geschick aus mir herausarbeitete; aber wenn ich bedachte, weßhalb ich bestraft worden und wer mich in Gewalt hatte oder auf die lange trostlose Reihe der Kerkernächte zurück oder vorwärts blickte, dann hatte die trügerische Ruhe des Fatalisten, in welche ich mich hineinzuzwingen versuchte, ein Ende.

Nur ein gemeiner Verbrecher in der Zelle erfährt, was es heißt, die Hölle im Busen tragen und die Sehnsucht nach Glück sterben lassen. Es gab Augenblicke, wo ich auf die Knie stürzte und die unbekannten Mächte, welche ihr grausames Spiel mit mir trieben, um Erbarmen anflehte. Im nächsten Augenblicke stand ich auf, lachte voll ingrimmigen Hohns und rief den Teufel an, mir die Freiheit, Ruhe, Untergang im Genuß oder auch die Hölle zu verschaffen. In der Hölle ein ganzer Teufel zu sein, ewig Gott zu lästern und zu höhnen, in diesem entsetzlichen Gedanken lag für mich in meinen ärgsten Stunden eine Art Wollust. Ich wünschte, daß es einen Gott, einen persönlichen Gott geben möge, damit ich ein rechter Teufel sein könne. Wer gab ihm das Recht, mich auf diese Welt zu setzen? Aus einem glücklichen Nichts ein unglückliches Etwas zu machen? Weßhalb verfolgte Er mich seit vielen Jahren? Warum ließ er mich leben, da ich doch sterben wollte?—

Ja, wollte, theuerster Bruder! Schaudere nicht vor mir zurück, ich kannte und besaß mich selbst damals nicht mehr, ein Dämon lebte und regierte in mir, denn lange hatte ich der Hölle willenlos gedient und war in der Zelle bereits in Gefahr gerathen, ihr ungetreu zu werden!—

Ich wollte mich erstechen und schliff mein stumpfes Messer mit unsäglicher Mühe scharf und spitz. Aber ich besaß den Muth nicht dazu. Sage Keiner ein Selbstmörder sei ein Feigling, es ist nicht wahr, zum Selbstmorde gehört ein Muth, welcher den Selbsterhaltungstrieb und die Ewigkeit verhöhnt. Ein Aufseher entdeckte das Messer, nahm es weg und mehr als je fand ich mich beargwohnt und beobachtet. Ich betrachtete stundenlang meinen Kleiderrechen und dachte daran, mich zu hängen.

Allein das Hängen hat namentlich für einen alten Soldaten etwas Widerliches an sich, vielleicht weil es die leichteste oder doch angenehmste Todesart sein soll. Zudem konnte ich zu früh entdeckt, abgeschnitten und gerettet werden. Noch meine Todesgedanken waren von der Eitelkeit beherrscht; ich glaubte die herabsetzenden Redensarten derer, die meinen Leichnam auszogen, zu hören und der Gedanke, von gleichgültig lachenden Studenten zerschnitten zu werden, erregte mir ein widerliches, grauenhaftes Gefühl.

Die Hölle ließ mich auf eine Todesart verfallen, deren Namen ich nicht nennen mag; sie beseitigt den Schein des Selbstmordes und führt Annehmlichkeiten mit sich, welche die des Hängens durch Dauer weit überbieten. Um die Scheu vor der Anatomie zu beseitigen, wollte ich zuerst von meinem Gutmachgeld das Doppelte des Werthes meines Leichnams—ein menschlicher Leichnam gilt in B. 10 Gulden—an Jemanden außerhalb des Gefängnisses senden und es dahin bringen, daß dieser Jemand nach meinem Tode das Geld in die Anstalt brachte und die Beamten dadurch veranlaßte, meinen Leichnam nicht den Studenten zu schicken, sondern in B. begraben zu lassen.

Diesen Jemand hatte ich noch nicht gefunden, als ich in eine schwere Krankheit verfiel.

Ich kam in eine Krankenzelle, welche sich von den gewöhnlichen Zellen fast nur durch die größere Bequemlichkeit und vor Allem durch eine wahrhaft christliche Behandlung unterscheidet, deren man darin genießt. Nur dunkel entsinne ich mich, wie ich später in den Krankenstock hinabgetragen wurde, wo sich die Schwerkranken befinden.

Bienen, Rosenkäfer und buntfarbige Schmetterlinge gaukelten lustig um duftende Rosenhecken und prächtige Blumenketten des Citysus im heimelig stillen Zuchthausgarten und die Schwalben äzten ihre Brut, als meine Krankheit sich mit unerträglichem Kopfschmerz und galoppirendem Pulsschlage einstellte. Der Wind trieb aber die letzten falben Blätter von den Bäumen, der Sängerlärm im nahen Schloßgarten war verstummt und die unvermeidlichen Spatzen zankten sich um verlassene warme Rester [Nester] unter den Dächern des vierten Flügels, als ich zu neuem Dasein erwachte und mich täglich etwas länger in der Kunst des Stehens und Gehens einüben durfte.

Ich vermeinte kein Gefangener mehr zu sein, denn ich wohnte in einem hohen, anständig eingerichteten Gemache mit großem Fenster ohne Eisengitter und nur der verbleichte Uniformsrock der Krankenwärter und noch mehr das unmenschliche und unnöthige Gebrülle der meisten Wachen auf der Ringmauer mahnte mich daran, daß ich noch Gefangener sei.

Der Krankenwärter besaß mehr Einsicht und Bildung als Leute seiner Art gemeiniglich zu haben pflegen. Er nährte meinen aufwachenden Verstand, während sein Gehülfe, ein etwas kurz und uneben gerathener Bursche mit koketten Löcklein und zahmen Blauaugen den Magen versorgte.

Ein dicker, stattlicher, herzensguter Mann, der dröhnenden Schrittes durch die Gänge und täglich lieber in mein Gemach stieg, zeigte sich bereit, mir Alles zu enthüllen, was von Adams Zeit bis zu meiner Genesung über und unter dem Monde vorgefallen war, insofern es sich nur mit der Hausordnung vertrug. Der Arzt selbst besuchte mich täglich zwei bis dreimal, der Widerwille, den ich früher gegen ihn als den "Knecht einer verrotteten Regierung" so gut als gegen andere Besucher empfunden, war wie weggeblasen. Er hatte mein Leben retten helfen und ich fühlte, daß ich das Leben wiederum liebte, denn als der Mann mit dem dröhnenden Schritte mir scherzend einen amerikanischen Strick in Aussicht stellte, schauderte ich unwillkürlich zusammen.

Täglich kam der vortreffliche Hausgeistliche zu mir und jeder Besuch machte mir denselben theurer. Durch maßlosen Hochmuth, ungeschickte Heuchelei und arge Verstocktheit hatte ich ihn oft betrübt. Seine Freude, mich gelassen und ruhig zu finden, war jetzt um so größer, denn er hatte alle Hoffnung aufgegeben, mich gründlich zu bekehren und gehörte zu jenen Wenigen, denen die Aufrichtung Eines Gefallenen in der That mehr gilt, als die Erhaltung von zehn Nichtgefallenen, bei denen die Gefahr des Fallens vorüber ist.

Der alte wüste Ichmensch schien wirklich absterben, ich neugeboren werden zu wollen. Die Krankheit hatte meine leibliche Kraft gebrochen, sie erstarkte allmählig, doch den alten Menschen konnte und Sollte ich nicht wieder erstarken lassen. Schon vor der Krankheit hatte ich so oft gewünscht, wiederum ein Kind zu sein und mein Leben von vorn anfangen zu können. Nunmehr war ich ein Kind und beschloß ein anderes Leben anzufangen, obwohl meine Seelenstimmung jetzt noch mehr Folge der allgemeinen Schwäche und mein Glaube an Christum, den Sohn Gottes und dessen Weltkirche noch kein felsenfester war.

Mit der Kraftlosigkeit eines Kindes verband sich bei mir auch die Weisheit und Leichtbestimmbarkeit eines Kindes. Liebe zieht den Menschen groß; die Liebe von Solchen, denen ich niemals Gutes erwiesen und oft genug Arges gesagt und gewünscht hatte, verhalf mir zu meiner leiblichen und geistigen Genesung.

Lange, einsame Spätjahrnächte gaben mir Muße zum reifen Nachdenken. Wenn der Sturm um das Haus heult und der Regen an die Fensterscheiben schlägt, dann fühlt sich der Mensch, dem nicht das Glück geworden, Gatte und Vater zu sein, einsam und keine trauliche Umgebung hält ihn von Betrachtungen ab, welche mit den Stürmen oder der Eintönigkeit der Außenwelt harmoniren. Und ich, ein gemeiner, kranker Verbrecher, ein Gefangener, der nach einem an verfehlten Bestrebungen und Thaten reichen Leben anfängt, ernsthaft in sich zu blicken, dem der Tod nahe gestanden und Gott neues Leben geschenkt, er sollte sich keinen ernsten und schwermüthigen Betrachtungen hingeben?—

Lange, einsame Spätjahrnächte hindurch überlegte ich namentlich auch, was ich denn wisse und verstehe und der Menschheit bisher nützte. Arm, krank, ohne Zweck und ohne Mittel lag ich als unwissender Mensch und Feind der Menschheit im Krankenzimmer eines Zuchthauses, ein Mann reif an Jahren, leer an ersprießlichen Thaten und—doch Bruder, theuerster Bruder, erlasse mir meine damaligen Stunden zu schildern. Nach langer, langer Zeit zum erstenmal weinte ich keine Thränen der Wuth, sondern lindernde schmerzstillende Thränen, weinte nicht über Andere, sondern über mich, versuchte zu beten, stammelte zuweilen ein Vaterunser, dasselbe Vaterunser, welches mich und Dich unsere theure, von mir so tiefgekränkte Mutter gelehrt hatte.

Ich dachte nach über mich und mein Schicksal. Es däuchte mir, als ob ich mich selbst bisher arg gehaßt und Alles gethan habe, um mir mein erlebtes Schicksal zu bereiten. Je mehr ich an mich selbst und meine Fehler dachte, desto mehr wurde ich geneigt, die Fehler Anderer in milderm Lichte zu sehen.—

Eine Unvorsichtigkeit rief einen Rückfall meiner Krankheit hervor und der Tod trat mir wiederum nahe. Ich zitterte nicht vor ihm, doch wünschte ich meine Erhaltung, weil ich so Vieles noch auf Erden gut zu machen und eine Ahnung künftigen Glückes mein ganzes Wesen durchklungen hatte. Zum zweitenmal wurde ich gerettet, doch wohl nur deßhalb, weil ich vor dem Rückfall in meiner Genesung ziemlich weit vorgeschritten war.

Wiederum dachte ich über mich und mein Schicksal nach, wiederum war mir das Zeitliche gleichgültig und ich beschäftigte mich gerne mit den Zuständen des Jenseits, dem ich näher als Andere gestanden, wiederum wirkten Besuche und das Vorlesen meines Wärters vorteilhaft auf mich ein.

Ich wünschte lebhaft ein anderer Mensch zu werden und zum lebendigen Glauben an Christum den Gottessohn, diesen süßen, beseligenden Glauben, zu gelangen. Es dauerte lange, bis ich mich dazu entschloß, Gott nicht nur um den Glauben zu bitten, sondern mich Ihm in in [in] einer Generalbeichte einmal ganz und unbedingt zu Füßen zu werfen.

Ein Sonntagnachmittag besiegte meine letzten Bedenklichkeiten; ich werde diesen und die darauf folgende Nacht nicht vergessen haben, wenn unsere Gebeine längst vermodert sind und wir zusammen dort leben, wo der Mensch den ganzen Plan und Gang seines Geschickes von der ersten Minute seines Daseins bis zur letzten erschaut.

Der Himmel schaute trüb zum Fenster herein, die nahen Hügel im Schmucke des Winters mahnten an Tod und kalte Nächte. Alle, die mich besucht hatten, waren ernst und einsilbig geblieben, ein Gedanke von Verlassenheit, wie ihn ein Sterbender in meiner Lage haben kann, durchklang meine Seele. Die Gefangenen sangen die Vesper. Die halb verlornen Töne der Orgel, die Stimmen der Singenden hatten etwas Tiefergreifendes, Wehmüthiges, Trauriges. Ich vermeinte meinen Leichengesang bei lebendigem Leibe zu vernehmen, ein herzzerreißendes wehmüthiges Klagelied über mein verfehltes Leben. Ich betete und glaubte zu fühlen, wie der Tod näher zu meinem Herzen heransteige, faltete unwillkürlich die Hände und betete.

Jetzt wurde ein anderer Psalm angestimmt, deutlich vernahm ich aus allen Stimmen heraus einen durchdringenden Tenor, der die Worte sang:

   Die Dunkelheit der Leidensnächte    Verwandelt Er in Wonnetage!—

Dieser Vers bohrte sich mit unwiderstehlicher Macht in mein Gedächtniß; ich mußte ihn stets wiederholen und so oft ich beschloß, denselben zu vergessen, hatte ich ihn wieder gedacht oder sogar gemurmelt. Es lag etwas Wunderbares in den einfachen, von mir schon so oft gehörten und niemals besonders beachteten Worten.

Finsterniß—Leidensnächte—Er—Wonnetage!—an diese vier Worte knüpfte sich eine lange Kette von Gedanken, es schien mir, als ob Gott selbst zum Troste sie mir zugerufen.

Ich wollte beten, aber ich betete nur diese vier Worte, schlief endlich ein und als ich spät in der Nacht aufwachte, mahnte mich die Dunkelheit im Gemache an die Dunkelheit meines Lebens und meiner Lage.

Drüben in der Stube des Krankenwärters schlug die Wanduhr langsam und schwermüthig die zehnte Stunde. Dies war die Zeit, in welcher unsere Eltern auch von mir allabendlich den Gutenachtkuß erhielten und gaben.

Ich gedachte der Wonnetage unserer Kindheit, der Leidensnächte, welche ich mir und Euch bereitet, der zahllosen Beleidigungen und Frevel, welche ich gegen Ihn verübt, der mich verlassen und der Finsterniß, welche in mir viele Jahre geherrscht.

Das tiefe Schweigen der Nacht redete furchtbarer als je zu meinem Herzen, der Nachbar im Nebenzimmer war heute verschieden, ich glaubte ihn jeden Augenblick zur Thüre hereintreten, mich mit glanzlosen Augen und dem haarsträubenden Gesichtsausdrucke dessen, der die Ewigkeit mit ihren Schrecken erblickt, betrachten zu sehen und zu hören, wie er vom Jenseits redete. Diese Vorstellungen wurden immer lebhafter, kalter Schweiß überrieselte mich; ich wollte rufen, aber die Stimme versagte, vergeblich schloß ich die Augen und steckte den Kopf unter die Decke—immer sah ich den gräßlichen Boten der Ewigkeit vor mir, sah trotz der Decke und Dunkelheit, wie das Gemach sich mit Verstorbenen anfüllte, ich glaubte zu ersticken und war nicht im Stande ein Glied zu rühren. Ich sah den Vater, die Mutter, sie betrachteten mich mit Augen, in denen mein Verdammungsurtheil stand, verstorbene Freunde, die mich anstierten, Kameraden, welche den arabischen Sand mit ihrem Blute getränkt und mit denen ich so Vieles gesündiget und hinter ihnen eine gräßliche Gestalt, die mir zuwinkte und verschwand. An ihrer Stelle stand eine Lichtgestalt, der Glanz, der von ihr ausströmte, verklärte Alles ringsum. Leise, dann lauter, bald feierlich und majestätisch, bald weich und milde ertönten die Worte vielstimmig in Einem fort:

   Die Dunkelheit der Leidensnächte    Verwandelt Er in Wonnetage!

Das Geschrei der Schildwachen weckte mich aus einem Zustande, der mir den Zustand der Verdammten und der Seligen geoffenbart. Hatte ich geträumt? War Alles Alpdrücken? Spiel der erhitzten Einbildungskraft? Ich weiß es nicht, doch das weiß ich, daß ich ganz anders als früher betete und augenblickliche Buße, den Beginn eines neuen Lebens gelobte und meine Seele ihrem lange genug verkannten Erlöser empfahl. Gebet und Gelübde verliehen mir wunderbaren Trost und eine Freudigkeit des Geistes, wie ich dieselbe noch niemals empfunden.

Der Krankenwärter trat herein, um nach mir zu schauen. Er versicherte, daß ich lange und laut geredet. Auf meine Bitte zündete er ein Licht an und holte ein Gebetbuch, um Etwas vorzulesen. War es Fügung oder Zufall, daß er gerade das Gedicht des heiligen Bernhard:

   Jesu, dein süß Gedächtnis macht,    Daß mir das Herz vor Freuden lacht!

ein Gedicht, dessen unbeschreibliche Innigkeit und göttliche Liebe nur ein gläubiger Christ vollkommen erfaßt, aufschlug? Er mußte es mehrmals wiederholen und ich schämte mich der heißen, ebenso schmerzlichen als süßen Thränen nicht, welche es mir auspreßte.

Der Krankenwärter ging. Doch blieb ich nicht allein—mein Schutzgeist, mein Erlöser befanden sich bei mir und vernahmen von meiner Reue und Liebe Alles, was die Verwandlung der Leidensnächte in Wonnetage mir gegeben. Nach einem erquickenden Schlummer wachte ich auf, als die milden Sonnenstrahlen eines schönen Herbsttages bereits in mein Gemach spielten. Den ganzen Tag verwendete ich zur ernsten Gewissenserforschung, gegen Abend legte ich meine Generalbeichte ab und empfing wohl zum erstenmale würdig den Leib Jesu Christi. Wer gegen die Ohrenbeichte der Kirche auftritt, zeigt damit nur, daß er noch nie recht beichtete und wer im heiligen Abendmahl etwas Anderes als den verwandelten Christus findet, beweist, daß das innerste Wesen des Christenthums, das Liebesverhältniß der Menschenseele zu Gott, ihm noch nicht recht aufgegangen ist.

Gott war fortan mit mir und ich bei Ihm und wenn auch Schwachheit und Sündhaftigkeit mich Ihm zuweilen zu entfremden drohten, kehrte ich inbrünstiger zu Seinen Füßen zurück.

Ich betete viel und meist ohne Gebetbuch. Außer der Nachfolge Christi und der Philothea genügte mir kein Gebetbuch.—

Verbrechen, welche vom Gesetze geahndet werden und an sich entehrend sind, habe ich außer dem, welches mich in den Kerker führte, glücklicherweise keine begangen, aber will dies Vieles bedeuten?

Wie mangelhaft, wandelbar, verschieden sind Gesetzgebungen!

Unter Vielem, was mir schwer auf der Seele liegt, ist es besonders das Geld, welches ich im Amtsgefängnisse einem Bauernknechte herauslockte. Noth trieb mich dazu, meine Ansichten vom Eigenthum ließen mir den Schritt um so erlaubter erscheinen, weil ich ernstlich an Zurückgabe dachte.

Du weißt, daß Ersatz unmöglich geworden, weil der Betrogene im Gefängnisse an der Schwindsucht starb und keine Seele besaß, die er sein eigen nannte außer der eines unserer Mitgefangenen, des Duckmäusers. Doch werde ich Alles thun, um den Schaden auf andere Weise gut zu machen.——Ich weiß, daß meine frühern Freunde mich als einen schwachköpfigen oder schlauen Renegaten verachten und verfolgen werden und beklage mich nicht darüber. Der Stolz, ein consequenter und entschiedener Communist gewesen zu sein, hat sich in das Gegentheil verkehrt und ich bin wohl am besten dabei gefahren. Es ist nicht die Aufgabe des Menschen, auf einem Standpunkte zu beharren, namentlich wenn er denselben als einen einseitigen und falschen erkennt, sondern sich immer mehr zu vervollkommnen.—Gegen die furchtbaren Gefahren, welche aus der täglich zunehmenden Verarmung, Verdienstlosigkeit und Verzweiflung der Massen erwachsen, hat nur die Weltkirche Jesu Christi Beschwörungsformeln, denn sie lehrt Leiden ertragen und in Freuden verwandeln und zeigt nicht nur den Weg zur ewigen, sondern auch zur zeitlichen Wohlfahrt. Im Christenthum als der absolut wahren Religion liegt auch die einzig ächte Nützlichkeitsphilosophie, die Lösung der sozialen Fragen verborgen. Von der Stellung, welche die verschiedenen Staaten und Stäätlein zur Kirche einnehmen, wird der Fortbestand oder Sturz dieser Staaten und Stäätlein abhängen. Staaten müssen sich aufrichtig bessern gerade wie einzelne Menschen und wenn große Staaten wie Oesterreich und Preußen mit gutem Beispiele vorangehen, wenn man das Aufleben kirchlicher Gesinnung beim Volke beachtet, darf man ruhiger in die Zukunft blicken. Stürme werden nicht ausbleiben, aber die Pforten der Hölle werden Christi Kirche nicht besiegen und das revolutionäre Heidenthum wird den Bestand christlicher Staaten und das Fortleben christlicher Völker nur stören, doch nicht zerstören.

Aber Religion, positive Religion muß in Palästen und Kabineten, in Deputirtenkammern und Amtsstuben so gut als in Hütten wohnen; bei den Reichen und Besitzenden muß die Charitas des Mittelalters neu aufleben; das positive Christenthum muß Obermacht über das herrschend gewordene Heidenthum erlangen, wenn die moderne Gesellschaft nicht ein ähnliches Geschick erleben will wie einst die versinkende Römerwelt!—

V.

—Sie haben vollkommen recht: die nationalen Eigenthümlichkeiten müssen bei Zellengefangenen berücksichtiget werden, ja ich glaube, daß Zellengefängnisse für südliche Völker nichts taugen. Der schweigsame, kaltblütige Engländer mag sich begnügen mit flüchtigen Besuchen, welche den Charakter polizeilicher Controlle tragen, pietistische Tractätlein und die Offenbarung Johannis mögen sein Herz nicht mit dem Kopfe davon rennen lassen und er mag nichts vermissen, wenn sein Verhältniß zu Beamten und Aufsehern nichts Herzliches und Freundschaftliches an sich trägt, nicht aber so der Deutsche. Der Hang zum Grübeln und Schwärmen, die Innerlichkeit und Gemüthlichkeit des Deutschen ist auch beim Verbrecher zu berücksichtigen und darin liegen Anknöpfungspunkte für seine Besserung wie für Geistesstörung und Selbstmord. Senden sie schweigsame, spröde Korporalstockpedanten in deutsche Zellengefängnisse, geben Sie dem Gefangenen nur religiöse Bücher, bestellen Sie für ihn Geistliche, welche in religiösen Angelegenheiten das Gefühl zum Dictator machen, und verdoppeln Sie die, besonders in den ersten zwei Jahren namhaften, Leiden der Einzelhaft durch Strafverschärfungen—so werden je nach der Dauer der Strafzeit unbrauchbare Menschen oder Krüppel aus den Zellen heraustreten, manche Zelle der schauerliche Schauplatz eines Selbstmordes und die Irrenanstalten mit Rekruten versehen werden.

Was die Strafverschärfungen angeht, so hat bei uns wie anderswo die Liebhaberei dafür so sehr Platz gegriffen, daß man Bruchsal mit mehr Recht bald eine neu aufgelegte und vermehrte Abschreckungsanstalt denn eine Besserungsanstalt nennen dürfte. Selten wird Einer von den Schwurgerichten verurtheilt, ohne eine Anzahl von Hungerkost- und Dunkelarresttagen auf den Weg zu bekommen.

Unstreitig sind Strafverschärfungen und unter diesen vor Allem Hungerkuren das wirksamste Mittel, den Stammgästen der Zuchthäuser das Zuchthaus zu verleiden oder sie bequem ins Jenseits zu spediren. Gewohnheitsdiebe sind ebenso Kinder des Unglücks als der Unverbesserlichkeit, das Zuchthaus ist ihre Versorgungsanstalt—sie gehören zu Jenen, welche leben wollen, ohne Geld zu besitzen, und dies ist in unsern "christlichen" Staaten ein so unverschämtes Verbrechen, daß Einer von Rechtswegen gleich nach der Geburt einen Laufpaß in die Ewigkeit erhalten sollte und zwar aus purer "Humanität", denn das Leben der Armen wird mehr oder minder zum langsamen, qualvollen Sterben.

Weil das Heidenthum in den Köpfen unserer Gesetzgeber und Besitzenden spukt, deßhalb will ich nichts gegen Strafverfolgungen sagen, die bei Gewohnheitsdieben angewendet werden.

Allein nicht nur alte Zuchthausbrüder, sondern Solche, die zum erstenmal in eine Strafanstalt kommen; ferner nicht nur die Sträflinge, welche gemeinschaftlich zusammenleben, sondern auch Zellenbewohner werden mit Strafverschärfungen bedacht und zudem müssen die Tage der Hungerkost und des Dunkelarrestes gemeiniglich in der ersten Zeit der Haft durchgemacht werden, weil die Dauer der Strafe häufig eine ziemlich kurze ist.

Dies erscheint meinem beschränkten Unterthanenverstande nicht klug, nicht recht, nicht zweckmäßig. Nicht klug—denn der Staat muß die Hungerkuren der Sträflinge theuer genug bezahlen. Abgesehen von der großen Mühe der Beamten, deren Geschäfte vermehrt werden, leidet der Gewerbsbetrieb dadurch Noth und wird die Gesellschaft mit arbeitsunfähigen Menschen bereichert. Nicht gerecht—denn anerkannt gilt Einzelhaft schon an sich als eine Strafverschärfung und weßhalb sollen Zellenbewohner ärger bestraft werden als andere? Zufall, Laune, die Erklärung des Verurtheilten entscheiden darüber, ob derselbe in die Zelle komme oder nicht, folglich auch über den höhern oder niedern Grad der Strafverschärfung Nicht zweckmäßig—denn der Hunger entkräftet, foltert und tödtet wohl den Leib, doch bessert er den Betroffenen schwerlich. Raubvögel werden durch Hunger zahm; diesen muthet man keine Arbeit, keinen Besuch der Schule und Kirche, kein gesetzmäßiges Verhalten und keine lieb reichen Gesinnungen gegen Mitraubvögel zu, alles dieses dagegen hungerigen Menschen; und solche Behandlung soll fühlende, bewußte Menschen mit Liebe gegen Mitmenschen entflammen? Den Glauben an einen gerechten Gott erwecken? Klingt es nicht wie herber Hohn, Gefangenen die Religion der Liebe verkündigen, während man den ganzen Haß der Gesellschaft gegen sie fühlbar macht?

Was den Dunkelarrest betrifft, so ist dieser auch nicht geeignet, das Innere des darin Sitzenden zu erleuchten. Einige Tage Dunkelarrest mögen in Kasernen und Amtsgefängnissen gut wirken, doch Sträflinge, welche ohnehin gefangen sind und bleiben, werden im Allgemeinen dadurch zur Onanie und zum Faullenzen angeleitet. Für Sträflinge in gemeinsamer Haft bleibt der Dunkelarrest eine oft gar nicht unangenehme kleine Abwechslung, bei Zellenbewohnern kann er leicht Anlaß zu Seelenstörungen und Selbstmord geben, da ihre ohnehin aufgeregte und reizbare Gemüthsverfassung dadurch gesteigert wird.

Will man doch einmal Sünder gegen das Eigenthum oder gegen Leib und Leben Anderer den Thieren gleich stellen, so stelle man sie eher in die Reihe der Hausthiere anstatt in die der Raubthiere und führe die Prügelstrafe wiederum ein.

Die Prügelstrafe ist unstreitig die wohlfeilste, wirksamste und für gewisse Klassen von Menschen wohl auch die angemessenste und gerechteste aller Strafen. Von dem Grundsatze ausgehend, daß nicht sowohl der Mensch im Menschen als das Thier in demselben gezüchtiget werde, sollte man für drei Fälle von Vergehen Stockprügel auch außerhalb der Gefängnisse bereit haben. Erstens für händelsüchtige, rohe Bursche, weiche besonders in weinreichen Gegenden, bei Tanzgelegenheiten und anderswo Händel und Schlägereien stiften. Zweitens verdienen sittenlose Mannsleute und freche Weibspersonen, die am lichten Tage oder im Zwielicht hündische Schaamlosigkeit beweisen, den Hunden gleich gezüchtiget zu werden ohne Rücksichtnahme auf Stand oder Rang. Drittens endlich verdient Schläge, wer ein Weib schlägt. Uebrigens möge uns Gott vor jener guten alten Zeit bewahren, in welcher der Stock das A und das O der Beamtenweisheit ausmachte. Einzig und allein in obigen drei Fällen möchte ich Prügel für Nichtgefangene empfehlen. Begreiflicherweise gibt es in Strafanstalten Leute, für welche Prügel eine große Wohlthat sein möchten und ich bleibe überzeugt, daß ein aus lauter Sträflingen bestehendes Gericht gar oft auf Prügelstrafe für einen ihrer Kameraden erkennen würde.

Allein nicht einmal im Zuchthause möchte ich die Anwendung von Prügelstrafe dem Ermessen des einzelnen Beamten anheimstellen, geschweige Aufsehern und Werkmeistern den Stock in die Hand geben. Vorstand, Verwalter, Buchhalter und Oberaufseher sollten in geeigneten Fällen durch Stimmenmehrheit für oder gegen Anwendung des Stockes und Zwangstuhles entscheiden, jedoch niemals, ohne ein Mitglied des s.g. Aufsichtsrathes beizuziehen. Die letzte Bestimmung der durchdachten und vortrefflichen Bruchsaler Hausordnung heißt: "Gegen solche Straferkenntnisse, wofür theils der Vorstand, theils der Aufsichtsrath zuständig ist, steht dem Sträfling der Rekurs, in der Regel jedoch ohne aufschiebende Wirkung, an den Aufsichtsrath, beziehungsweise an das Justizministerium zu."—Diese Bestimmung sollte überall Aufnahme finden, namentlich wo Prügel einheimisch geworden, denn nichts ist so sehr geeignet, das Rechtsgefühl des Verbrechers vollends abzustumpfen und zu tödten als ungerechte, willkürliche Behandlung und nichts so tauglich, alles Ehrgefühl gründlich zu vernichten, denn ungeeignete Prügelstrafe.

Das Ehrgefühl sollte man im Verbrecher fast mehr schonen und pflegen als bei andern Leuten, denn wie ein Mensch ohne Ehrgefühl ein ordentlicher Bürger oder erträglicher Christ werden mag, sehe mindestens ich nicht ein. Selbst falsches Ehrgefühl ist zehnmal besser als gar keines und großartige Selbsterhebung zehnmal besser als gemeine Selbstwegwerfung.

Bei uns entehrt Zuchthausstrafe an sich und ich halte derartige Ausdehnung der Entehrung für die Mutter vieles Schlimmen. Sie stellt Jeden, der eine von der dermaligen Gesetzgebung als ehrlos verpönte Handlung begangen, mit Sträflingen in Eine Reihe, welche längst jeden Begriff von Ehre verloren haben und setzt dadurch seiner Besserung in der Strafanstalt wie seinem ehrlichen Fortkommen nach erstandener Strafe mächtige Hindernisse entgegen.

Entehrung durch Zuchthausstrafe bleibt aber auch ungerecht, so lange die Gesetzgebungen nicht alle an sich entehrenden Handlungen mit Zuchthausstrafen bedenken. Diese Gesetzgebungen sind sehr mangelhaft schon dadurch, daß sie Ein Gebot Gottes mit aller Macht in Schutz nehmen, andere dagegen fast ganz außer Acht lassen.

Namentlich ist unsere Eigenthumsgesetzgebung eines der auffallendsten Zeugnisse für die Siege, welche das Heidenthum in unsern christlichen Staaten davon getragen. In meinen Augen ist ein Straßenräuber bei weitem kein so verächtlicher und ehrloser Mensch denn ein Jungfrauenschänder und ein ehrloser, feiger Spitzbube mehr werth als ein Ehebrecher.

Straßenraub wird furchtbar bestraft, selbst wenn verzweifelte Noth dazu trieb—Jungfrauenschänder mit und ohne Von vor ihrem Namen, mit und ohne Epauletten stolziren vornehm an Strafanstalten vorüber und es fällt ihnen nicht im Traume bei, daß sie von Gott und Rechtswegen härter als Straßenräuber und Spitzbuben bestraft gehören.

Schändliche Wucherer, gewandte Betrüger ruiniren ihre Mitmenschen innerhalb der gesetzlichen Schranken und freuen sich, sobald sie in Zeitungen oder anderswo die Entdeckung einer neuen Tortur gegen arme Teufel, die eine Kleinigkeit stahlen, zu lesen bekommen.

Will man gar vom ersten der 10 Gebote anfangen—doch ich will nicht, denn mein Blut fängt an zu sieden und die Hand zittert vor gerechtem Zorn! Man geräth in Gefahr, in der That zu glauben, die Armuth sei die einzige Todsünde, welche bei der Welt keine Vergebung finde und das Erwischtwerden das einzige Verbrechen, insofern man aus dem kleinen Zuchthaus in das große hineinschaut und Betrachtungen über Leben, Treiben und das Loos der Armen und Reichen sammt Vergleichen zwischen Räubern, Dieben, Mördern, Nothzüchtern einerseits und anständigen, honetten, besitzenden und oft sogar fromm thuenden—Schurken anderseits anstellt.

Ihrem Wunsche gemäß nur noch Ein Wort über Besserung der Zellengefangenen.

Ein solcher kann in der Zelle allerdings Beweise von Besserung geben und zwar bessere als ein Freier. Sein hartes Loos um Jesu Christi willen still und geduldig ertragen, sich der Erfüllung aller Pflichten fröhlich und freudig unterziehen, dies vermag er und Sie dürfen fest annehmen, daß ein gebesserter Zellenbewohner durch Mienen, Gebärden, Reden und Handlungen sich vom ungebesserten unterscheidet.

Weil alte Verbrecher bei uns in die Zelle kommen, alte und junge häufig nur kurze Strafzeit haben und mit Strafverschärfungen bedacht werden, daher mag es rühren, daß die Früchte der Einzelhaft bei uns nicht recht sichtbar werden wollen.

Aber noch Etwas, worauf gewöhnlich wenig Gewicht gelegt wird.

Ein Gefangener mag gebessert sein, d.h. er mag mit lebendigem religiösen Glauben das aufrichtige Streben verbinden, nicht nur gesetzmäßig, sondern allen göttlichen Geboten gemäß zu leben und nach der Freilassung dennoch wieder in alte Ansichten, Fehler, Laster und Verbrechen zurückfallen. Warum? Die Gesellschaft trug mehr oder minder Mitschuld an seinem ersten Verbrechen, sie gab ihm in der Zelle Gelegenheit und Mittel zur Bildung und Besserung, er ergriff dieselben und tritt versöhnt mit Gott und Welt in die Freiheit hinaus. Doch was findet er da? Hat die Strafe mit der Entlassung ein Ende?

Gott bewahre, die Strafe wird in anderer Weise fortgesetzt und oft in einem Grade, daß ein Heiliger dazu gehörte, um sich nicht in den verlassenen Kerker zurückzusehnen.

Zunächst weist ein unpassendes Gesetz den Entlassenen nach Hause und was findet er dort? Lieblose Verachtung, ungerechte Vorwürfe, keine Arbeit und keine Unterstützung, dagegen böses Beispiel, schlechte Kameraden, Anlaß und Gelegenheit zu Lastern und Verbrechen. Der alte Mensch in ihm stirbt nicht so leicht und rasch, wie dies zu wünschen wäre, er geräth in Versuchung, abermals an Gottes Güte und Gerechtigkeit zu verzweifeln, weil die Menschen ihm täglich Ursache geben, an ihnen zu verzweifeln. Er bereut seine Besserung, weil dieselbe doch keine Anerkennung und weil er findet, daß Andere sich nicht besserten und begeht aus Rachsucht oder Verzweiflung manchmal eine That in der Absicht, wiederum ins Zuchthaus zu kommen, wo er Nahrung, Kleidung, Wohnung und wenn ein auch noch so kümmerliches doch ungeschornes Leben findet.

Nicht weil nothwendig ein Rückfälliger ehrlos ist, sondern weil die Mitmenschen ihn als Ehrlosen behandeln, wird er es wirklich.

Schließlich noch eine Ansicht über Todesstrafe.

Ich bin derselben im Ganzen nicht gewogen und sehe in ihr eine Frucht der Fortdauer heidnischer und barbarischer Zustände. Doch gibt es Leute, deren Gemüth mehr oder minder durchteufelt ist und Verbrechen, welche unter so schauderhaften Umständen verübt werden, daß man für den Tod des Thäters fast unwillkürlich stimmt, indem man die Opfer der That bedenkt.

Aber man sollte erstens nach der Verurtheilung Keinen wochen- und mondenlang zwischen Tod und Leben hängen lassen, indem man ihm die Möglichkeit der Begnadigung übrig läßt; ferner sollte man zweitens dem Verurtheilten volle Gewißheit seines Todes geben, ihm den Tag und die Stunde desselben verkündigen und mindestens einige Wochen Zeit lassen, sich auf seinen Tod vorzubereiten; drittens endlich sollte man Keinen vom Schafot zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigen, dessen Verbrechen voraussichtlich keine späteren Milderungen der Strafe erwarten läßt. Lebenslänglich im Zuchthause sein, heißt langsam und qualvoll hingerichtet werden; gebessert aber wird selbst kein zum Tode Verurtheilter, wenn er unter Sträflingen lebt.






End of the Project Gutenberg EBook of Zuchthausgeschichten von einem
ehemaligen Züchtling, by Joseph M. Hägele

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